Tauziehen über der Schlucht

von Ute Grundmann

Dessau, 14. Dezember 2013. Wenn der Alte mal wieder von seinen Heldentaten im Spanischen Bürgerkrieg erzählt, rollen die Jungen bloß noch mit den Augen. Das alte Lied kennen sie schon aus dem Kindergarten. Sie aber wollen ihre eigene(n) Geschichte(n) erleben, wollen ihren Platz im Leben und in einem Staat finden, den die Alten hinter einer Mauer eingeschlossen haben. Das ist eine der prägnanteren Szenen in einem Stück, das das Dessauer Publikum per Wahlzettel auf den Spielplan des Anhaltischen Theaters setzte: Thomas Braschs "Vor den Vätern sterben die Söhne" hatte in der kleinen Spielstätte, dem Alten Theater, Premiere.

Für dieses "erste demokratisch gewählte Wunschstück" hatte das Theater seinem Publikum im September Einar Schleefs "Totentrompeten", Fritz Katers "Drei von fünf Millionen" und eben die Erzählungen Thomas Braschs vorgestellt und vorgeschlagen. Und die Zuschauer wollten Braschs Prosa-Miniaturen auf der Bühne sehen.

Erzählungen über den Riesenknast

Und die beginnen im Foyer des Kulturzentrums "Altes Theater" mit mächtig Lärm. Stellwände, die die Bühne verdeckt hatten, werden mit Radau weggeräumt und fallengelassen, Pressluftgehämmer und Maschinengeräusche suggerieren Arbeitsatmosphäre, in dem keiner des anderen Wort versteht. Aber die beiden Jungen Grabow (Patrick Rupar) und Fastnacht (Patrick Wudtke) wissen auch so schon, was Ramtur (Dirk S. Greis) wieder mal erzählen wird, spöttisch lesen sie ihm aus einem sowjetischen Buch vor, rauchen und schnippen die Zigarettenasche in einen putzigen Taschenaschenbecher. Die Stimmung zwischen den Arbeitern ist aggressiv-genervt, ihr Blick auf das Leben in der DDR ist höchst unterschiedlich: Schauen die Jungen aus dem Fenster, blicken sie auf einen "Riesenknast mit Grünanlage", der alte Grabow dagegen sieht noch die Kriegstrümmer.

Solche Kurz-Szenen, Momentaufnahmen hatte Thomas Brasch in seinem Erzählband "Vor den Vätern sterben die Söhne" gesammelt, ein Werk, noch in der DDR entstanden, das aber erst nach seiner Ausreise 1977 im Westen erschien.

vor den vaetern sterben die soehne 2 560 claudia heysel xEndzeitstimmung in Dessau? © Claudia Heysel

Regisseur David Ortmann hat nun versucht, aus diesen kurzen Erzählungen ein Theaterstück zu machen. Vieles wirkt da einfach nur nacherzählt, etwa wenn Ramtur sich an das KZ erinnert, wo sechs jüdische und sechs polnische Jungen von den Wachen zum Tauziehen über einer Schlucht gezwungen werden, in die dann alle stürzen. Gleich drauf machen dann zwei Gebläse mächtig Lärm und Staub, wird schwere Arbeit markiert und der Alte erzählt (wieder) von einem schweren Unfall. Als Grabow ihn im Krankenhaus besucht, will auch er endlich mal (s)eine Geschichte erzählen und merkt nicht, dass der Alte stirbt – dann aber von einem Geräusch wieder aufwacht.

Was alles aus dem Himmel fällt

Ob die Szene Traum oder Realität sein soll, bleibt unklar. So springt die Inszenierung von einer Szene aus dem Leben eines Arbeiters zur nächsten, reißt ein Thema an, erzählt es nach und geht dann weiter. Das gelingt ganz ironisch, wenn die drei Malocher aus Briefen an den "Genossen Direktor" zitieren und dessen Antworten im Chor sprechen. Doch wenn dann Grabow von seinem Besuch im Kino erzählt, wo er den Film "Spur der Steine" gesehen hat, und die Reaktionen des Publikums auf diesen Spott über das System schildert, bleibt es eben das – eine Schilderung.

So kann jeder die Geschichten des anderen erzählen, so oft hat er sie schon gehört, und wenn einer fragt, "Hab ich schon erzählt?", ist das genervte "Jaaaaa" spür-, wenn auch unhörbar. Dazu kommt, dass Thomas Braschs Texte, inzwischen gut 35 Jahre alt, doch sehr der Zeit verhaftet sind. Außerdem werden die einzelnen Szenen nicht motiviert, nicht zusammengeführt, sondern einfach einzeln hintereinander gesetzt. Und so bleibt auch die eigentlich beklemmende, aber wie vom Himmel gefallene Szene des Stasi-Verhörs blass. Grabow muss sich verantworten, weil er von der Republikflucht eines Kumpels gewusst haben soll. Doch die Figuren bleiben Klischee, ebenso wie in der Schlusszene, in der der Leiter der "Konfliktkommission" mit sich überschlagender Stimme Moral-Predigten hält.

Die Premiere des Anhaltischen Theaters fand drei Tage nach der Entscheidung des Landtages in Sachsen-Anhalt statt, mit der die einschneidenden Kürzungspläne des Kultusministers Stephan Dorgerloh bestätigt wurden – allen Protesten und Demonstrationen zum Trotz. Jeweils drei Millionen Euro soll die Bühnen in Halle und das Anhaltische Theater in Dessau ab 2014 weniger vom Land bekommen, Geld, das die Kommunen nicht ersetzen können. Und so droht in Dessau schlimmstenfalls die Schließung mehrerer Sparten zu einem dann Nur-noch-Musiktheater mit reduziertem Orchester und Chor. In diesem Falle könnten sich die Dessauer viel wünschen. Nur erhört würde dann nichts mehr.

 

Vor den Vätern sterben die Söhne
Schauspiel nach dem Erzählband von Thomas Brasch
Regie: David Ortmann, Bühne: Jan Steigert, Kostüme: Katja Schröpfer, Dramaturgie: Sabeth Braun.
Mit: Dirk. S. Greis, Patrick Rupar, Patrick Wudtke.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.anhaltisches-theater.de

 

Kritikenrundschau

Man könne, "etwas Kenntnis der DDR, wenigstens aber historische Sensibilität vorausgesetzt, diesen 75-minütigen Theaterabend auch genießen, ohne das Buch zu kennen", schreibt Kai Agthe in der Mitteldeutschen Zeitung (19.12.2103). "Bei der Bühnen-Adaption von solch dichter Prosa wie der Braschs" bleibe es "freilich nicht aus, dass bisweilen mehr berichtet als gespielt wird. Die Darsteller hätten "ihren Bauarbeiter-Knigge und ihr Werkhallen-Einmaleins aber genau studiert", und der Abend liefere auch "ein treffendes Bild für das Phänomen DDR als Ganzes."

 

Kommentare  
Vor den Vätern, Dessau: zweite Meinung
Nur der Vollständigkeit halber eine zweite Meinung.

http://www.livekritik.de/kultura-extra/theater/feull/premierenkritik_vordenvaeternsterbendiesoehne_anhthdessau.php
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