Komm und bedien dich

von Martin Jost

Freiburg, 13. Dezember 2013. Den schwierigsten Text im Freiburger "Himbeerreich" hat ein vielleicht sieben Jahre altes Kind. Das Mädchen mit den geflochtenen Zöpfen gibt eine ellenlange Passage aus Banker-Fachsprache zum Besten, die genauso gut eine alchemistische Formel sein könnte. Kein Hauptwort ist deutsch. Das Mädchen kostet den Klang der Worte aus. "Volatilität", noch das schönste, rollt ihr genüsslich von der Zunge. Ein siebenjähriges Kind kann diese Quacksalberei überzeugend aufsagen. Besser lässt sich die Entkoppelung von Sprache und Bedeutung im Bankendiskurs nicht zeigen.

In Jarg Patakis Fassung von Andres Veiels "Das Himbeerreich" ist der Text von den ursprünglich sechs festen Rollen auf einen ganzen Chor verteilt. Der Chor sind die "Methusalems", eine Seniorentheatergruppe am Stadttheater Freiburg. Die acht Frauen und fünf Männer sprechen mal unisono, dann wechseln sie sich mit Halbsätzen ab. Dann stampfen sie, klatschen und sprechen im Stakkato. Worthülsen wie "Mehrwert" oder "Vielfalt" werden geleiert. Der Text wird hier mehr vorgeführt als aufgeführt.

Die kalte Schnauze der Krisenmacher

Durchleuchten wollte Andres Veiel mit seinem 2012 von ihm selbst uraufgeführten dokumentarischen Werk das Denken der Investmentbanker, die uns in die Krise gesteuert haben. In den Interviews, auf denen das Stück basiert, sprachen die Banker offen über menschenverachtende Versicherungsgeschäfte, gaben zu, staatliche Rettungsfonds in ihre Kalkulation einbezogen zu haben und nannten den Staat erpressbar. Doch der Stückinhalt bringt wenig Neues auf. Der Skandal ist in der Presse schon durch. Es ist niemand im Publikum, den der kaltschnäuzige Diskurs der Krisenmacher noch überrascht.

himbeerreich 560 maurice korbel uDie "Methusalems" auf der Showtreppe des Kapitals © Maurice Korbel

Pataki entschied sich, den Investmentsprech als das zu entlarven, was er ist: eine sprachliche Verdunkelungsstrategie. Das Ensemble "Methusalems" lässt die Worte nicht wirken, sondern klingen. Es lallt, kreischt und überzeichnet die bösartig hohlen Vokabeln.

Zwischen den thematischen Abschnitten des Stücks gibt es Peter-Alexander-Schlager. Die Musicalnummern heißen "Konjunktur", "Die süßesten Früchte fressen nur die großen Tiere" oder "Komm und bedien dich". Die Bühne ist ein Quadrat, das an drei Seiten von den Zuschauertribünen begrenzt wird und an der vierten von einer roten Showtreppe. Auf der wird Führungskräfte-Philosophie zu reinem Varieté. Eine Show, die genug von uns für echt hielten.

Ach so! Mathematisch!

Ein Monolog über mathematische, scheinbar seriöse Modelle für die Abarten des Geldmarktes wird von drei Schauspielern nachgesprochen wie bei einem Gelöbnis. Und alle anderen Sprecher sitzen andächtig auf einer Bank und glauben es: "Ach! Ach so! Mathematisch!" Die auf der Bank sollen dann wohl wir sein.

Genau einmal machen uns die Krisenbanker Angst. Da singt der Kinderchor, zu dem das Mädchen mit den Zöpfen gehört, voll Unschuld Volkslieder – bis er von zwei weißhaarigen Herren eingepeitscht wird und sich auf den Boden duckt. Die Banker referieren über Wetten auf Lebensversicherungen von Todkranken. Der erwartete "Cashflow" blieb aus und sie verloren ihre Jobs. Die Alten gehen die Kinder körperlich an, als wären sie die Kunden, die einfach nicht sterben wollen. Der alte Chor singt den jungen Chor mit "Jäger aus der Kurpfalz" nieder: "Gar lustig ist die Jägerei". "Wer auf uns zeigt, meint sich selbst!", sagen die Ex-Bank-Manager zum Publikum, als sie an allen drei Seiten direkt vor ihm stehen. "Das Himbeerreich" in Freiburg entlarvt die Sprache des Krisenkapitalismus. Aber es entlarvt auch die, die diesen Phrasen glauben.


Das Himbeerreich
von Andres Veiel
Regie und Bühne: Jarg Pataki, Kostüme: Sabina Moncys, Licht: Stephanie Meier, Dramaturgie: Viola Hasselberg.
Mit: Mechthild Blum, Gisela Bran, Hans-Joachim Burgert, Heide Cerny, Ingrid Frey, Wim Geerlings, Renate Gimmi, Harald Jeske, Marlene Krämer, Anke Lehmann, Jochen Loh, Gerburg Rüsing, Markus Simon. Livemusikerin: Caroline Martin. Kinderchor: Julian Braun, Anais Caban-Chastas, Luis Curtis, Louise Jaeger, Julius Kiefl, Maria Lenz, Caspar Nouwens, Lilli Parsch, Maren Richter, Carlotta Strohm, Maria Tan, Jannis Zindel.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.theater.freiburg.de


Mehr Bankenstücke: Andres Veiels Das Himbeerreich lief jüngst auch in Kassel. Elfriede Jelineks Die Kontrakte des Kaufmanns, uraufgeführt von Nicolas Stemann in Köln, lief landauf und landab, etwa in Braunschweig, Frankfurt, St. Gallen  und Potsdam. In Potsdam wie auch in Nürnberg lief Lucy Prebbles Stück Enron.

Kritikenrundschau

Bettina Schulte schreibt in der Badischen Zeitung (16.12.2013) bei Pataki spräche der "Korpsgeist des Finanzkapitalismus" mit "einer einzigen, machtvollen Stimme" in Gestalt des Chores aus Laienschauspielern. Die "gemeinen Weisheiten der entfesselten Geldwirtschaft" würden mit "süßem Lächeln" unter toupierten Dutts verkündet, als sei "gar nichts dabei, den Unterlegenen in den Staub zu treten". In manchen Szenen, wenn etwa die Männer mit Peitschen auf die Kinder losgehen, greife Pataki über "den dokumentarischen Rahmen des Investmentbankings" hinaus und ziele auf "allgemein menschliche Verhaltensweisen". An "gesellschaftskritischer Schärfe" gewinne seine Inszenierung dadurch nicht, woran ihm auch wohl nicht gelegen sei. Ohnehin hebe die chorische Form nicht darauf ab, den Einzelnen zur Verantwortung zu ziehen. "Es ist das System, das Täter und Opfer, Winner und Loser produziert." Die "Methusalems" vollbrächten eine "großartige Ensembleleistung", völlig zu Recht spräche der Regisseur von Profi-Laien.

 

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