Dekalog - Christopher Rüping zahlt in Frankfurt Krzysztof Kieślowskis Moral mit kleiner Münze aus
Zuschauer-Abstimmung beim Lieben Gott
von Shirin Sojitrawalla
Frankfurt, 13. Dezember 2013. Keine Frage, Filme und Romane dürfen auch als Theaterstücke daherkommen. Das gilt selbst für Krzysztof Kieślowskis epochalen Fernsehzehnteiler Dekalog aus den Jahren 1988/89, der vordergründig anhand der zehn Gebote die Abgründe der menschlichen Existenz auslotet und bei näherer Betrachtung die wesentlichen Dinge des Lebens im Schattenreich zwischen Schicksal und Zufall verortet.
Drücken Sie die 1
Schon 2005 hatte Johan Simons an den Münchner Kammerspielen daraus eine vielstündige Inszenierung gemacht. An den Kammerspielen in Frankfurt kürzt der 1985 geborene Regisseur Christopher Rüping die zehn einstündigen Episoden auf eine zweieinhalbstündige Aufführung, sieben der zehn Teile arrangiert er neu in Form einer TV-Show mit Zuschauerbeteiligung. Dafür hatte zu Beginn jeder Zuschauer, der wollte, einige weigerten sich von vornherein, gegen Pfand ein kleines Gerät erhalten. Die großen moralischen Fragen, die sich in den Minidramen Kieślowskis auftun, werden den Zuschauern in Frankfurt zum Fraß vorgeworfen: Soll man Lügen, um ein Kind zu retten? Ja? Drücken Sie die 1. Nein? Drücken Sie die 2. Welcher Zuschauer, wie entschieden hat, verrät der im Hintergrund projizierte Saalplan.
Da kann man dann nicht nur sein eigenes Votum kontrollieren, sondern auch das von Sitznachbarn und Vorder- wie Hintermännern. Eine originelle Idee, die den Abend immer wieder auflockert. Obendrein verweist sie auf eine Aussage Kieślowskis, der mit seinem "Dekalog" zeigen wollte, dass wir alle jeden Tag vor der Notwendigkeit der Wahl stehen und dass wir selbst für diese Wahl verantwortlich sind. Im Laufe der Veranstaltung verläppert sich die Idee mit den Entscheidungen des Publikums jedoch zusehends, und ist am Ende nicht mehr als bloß ein Running Gag.
Heiterer Abend in ethischen Höllen
Dazwischen verkörpern fünf Schauspieler, drei Männer und zwei Frauen, in wechselnden Rollen wesentliche Figuren der einzelnen Episoden: Franziska Junge spielt Frauen für alle Fälle in all ihrer trostlosen Schnippischkeit, Mario Fuchs und Wiebke Mollenhauer die Jugend in smarter Unverfrorenheit und Torben Kessler ehrlose wie ehrbare Männer, wobei man das Gefühl nie los wird, er habe schon in dem einen oder anderen Film die Originale gespielt. Felix von Manteuffel, der schönerweise ein bisschen aussieht wie der Liebe Gott, beginnt als Ethikprofessor, bei Kieślowski eine Frau, der in seiner Vorlesung mit Studenten über ethische Höllen debattiert. Die Zuschauer fungieren als Studenten im Vorlesungssaal.
Rüping skizziert die Grundkonflikte der einzelnen Filme in leichten, mit hübschen Theatermomenten aufwartenden Einfällen, die einem alle irgendwie bekannt vorkommen, was längst nicht gegen sie sprechen muss. Doch je länger der Abend voranschreitet, desto drängender schiebt sich die Frage ins Hirn, wozu man sich das alles anschauen soll. Was fügt das Theater den Filmen hinzu?
Viel Schaubude, wenig Ernst
In jenen Momenten, in denen die Theaterfassung Szenen aus dem Film in analysierenden Worten ebenso treffend wie knapp wiedergibt, schiebt sich das Drama zumindest reizvoll über die Filmerfahrung. Und interessanterweise ergibt auch auf der Bühne das Gebot "Du sollst nicht töten", das Kieślowski später zu seinem preisgekrönten "Ein kurzer Film über das Töten" ausweitete, die erschütterndste Episode. Dabei wird alles sehr gerafft in Szene gesetzt, Kinobilder werden nacherzählt, ein paar Figuren in den Raum gestellt und der Imagination breiten Raum gegeben. Dann wieder geht es sehr lustig und launig zu, heitere Musik, charmante Mätzchen hier, blöde Albernheiten dort, mal Hörspiel, mal Quatschbude. Und immer wenn Langeweile aufzukommen scheint, folgt schon die nächste Abstimmung.
Doch von den schmerzlichen Wahrheiten, die in den unerbittlich ernsten Filmen aufkeimen, ist in dieser Inszenierung nur wenig zu spüren. Und nachdem der Abend durchgelaufen ist, stichelt weiter die lästige Frage: Wozu? Wir wissen es wirklich nicht. Eines aber hat uns dieser Theaterabend mal wieder gezeigt: was Film alles kann.
Dekalog
von Krzysztof Kieślowski und Krzysztof Piesiewicz
Deutsch von Beata Prochowska, Fassung: Christopher Rüping und Sibylle Baschung
Regie: Christopher Rüping, Bühne: Jonathan Mertz, Kostüme: Lene Schwind, Musik: David Schwarz, Dramaturgie: Sibylle Baschung.
Mit: Franziska Junge, Wiebke Mollenhauer, Mario Fuchs, Torben Kessler, Felix von Manteuffel. Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.schauspielfrankfurt.de
"Dekalog" gibt nach Ansicht von Michael Hierholzer (Rhein-Main-Teil der Frankfurter Allgemeinen, 18.12.2013) "viel zu denken und ruft in Erinnerung, dass die Sache mit der Moral nicht so einfach ist, wie es sich die Fundamentalisten jeglicher Couleur denken". Zu sehen gebe es "Szenen aus dem ganz normalen Menschenleben, in denen sich unterschiedliche Personen mit Entscheidungen in Situationen konfrontiert sehen, in denen es nicht einfach Richtig oder Falsch gibt". Herausgekommen sei "ein zwar gedankenbeladener, aber auch amüsanter und kurzweiliger Abend" mit "viel Spielwitz". Allerdings sei bei einem "so ehrgeizigen Projekt (...) noch etwas mehr Deutlichkeit bei der Regie vonnöten gewesen, denn manches, was klar sein sollte, erschließt sich nicht", ohne Kenntnis der Vorlage bliebe manches im Dunkeln.
In der Frankfurter Rundschau (16.12.2013) schreibt ein nicht genannter Kritiker: "Das ist ein nicht aus der Theorie, sondern ein aus der Praxis heraus operierender Theaterabend, und darum ist er nicht nur gescheit, sondern bezaubernd und unter Umständen aufregend." Die Abstimmungsmöglichkeit sei für die Zuschauer "überhaupt nicht peinlich und selbst für Sozialphobiker gut geeignet". Das Stück sei keine Publikumsbelehrung, sondern "Theater nicht aus dem Kopf, aber für den Kopf".
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Geht es doch um eine zentrale Frage des menschlichen Seins: Was ist unabänderlich und wo und wann kann der Mensch eingreifen, entscheiden und bis zu welchem Punkt einer bereits begonnenen Entwicklung ist das möglich?
Inhaltlich spiegeln die Episoden jenes Alltägliche, das jedem widerfahren könnte und das die Betroffenen unvermittelt in Entscheidungen zwingt, deren Tragweite im Augenblick kaum überschaubar sind. Probleme des Durchschnittsmenschen (Krankheit, Ehekrisen, Technikgläubigkeit), die folgenlos gelöst werden können, die jedoch auch eine Katastrophe auslösen können. Oder ein lebenslanges Verlustgefühl produzieren können (wie das Nachtrauern über eine vermeintlich verpasste Gelegenheit) - mit allen psychischen Konsequenzen.
Die Gebote und Verbote, die dem Stück den Titel geben, werden allenfalls implizit angesprochenen; werden eher als Erklärungsmuster für typisches Verhalten angedeutet und verweisen auf die Vorbildfunktionen, die von eigenen und fremden Erfahrungen ausgehen können.
Das dramaturgische Konzept kommt erfreulicherweise mit einem minimalen Aufwand an Bühnendekoration und Kostümen aus, betont demgegenüber aber Sprache, Mimik und Bewegung. Und es bezieht die Zuschauer in den Ablauf ein, was mindestens theoretisch sogar den Verlust von interessanteren Spielvarianten zur Folge haben könnte.
Der Zuschauer, der einer anderen Handlungskonsequenz als der aktuell gespielten den Vorzug geben würde, ist gegebenenfalls veranlasst, sich die Vorstellung ein weiteres Mal anzuschauen - in der Hoffnung, dass neue Mehrheiten zustande kommen. Und falls nicht, könnte das ein Beweis dafür sein, dass man sich allzu häufig in Harmonie flüchtet, statt sich mit Problemen im Kern auseinander zu setzen.
Ich hatte Gelegenheit, an einer Probe teilnehmen und das vorab Gesehene mit der Premierenaufführung vergleichen zu können. Erkenntnis: Auch gestandene Theaterbesucher sind nur Menschen (Harmoniesucht, Konfliktscheu etc.).
In jedem Fall bietet diese Inszenierung eine Fülle von Anlässen, die jeweils eigene Existenz zu reflektieren. Und so erfüllte die Bühne eine ihrer wichtigsten Funktionen, nämlich Reflektionsforum der Wirklichkeit zu sein.