Der unendliche Gang

von Simone Kaempf

Berlin, 13. Dezember 2013. Kleine elektrische Lampen schweben im Bühnenhimmel. Flackernd wie Grablichter hängen sie dort den ganzen Abend über: ewige Lichter für die Toten. Und von den Toten wird sehr viel die Rede sein an diesem Abend, von ihrem Nicht-sein, ihrem Woanders-sein und der nie abreißenden Hoffnung, die Grenze zwischen diesen Welten womöglich zu überwinden.

Aufbruch ins Schattenreich

Aber erst einmal schickt Regisseur Andreas Kriegenburg die Lichter wie Sterne in den Himmel, dann auch noch einen Teil der Schauspieler. Die Lebenden, um die es hier geht. Die nun in Kästen sitzend zwischen den Sternen baumeln, während unten auf der Bühne ein Paar, Mann und Frau, an einem fahl beleuchten Tisch eine Suppe löffelt, bis der Mann den ersten gesprochenen Satz in die Tat umsetzt: "Ich muss gehen". Er bricht auf dorthin, ins Schattenreich, an den einen Ort, an dem die flehend ersehnte Begegnung mit dem toten Sohn doch möglich sein muss.

aus der zeit fallen4 560 arno declair hSchmerzensreicher Gang: Matthias Neukirch (die Gehenden anführend) und Ensemble in schwarze Folie eingeschnürt © Arno Declair

Bis hierhin sind keine fünfzehn Minuten vergangen, und es ist bereits alles da, womit Andreas Kriegenburg den Text "Aus der Zeit fallen" von David Grossman anpackt: assoziative Bebilderung, der Wille, den Raum groß zu füllen und Resonanzraum zu sein. Und doch ist das in jeder Hinsicht erst der Anfang des dreieinhalbstündigen Abends.

Grossmans Totenklage, fast durchgehend in Dialog gehalten, vermischt die Gattungen antike Tragödie, Hörspiel, Klagelied; gibt einer ganzen Gruppe vom Verlust Gezeichneter eine Stimme. Der israelische Autor schrieb den Text, nachdem sein Sohn kurz vor Ende des Libanonkriegs von 2006 umkam.

Die Würfel sind gefallen

Anstatt zu sezieren, reichert Kriegenburg das Gemisch bis zum absoluten Sättigungspunkt an. Schmerzgepeinigtes Sprechen trifft auf hochgeregelte Bühnenbild-Symbolik. In der sieht man viel: schwarz. Düster ist die Beleuchtung, Höhlenartig das hohe Bühnenrund. Mit schwarzer Folie bespannte Plastikwürfel stapeln sich, als seien sie gerade aus einem Würfelbecher gefallen. Aus einem wagt sich Barbara Heynen als verdreckte und irr gewordene Frau, um sich schnell in den nächsten Würfel zurückzuziehen. Spielzeug klebt in den Spinnweben der Zelle des Schriftstellers (Jörg Pose), der ums Aufschreiben der Geschichte ringt.

Mal greifen viele Hände durch das Plastik, oder die Würfel verschlucken einen Menschen und schleudern ihn durchgerüttelt wieder aus – das Tableau halb-improvisierter Spielszenen reizt Kriegenburg hemmungslos aus. Lebendig wird Grossmans Text dadurch allerdings nicht. Zwischendurch wirkt der Abend so in sich verzettelt, dass man sich fragt, warum Kriegenburg das Thema nach seiner Uraufführung von Am Schwarzen See noch einmal aufgreift, nach jenem Stück von Dea Loher, in dem sich zwei Paare Jahre nach dem Selbstmord ihrer Kinder wiedertreffen.

Weiterlaufen trotz Erschöpfung

Es ist das Motiv des Gehens, das Kriegenburg zur Wasserscheide der Inszenierung macht und das den zwischendurch schon aufgegebenen Abend auf höchst wundersame Weise belebt. Ein Voranschreiten, das an Kriegenburgs Inszenierungen von Dea Lohers Das letzte Feuer und Diebe erinnert. Räderwerke drehten sich darin mit einer Unerbittlichkeit, gegen die der menschliche Wille nichts auszurichten vermag.

Auch in "Aus der Zeit fallen" dreht sich die Bühne wieder, und unablässig läuft darauf jetzt Matthias Neukirch seine Runden, in Selbstgespräche vertieft, die Zwiegesprächen mit dem Sohn gleichen. Getrieben von der Sehnsucht nach Wiederbegegnung, die ihm wie ein Mahlstein den Körper schwer zu machen scheint. Neukirch schafft es, der Vergeblichkeit einen Ausdruck zu schenken. Schon das entwickelt einen Sog. Und er bleibt nicht allein: Bald läuft die ganze Gruppe, erschöpfte Körper, die sich gegenseitig stützen, und nicht anders können als immer weiterzulaufen.

Hier findet der Abend zu seiner Erzählung über die Unmöglichkeit vom Schmerz abzulassen, korrespondieren die Bilder mit der nicht abreißenden Sehnsucht, die Toten zu treffen. Dem Vorangehen, das Fluch und letzte Chance zugleich ist, an der Einsicht verzweifelnd: "Er ist tot, doch sein Tod, sein Tod ist nicht tot". Es ist ein langer, anstrengender Weg, auf den einen Kriegenburg mitnimmt, aber dessen Steigerung einem die Gefühle der Figuren am Ende doch unerwartet nah kommen lässt.

Aus der Zeit fallen (UA)
von David Grossman, aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
Regie: Andreas Kriegenburg, Bühne: Olga Ventosa Quintana, Kostüme: Andrea Schraad, Dramaturgie: Juliane Koepp.
Mit: Matthias Neukirch, Katrin Klein, Bernd Moss, Natali Seelig, Jürgen Huth, Janina Sachau, Barbara Heynen, Daniel Hoevels, Jörg Pose, Markwart Müller-Elmau.
Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause

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Kritikenrundschau

André Mumot schreibt auf der Website des Deutschlandradios (14.12.2013): So "faszinierend und komplex" die Form von Grossmans in Versform verfasstem Textes auch sei, berge diese "unnachgiebige, hoch emotionale Nuancensuche" doch zugleich das "Risiko der Überfrachtung". Dreieinhalb "auslaugende, abstumpfende Stunden" dauere Kriegenburgs theatrale Uraufführung und weil sie zu große Ehrfurcht vor ihrer Vorlage bekunde, sei sie "kaum auszuhalten". Zwar sei das Treiben auf der Bühne sehr "atmosphärisch, bisweilen auch virtuos choreografiert", dies könne aber nichts retten. "Steife, taube Feierlichkeit" sei hier verordnet worden, und das Ensemble gebe nur "gequälte, larmoyante Selbstergriffenheit" von sich. Zwischentöne gingen dabei verloren, alles werde zur "angestrengt bedeutungsschwangeren Leidensartikulation".

Eberhard Spreng schreibt auf der Website des Deutschlandfunks (14.12.2013): Der Abend beginne mit einem "magischen Bild". Wer einmal Yad Vashem in Israel besucht habe, erinnere sich hierbei wohl an die Kindergedenkstätte mit ihrer Kuppel aus entschwebenden Lichtern. Das genau sei ein Problem der Inszenierung, Kriegenburg bemühe "zu viel mächtiges Pathos und Feierlichkeit". Das "aus der Zeit fallen", das für den Protagonisten der Tod des Sohnes bedeutet, interpretiere Kriegenburg "augenfällig als ein aus dem Raum fallen". "Nicht alle Texte" erreichten in dieser "zunehmend lähmenden und ermüdenden Aufführung" die Zuschauer, zu bilderverliebt agiere der Regisseur, als wollte er eine "kongeniale Bildernacherzählung entwerfen". Aber während die Sprache "die Hoffnung aufkeimen lässt, den Tod letztlich doch überwinden zu können", verharre das Theaterbild in "manischer Tristesse".

Im Tagesspiegel (15.12.2013) schreibt Patrick Wildermann, das Unternehmen sei ein Wagnis, weil der Text "das genaue Hinhören und den langen Atem verlangt, weil er zu Pathos und falscher Lesart verführen kann. Andreas Kriegenburg unternimmt am Deutschen Theater den Versuch – und scheitert nicht. Das ist schon viel." Doch oft finde der Regisseur "sehr plakative, vor dem Text kniende Bilder", "erkennbarer Druck" laste auf der Uraufführung. Erst die Bewegung am Ende verhindere das Versteinern. "Sich erinnern, ohne daran zugrunde zu gehen – das ist die unfassliche Leistung, die Grossman vollbracht hat. Und davon teilt dieser Abend schließlich viel mit."

Matthias Heine beginnt seine Kritik auf Welt Online, der Web-Präsenz der Tageszeitung Die Welt (15.12.2013) mit einem harten Satz: "Der Regisseur Andreas Kriegenburg war mal Tischler und nun ist er auf dem besten Wege, wieder einer zu werden." Ein Weihnachtsmarkt in einem halbverlassenen Einkaufszentrum, auf dem Klezmermusik gespielt werde, so habe man sich die Szene vorzustellen. Kriegenburg, einst "ein großer Regisseur", investiere seit einigen Jahren immer mehr Aufwand in die Bühnenbilder und man erkenne immer weniger, ob er noch Energie in die "anderen üblichen Tätigkeiten eines Spielleiters" gesteckt habe. Man ertrüge das nur aus "Respekt vor der Schwere des Themas" und "vor der realen Trauer um einen echten Menschen, die hinter der Literatur noch klar erkennbar", aber ohne "den Trost irgendeiner bemerkenswerten Kunst". Am traurigsten sei, wieder einen Großmeister des Theaters verloren zu haben.

Katrin Pauly schreibt in der Berliner Morgenpost (15.12.2013): "Es gerät Kriegenburg zwar der Ton in seiner textgetreuen Umsetzung bisweilen allzu feierlich-erhaben, auch bei der raumgreifenden symbolschweren Bühnenästhetik wirkt der Bilderbogen zeitweise überspannt.": Wie er eine universelle Topographie der Trauer skizziere, "das hallt später, wenn die Erschöpfung nachlässt, die dieser fast dreieinhalbstündige Abend fraglos auslöst, noch tief und lange nach."

Ulrich Seidler fragt sich in der Berliner Zeitung (16.12.2013) ob Grossmans Text "auf die Bühne gehört" und ob das, was Kriegenburg, der "viel gebuchte Fachmann für die Veräußerlichung von finsteren, depressiven Seelenwelten" da veranstalte, nicht doch "Pathos-Schummel" sei. Die Mikroports übertrügen "das Geräusch, mit dem die Zunge an den Gaumen schlägt", die "blass-dunkle Lichtführung" verschatte die Spieler eher, als sie zu beleuchten, der Einsatz schwarzer Folie gehe mit derartig "viel Geknister und Gewickel einher, dass man immer wieder an Haushalts-Slapsticks denken muss". "So richtig gespielt" werde bei Kriegenburg eh nie, "die Leute auf der Bühne bedienen die Bildräume. ... So ähnlich wie bei Robert Wilson, nur eben auch auf der Ebene des seelischen Ausdrucks."

Für Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (16.12.2013) ist ganz klar, der Text ist schon von sich aus theatral, weil nur Figurenrede: Kriegenburg habe die Uraufführung in einem düsteren Zwischenreich angesiedelt, in einem "Meer des Leidens". In dieser "Schattenwelt irren die Lebenden umher und suchen die Toten". Kriegenburg fände Bilder für die Trauer, und einige davon seien "so voller Poesie, so voller Liebe für die Menschen, dass man niederknien möchte". Virtuos erzähle der Regisseur die verschiedenen Handlungsstränge parallel, seine szenische Phantasie scheine unerschöpflich, seine Einfälle "perfekt" choreografiert. "Manchmal ist das ein bisschen zu viel" und wie oft bei Kriegenburg habe es der Text "ein bisschen schwer gegen die übermächtigen Bilder". Im zweiten Teil fange man an, die Gehenden "ein bisschen zu hassen, weil man von all dem Leid nichts mehr wissen will". Aber "das manchmal schwer Erträgliche ist gerade die Stärke dieses mutigen Abends."

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (16.12.2013) empfiehlt Irene Bazinger, man sollte Grossmans "literarisches Requiem" lesen. Im DT seien seine Worte leider unters "Regiemühlrad" von Andreas Kriegenburg geraten, und der habe sie auf "schwer sentimentales Moll" gestimmt und "in Betroffenheitssauce getunkt, bis man sie gar nicht mehr hören mag". Weiters habe er die Beleuchtung im Zuschauerraum am Beginn und am Ende "fast bis zur Stolpergefahr reduziert" und auch das Bühnenbild in "salbungsvoller Düsternis" belassen. Weiters nehme er die Vorlage fest in den "Würgegriff teutonischer Ernsthaftigkeit", so dass Buch und Inszenierung "keine Luft kriegen". Kriegenburg drücke "schamlos auf die Tränendrüse". Was dabei herauskomme, sei "nicht flüssig, sondern nur überflüssig".

Barbara Behrendt schreibt in der tageszeitung (taz) (16.12.2013): Kriegenburg habe das "wichtigste Motiv" aus Grossmans Buch aufgegriffen: "Die Bewegung, der Aufbruch als einzige Hoffnung vor dem Zugrundegehen." Das Buch scheine wie für die Bühne geschaffen, dochbenötige der komplexe Text alle Aufmerksamkeit, Ruhe und Konzentration. Kriegenburg fahre allerdings ein "gewaltiges Bildertheater" auf, bei dem sechs Statisten fortwährend Dinge "von hier nach dort" räumten. Der Abend entwickele sich zur "künstlichen Bühnenshow". Die Schauspieler und die mythisierten Figuren, die sie verkörpern, blieben dabei seltsam nebensächlich. Auf der Bühne sei von wenigen Ausnahmen abgesehen, in denen man spüre, wie viel "Menschlichkeit in diesem Text liegt, wie viel Empathie und Hoffnung" vor allem eine "Kunstanstrengung" zu sehen.

In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (15.12.2013) schreibt Julia Encke, es leuchte sofort ein, den Text auf die Bühne zu bringen. Kriegenburg gebe dem Text "Raum und Körper", es sei ein "überwältigendes Requiem", bei dem man "völlig ergriffen" auch schonmal die Pause über sitzen bleibe, weil man nicht raus wolle, aus diesem Theaterdunkel.

 

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