"Ich wurde zum Migranten gemacht"

von Petra Hallmayer

München, 9. Dezember 2013. Damit hatte keiner gerechnet. Per Mailaufruf hatten die Kammerspiele versucht, Akteure für ihr Stadtraumprojekt "Niemandsland" zu gewinnen, bei dem "ein Mensch mit Migrationshintergrund einen Theaterzuschauer durch ein migrantisch geprägtes Viertel führt", und dadurch eine Flutwelle der Empörung ausgelöst. Der Kulturschaffende Tuncay Acar machte seinen Zorn im Internet publik und viele schlossen sich ihm an. Sie hätten es satt, meinten sie, dass Migranten und Flüchtlinge als Stofflieferanten und Schauobjekte für Vorzeigeprojekte benutzt und auf ihre Familiengeschichte reduziert werden, und forderten eine öffentliche Diskussion. Zu der lud nun unter dem Titel "Welch ein Theater?" das Netzwerk "Göthe Protokoll" Vertreter der großen Häuser und der freien Szene in den Milla-Club.

Den Besen des türkischen Straßenkehrers ausleihen

Solch einen Proteststurm hatte es im friedlichen München bislang nicht gegeben. Staunen aber kann man eigentlich nur darüber, dass er erst jetzt losbrach. Um zu verdeutlichen, was sich da angestaut hat, muss man ein wenig ausholen. Schon unter Frank Baumbauer begannen sich die Kammerspiele in Stadtraumprojekten dem Thema Migration zuzuwenden. Das glückte manchmal sehr überzeugend, doch fraglos gab es auch äußerst fragwürdige Aktionen. Da durften uns Flüchtlinge bekochen, besuchten wir als Wirklichkeitstouristen die Bewohner sozialer Brennpunkte. Unvergesslich ist jener groteske Ausflug, bei dem sich Kammerspiel-Zuschauer kurz den Besen eines türkischen Straßenkehrers ausleihen konnten, um sich in so ein Schwerarbeiter-Migrantenleben authentisch einzufühlen.arrivals1 560 caspar urban weber uEin Afghanisches Paar kocht: Was würde Acar zu Arrivals I am
Zürcher Neumarkt-Theater sagen? © Caspar Urban Weber

Tatsächlich, bekannte Acar, war der Kammerspiel-Aufruf für ihn ein
willkommener Anlass, eine seit langem gewünschte Diskussion in Gang zu
bringen. Dass die Mail "unglücklich formuliert" gewesen sei, räumten Chefdramaturgin Julia Lochte und Intendant Johan Simons ein, wehrten sich aber entschieden dagegen, die Wortwahl spiegele eine "rassistische Denkweise" wider. Das sahen einige ganz anders. Wobei der Regisseur Bülent Kullukcu, der an dem kritisierten Theater selbst verschiedene Projekte realisiert hat, betonte, dass sich der kollektive Protest keineswegs speziell gegen die Kammerspiele richte, sondern gegen eine Theaterlandschaft, die die kulturelle Diversität der Gesellschaft ignoriert und in der Menschen mit Migrationshintergrund nach wie vor nicht selbstverständlich präsent sind. "Es gibt", erklärte er, "eine kulturelle Apartheid in Deutschland."

Migranten nur für die Street Credibility zuständig?

Das bestätigten andere anhand einer Fülle von Beispielen von der Verdrängung migrantischer und postmigrantischer Geschichten auf Nebenbühnen über klischeehaft beschränkte Rollenangebote für Schauspieler mit türkischen Eltern bis zu fremden Identitäts- und Themenzuschreibungen. "Ich fühle mich nicht als Migrant", betonte der Regisseur Karnik Gregorian. "Ich werde dazu gemacht." Irgendwann, gab er unumwunden zu, habe er begonnen, "den Migranten zu spielen", da dies beruflich von Vorteil sei. "Die Hochkultur ist von Bio-Deutschen beherrscht. Wir sind für Street Credibility zuständig. Das ist ein institutionalisierter, unbewusster Rassismus." Wie tief die Wut in all jenen nistet, die im Kulturbetrieb an den Rand und in ungewollte Rollen gedrängt werden, das wurde an diesem Abend eindringlich deutlich.

Nicht ausnahmslos jeder Vorwurf an die Theatermacher allerdings war begründet. So wies Johan Simons die Behauptung, die Kammerspiele seien "früher offener" gewesen, sehr zu Recht vehement zurück. Überhaupt hatte man bei einigen Diskutanten den Eindruck, dass sie die Spielpläne der Bühnen kaum kennen.

Man darf immer wieder zutreten

Die Kulturwissenschaftlerin Simone Egger und der BR-Autor Peter Arun Pfaff bemühten sich als Moderatoren redlich, die dreizehn Gäste an der überlangen Tafel sowie alle sich per Fingerzeig meldenden Zuschauer zu Wort kommen zu lassen. Allein durch die Vielzahl an Stimmen, die gehört werden wollten, verpuffte manch spannender Denkansatz und blieb so manche Frage unbeantwortet in der Luft hängen.

Zwischenzeitlich verzettelte sich die Runde in der Auseinandersetzung über Begrifflichkeiten. Während die meisten Ausdrücke wie "Migrant" und "Menschen mit Migrationshintergrund" kategorisch ablehnten ("Wir sind alle Deutsche!"), stellte deren Vermeidung für die Soziologin Tunay Önder eine Ausblendung sozialer Realitäten dar.

Bei allen Differenzen herrschte Einigkeit darüber, dass sich die Theater strukturell verändern und öffnen müssen. "Die Hochkultur sitzt immer noch auf einem viel zu hohen Ross", meinte Julia Lochte. Einer aber zeigte sich inmitten des Chors der Klagen über eine Kultur der Ausgrenzung frohgemut zuversichtlich. "Zur Zeit", erklärte Volkstheater-Chef Christian Stückl, "drängt eine neue selbstbewusste Generation von Menschen aus Migrantenfamilien in die Theater. Der Prozess der Veränderung hat längst begonnen, auch wenn wir uns noch zu langsam voranbewegen. Darum darf man uns gerne immer wieder einen Tritt geben."
Das war ganz im Sinne der Moderatoren, die ankündigten, dass sie weiter nachtreten werden. Das Gespräch im Milla, so Simone Egger, sei nur als ein "erster Anstoß" gedacht gewesen für eine in München überfällige und hoffentlich nicht mehr abreißende Diskussion.

 

Auf die Berichterstattung in der Süddeutschen Zeitung antwortete der Schauspieler Murali Perumal in einem offenen Brief.

Der Beginn der Debatte ist nachzulesen unter www.triptown.de.

Ausschnitte der Diskussion kann man im Beitrag von Lisa Schurr auf BR2 nachhören.

 

Presserundschau

In der Süddeutschen Zeitung (11.12.2013) schreibt Christiane Lutz, es sei "bemerkenswert", dass die Intendanten der "drei großen Häuser der Stadt" Tuncay Acar und "Göthe Protokolls" Aufruf zur Auseinandersetzung "artig gefolgt" und mit "einer Entourage von Dramaturgen" erschienen seien. Das sende die Botschaft: "Seht her, das Thema ist uns so wichtig".

"Die Vorwürfe von Göthe Protokoll: Menschen mit Migrationshintergrund dürften an den Theatern stets nur als solche auftreten. Die Zuschauer blickten interessiert auf die Exoten, ließen sich ein bisschen was aus deren andersartigem Leben erzählen und glaubten, damit sei ein gegenseitiges Verstehen bereits geglückt." Die Künstler mit migrantischen Wurzeln würden dadurch ausgegrenzt, hätten auch an "Schauspielschulen und Schaltstellen der Kunst" keine Chance. Acar vermisse die Perpektive derjenigen, die keine "Bio-Deutschen" seien.

Die Bloggerin Tunay Önder habe zu bedenken gegeben, dass es eine Differenzierung der Menschen mit Migrationshintergrund in "bessere und schlechtere" gebe. Niederländer wie Johan Simons gehörten "zu den besseren".

Die Theatervertreter hätten sich aber nicht zu Rechtfertigungen hinreißen lassen, "geduldig" hätten sie darauf hingewiesen, dass etwa im Ensemble der Kammerspiele "Niederländer, Esten, Schweizer, eine türkischstämmige Schauspielerin, eine aus Uganda" arbeiteten. "Ein Schauspieler werde eingestellt, weil er gut sei, nicht weil oder weil er kein Türke sei." Sicher sei in den vergangenen Jahrzehnten viel versäumt worden, habe Christian Stückl gesagt, "aber die drängen schon rein, die Türen sind offen". Die Kritiker habe das nicht überzeugt.

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