Der Ententanz im Einheitspyjama

von Christoph Fellmann

Luzern, 7. Dezember 2013. Der Himmel existiert nicht, Gott sitzt im Publikum. Da drängelt er sich in Form von drei älteren Herrschaften durch die Stuhlreihen, um schließlich am Rand des Parketts seinen Platz einzunehmen, wer weiß, vielleicht muss er ja vorzeitig weg. Wir befinden uns im Luzerner Theater, sehr wohl, aber irgendwie auch in einer Nachmittagsshow auf RTL 2, in der Verlierermenschen durchgereicht werden zum Amüsement der zappenden Götter.

Da ist, kreisch!, eine achtköpfige, im Einheitspyjama antretende Prekariatsfamilie unter der wuchtig vulgären Leitung einer nicht näher benannten Frau (Juliane Lang). Da ist ein Flieger, der arbeitsloser ist, als es seiner Ambition gut tut (Hans Caspar Gattiker). Da ist ein gefräßiger und dergestalt zu etwas Besitz und Gutartigkeit gekommener Barbier (Christian Baus). Und da ist natürlich Shen Te (Daniela Britt), das malerische Straßenmädelchen nach Bertolt Brecht, das mit einem Götterbatzen sein Tabaklädelchen eröffnet, der in diesem Fall ein Zigarettenautomat ist. Bald wird Hochzeit gefeiert und der Ententanz getanzt, sodass es ein wahrer Trash ist.

Brechts Merksätze, you name it

Aber ist es auch eine Freude? Nun, es gibt an diesem Abend, den der lokale Schauspielchef Andreas Herrmann eingerichtet hat, in einem gemütlich knisternden Bühnenbild aus Plastikbahnen ein paar tolle Nummern zu sehen (wozu fast in jedem Fall das herausragend lakonische Spiel von Christian Baus als Polizist, als Barbier Shu Fu und als Schreiner Lin To beiträgt). Und die Lieder, die zu Versatzstücken aus Paul Dessaus Originalmusik aus der Zürcher Uraufführung von 1943 eingerichtet wurden und die vom Ensemble auf Kleinkeyboards, Glockenspiel und Gitarre geklöppelt werden. Sie erzählen in ihrem grotesk verbogenen Zeilenfall mehr über die Verlorenheit des Menschen im modernen Kapitalismus als all die Merksätze, die Bertolt Brecht in sein Stück hineingeschrieben hat: "Warum erscheinen die Götter nicht auf unseren Märkten?", "Diese Welt ist unbewohnbar", you name it.

GuterMensch2 560 IngoHoehn xGeschäftsfrauen-Ich: Shui Ta  © Ingo Höhn

Tatsächlich kann das 70-jährige Stück an diesem Abend nicht vermitteln, warum es nochmals auf die Bühne kommt. Zwar könnte uns die gute Shen Te und ihre karrieristische Abspaltung Shui Ta schon etwas erzählen über den geschmeidigen Pragmatismus, den wir uns zugelegt haben seit der Kapitalismus ohne Alternative ist. Aber dann steht einer interessant zeitgenössischen Lesart des Stoffes, die über ein bisschen Fernsehsatire hinausginge, halt doch dieser Text im Weg – in seiner pittoresk anmutenden Realienwirtschaft um Wasser, Tabak und Schreinerarbeiten wie auch in seiner abgekarteten Versuchsanordnung. Und vor allem in seinem famosen Wissen, was gut ist und was böse.

Andreas Herrmann bleibt nah an Originaltext und Verfremdungskatalog. Und er unterstützt die Thesenreiterei noch, indem er sein Ensemble einen dauerlauten Deklamationsstil sprechen lässt, der einerseits das Rascheln des Plastiks übertönt und andererseits noch die letzte Subtilität aus den Figuren ausräumt. "Nirgends ein guter Mensch, der durchkommt": Das gilt an diesem Abend auch für das Theater. Und was die Götter betrifft, sie werden durch die Bühnenarbeiter in die Seile geklickt und in den Bühnenhimmel hoch gezogen.

 

Der gute Mensch von Sezuan
von Bertolt Brecht
Regie: Andreas Herrmann, Bühne: Max Wehberg, Kostüme: Sabin Fleck, Licht: Gérard Cleven, Musik: Martin Baumgartner, Dramaturgie: Carolin Losch.
Mit: Daniela Britt, Hans-Caspar Gattiker, Clemens Maria Riegler, Wiebke Kayser, Christian Baus, Bettina Riebesel, Juliane Lang, Samuel Zumbühl.
Dauer: 2 Stunden, eine Pause

www.luzernertheater.ch

 

Kritikenrundschau

"Dank gelungenen Regie-Einfällen gelingen ein paar schöne Bilder", urteilt Thomas Heeb im SRF (8.12.2013). Die Plastikfolie, die als Leinwand und Kulisse dient, biete aber auch Hindernisse und knistere so unüberhörbar, dass das Ensemble fast durchwegs sehr laut sprechen müsse. "Im Zusammenspiel mit dem oft deklamatorischen Text von Brecht führt das dazu, dass die Figuren nicht wirklich berühren."

In seiner Inszenierung halte Andreas Herrmann sich weitgehend an die Vorlage, schreibt Kurt Beck in der Neuen Luzerner Zeitung (9.12.2013). "Er nimmt jedoch der Religions- und Kapitalismuskritik von Brecht die Spitze, indem er den Widerspruch zwischen moralischen Forderungen und wirtschaftlicher Realität als inneren Konflikt von Shen Te anlegt." Abgesehen davon werde das Drama garniert "mit Tanz und Sangeseinlagen, in denen herumgehumpelt und absichtlich Flash gesungen und geklimpert wird". Großartig hingegen sei die Bühne voller Plastikbahnen, die Schattenspiele ermöglichen, die dem Rezensenten die "eindrücklichsten Szenen des Stücks" beschert haben. Und am Ende schreibt er: "Höchst erfreulich an der Inszenierung ist schließlich, dass sie den Spannungsbogen bis zum Ende halten kann."

In der Neuen Zürcher Zeitung (10.12.2013) schreibt Philipp Ramer: "Zum durchaus intensiv umgesetzten Finale von Brechts Parabelstück führt an diesem Abend allerdings ein langer, holpriger Weg." Nicht nur der Bühnenboden aus Plastikplane bremse, auch die Musik-, Tanz- und Slapstickeinlagen, die alles endlos in die Länge ziehen würden. Das Vokabular der Verfremdungseffekte werde gewissenhaft durchdekliniert. Bei all dem werde aber nur an der "Patiana" der Parabel gekratzt, aktuelle Bezüge zur Wirtschaft, die das Stück gerechtfertigt hätten, vermisst Rahmen.

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