Die vielen Geschichten von uns

von Bernd Mand

Mannheim, 7. Dezember 2013.Wir sehen es jeden Tag. Übers Jahr verteilt kommt da eine beachtliche Menge zusammen. Rechnet man nun die Jahrzehnte aufeinander, dann will man gar nicht weiter darüber nachdenken, wie viele Bilder von uns selbst wir eigentlich sehen. Im Badezimmer, Fensterscheiben, wenn wir Glück haben in den Augen unseres Gegenübers – überall findet man sich selbst und schließlich, na ja, doch nirgendwo. Und doch gibt es manchmal diese Treffen mit einem selbst, die uns für einen Moment die Augen öffnen und mitunter neue Wege. Ulrike Syha hat nun ein Stück für das Mannheimer Nationaltheater geschrieben, in dem sich ihre drei Protagonisten, denn Helden mag man sie doch lieber nicht nennen, auch irgendwie über die Zeit hinweg öfter mal gefunden haben oder zumindest, das, was sie für sich selbst hielten. Oder sich sogar ganz ausgedacht haben. Am Ende spielt das auch keine wirkliche Rolle, denn im lose schwebenden Irgendwo in Zentralchina können sie sich nun nicht mehr davon laufen.

Hochschuldozent, Vater und Freundin im 5-Sterne-Hotel

Hauptspielplatz der Geschichte, die drei Menschen unbewusst immer tiefer in ihr eigenes Leben eintauchen lässt, ist ein 5-Sterne-Hotel. Der Hochschuldozent Marek, den Michael Fuchs mit leiser Eitelkeit und weißer Glätte spielt, ist eingeladen, auf einer Konferenz hier in Chongqing einen Vortrag zu halten. Die Journalistin Ruth, eine Freundin (und unerfüllte Liebe) aus Studienzeiten, begleitet ihn. Allerdings mit ihrer eigenen Mission, denn sie ist auf der Suche nach den Leerstellen in der Geschichte ihres Ehemannes, die sie hier in Asien hofft füllen zu können. Dascha Trautwein gibt ihr eine starke und überzeugende Erdung dabei.

Überraschender Weise ist auch Mareks Vater Lars, Dokumentarfilmer und Sachbuchautor, eingeladen worden, den Ralf Dittrich als weltgereisten Draufgänger in den besten Jahren und mit gut trainiertem Rauch in der Stimme zeichnet – ein Zusammentreffen, das Marek alles andere als gelegen kommt, denn er liegt seit Jahren im Streit mit seiner Mutter und hat allen Kontakt zur Familie abgebrochen. Dabei allerdings auch seine eigene Lebensgeschichte gleich mit begraben hat und leiht sich nun bei jeder Frau, die er kennen lernt, eine neue Biografie aus.

Könnte es im Öffentlich-rechtlichen laufen?

Mit den passenden Streichern im Hintergrund, hübsch geschnittenen Schnappschüssen von überfüllten Marktstraßen und gebratenen Hühnern könnte der Plot beim ersten Blick auch gut den Stoff für das Abendprogramm im öffentlich-rechtlichen Fernsehen liefern. Und irgendwie tut er das auch beim zweiten Blick. Das liegt nicht an der Tatsache, dass Syhas Text sich stark am filmischen Drehbuchformat orientiert und in die Regieanweisungen vorab schreibt: "Deshalb ist das hier auch kein Stück. Sondern ein Film. Ein Film fürs Theater."

Es liegt auch nicht an dem kleinen, hellblauen Erzählkasten mit Neonröhrenhimmel über dem Publikum, den Christoph Ernst in die Studiobühne gebaut hat, in dem alle Abläufe (auch "hinter" der Bühne) gleichermaßen offen gelegt, wie präsent sind und per Video in Echtzeit wirklich der Film auf der Bühne stattfindet. Wobei die Hollywoodreferenzen mit Fototapete an der Rückwand, die die heiligen weißen Buchstaben zeigt und den Kostümen, die sich ikonologisch an der Übersetzung des Seelenlebens der Figuren versuchen, doch ein wenig mit dem Holzhammer auf die filmische Grundstruktur verweisen. Auch die gesprochenen Regieanweisungen und Beschreibungen von Sabine Fürst und Jacques Malan, die in Mehrfachbesetzung als Geliebte, Ehemänner und Erzähler fungieren, machen das Ganze noch nicht zum seichten Spielfilm.

Behauptungen in mäandernder Sprache

Vielmehr ist es die Tatsache, dass sich Syhas Sprache nur schwer in die Inszenierung bauen lassen will, dabei an allen Ecken von den Brettern ins Leere stürzt und einem damit das Personal und seine Geschichten nur als lose Skizzen zeigt, die einen so gar nicht angehen wollen. Da kann auch Ali M. Abdullahs kleinteilig und drall gebaute Struktur leider nicht ändern, auch wenn es in der zweiten Hälfte ziemlich pittoresk und ausgiebig zu regnen beginnt.

Die Begegnungen mit sich selbst, im fremden, unbekannten Land, in der surealen klimatisierten Zwischenwelt außerhalb der eigenen Zeit, werden dabei höchstens angespielt und bisweilen auch nur behauptet. Zu greifen ist davon allerdings wenig in der teils überaufwendig mäandernden Sprache, die zur stillen Lesearbeit mehr geeignet ist als zur literarischen Erzählform auf der Bühne. Die Konflikte bleiben flach, die Empörung klein und emotional wird's nur mit Musik. Das lenkt schnell ab und ermüdet ebenso flink, sodass man beim Zuschauen rechtzeitig auf den Scannermodus umschaltet und sich mit den groben Handlungseckpunkten und den bunt gebauten Bildern begnügt. Und das hätte man eben auch im Fernsehen haben können.

 

Mao und ich (UA)
von Ulrike Syha
Regie: Ali M. Abdullah, Bühne und Kostüme: Christoph Ernst, Video: Regina Hess, Dramaturgie: Stefanie Gottfried, Licht: Ronny Bergmann.
Mit: Michael Fuchs, Ralf Dittrich, Dascha Trautwein, Sabine Fürst, Jacques Malan.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.nationaltheater-mannheim.de


Kritikenrundschau

Ulrike Syha nennt ihr Stück "einen Film fürs Theater", und im Mannheimer Morgen (9.10.2013) findet Ralf-Carl Langhals: "Das ist ein originelles Versprechen." Dass es nicht eingelöst werde, sei ebenso traurig, "wie die Tatsache, dass das Beste nicht am Schluss, sondern am Anfang kommt". Regisseur Ali M. Abdullah habe sich – "ohne jede despektierliche Note" – redlich bemüht, Schass Genre- und Paradigmenwechsel inszenatorisch abzubilden. Doch die verdrehte und unnahbare Geschichte mache es ihm nicht leicht. Irgendwo zwischen den filmischen, literarischen und szenischen Fugen der Metaebenen versickere an diesem Abend ein Rinnsal, "das nicht in Fluss kommt".

In Ali Abdullahs Inszenierung werde nichts linear erzählt, berichtet Heribert Vogt in der Rhein-Neckar-Zeitung (9.10.2013). "Dafür werden Dialoge und Momentaufnahmen mit filmischer Schnitttechnik hart montiert, Rückblenden, mediale Aufbrechungen oder Dekonstruktionen des Zeitverlaufs sprengen die kontinuierliche Wahrnehmung." Zu Syhas Stück schreibt der Rezensent nur soviel: "Der 'Große Steuermann' Mao Zedong sagte dereinst: 'Es herrscht große Unzufriedenheit unter dem Himmel, die Lage ist ausgezeichnet.' Und derart dialektisch lässt sich auch die so unübersichtliche Welt von heute deuten."

Bei Tobias Becker auf Spiegel online (9.10.2013) bekommt zunächst Ulrike Syhas Stück sein Fett weg: Seine Geschichte erinnere weniger an einen Kinofilm als an ein Fernsehmelodram für ZDF-Zuschauer am Mittwochabend. Noch viel schlimmer aber findet Becker die Uraufführungsinszenierung von Ali Abdullah. "Sein Blick auf Syhas Realitätflüchtlinge, man muss es so deutlich sagen, ist zum Davonlaufen." Wenn Syhas Text irgendein Potential fürs Theater haben sollte, meint Becker, "dann liegt dieses Potential in seinen filmischen Momenten." Eine kluge Regie würde versuchen, auf die Frage eine formale Antwort zu finden und auch eine dramaturgische. "Abdullah findet nur Alibi-Antworten, die nicht viel mehr sagen als: Ich habe die Vorbemerkung gelesen."

"Ulrike Syha tänzelt in ihrem neuen, schon beim bloßen Lesen höchst vergnüglichen Stück 'Mao und ich' souverän an der Klippe zu Klamotte und Melodram entlang: leichtfüßig, locker, zirzensisch", findet dagegen Cornelie Ueding im Deutschlandfunk (9.10.2013). Abdullah habe mit seiner hinreißenden Inszenierung den Sprachwitz nicht etwa 1:1 in Situationskomik übersetzt. "Meisterlich beherrscht er die Gratwanderung, die durchaus karikierten Reisenden nicht auch zu denunzieren." Dieser Abend sei "der seltene Glücksfall einer herausragenden Uraufführung".

 

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