Ein Spiel ist ein Spiel ist kein Spiel

von Petra Kohse

Berlin, 12. Januar 2008. Am Anfang, zumal von etwas weiter hinten, sieht die Bühne aus wie ein mit goldenem Samt ausgeschlagenes Kästchen. Später und bei anderem Licht wird deutlich, dass Boden, Decke und Wände mit Lehm getüncht sind, in der Tat sogar recht grob, und die Schattierung der typischen Samtoptik resultiert aus den noch feuchten Stellen. Neun Menschen in einem Erdgefängnis, mit hohen Wänden zwar, aber nur geringer Tiefe. Sie kommen vom Zuschauerraum aus freiwillig herein, aber dann geht es dreieinhalb Stunden lang nicht mehr hinaus.

Der Bühnenkasten, den Johannes Schütz für Jürgen Goschs Inszenierung von Tschechows "Onkel Wanja" im Deutschen Theater gebaut hat, verursacht schon beim Hinsehen Beklemmungen. Kein Fenster und keine Perspektive. Wer nicht spielt, steht reglos an der Wand, wer nach seiner Szene abgehen will, wird hier jäh gestoppt.

Wanja ist Verwalter auf dem Gut seiner verstorbenen Schwester. Sonja, die Erbin und Nichte, lebt auch da, desgleichen der ehemalige Gutsbesitzer, Wanjas Mutter und die Kinderfrau. Das erwirtschaftete Geld jedoch geht zum Großteil an Alexander, den Schwager und Vater, der mit seiner neuen, jungen Frau in der Stadt lebt und kunstwissenschaftliche Abhandlungen schreibt. Als er sich das Leben dort nicht mehr leisten kann, kehrt er aufs Gut zurück, und das Drama beginnt.

Im Geiste fortgeschrittener Enthemmung

Sowohl Wanja als auch der Landarzt Astrow verlieben sich in Alexanders Frau Elena. Sonjas unerwiderte Liebe zu Astrow wird ebenso unerträglich wie Elenas Ehe mit Alexander, und Wanja glaubt zu erkennen, dass Alexander, den er in den letzten 25 Jahren als Intellektuellen verehrt hat, ein nutz- und ahnungsloser Schwätzer ist.

Die birkenrauschende Heiterkeit, die Tschechow-Inszenierungen oft haben, die standesbewusste Formvollendung, aus der sich Melancholie und Verzweiflung erheben – in Jürgen Goschs Inszenierung ist nichts davon. Stattdessen wird die Geschichte im Geiste einer bereits fortgeschrittenen Enthemmung erzählt, als hätten alle schon zu Anfang bereits einen Wodka zuviel getrunken.

Ulrich Matthes als Wanja sitzt auf der Bank, in die die rückwärtige Wand nach unten mündet und kaut etwas, während er mit schwerer Zunge über Alexander schimpft, es kleckert aus seinem Mund, wie es aus der Teetasse des ehemaligen Gutsbesitzers (Bernd Stempel) tropft und die alte, gebückt schlurfende Kinderfrau (Christine Schorn) einen Rosenstrauß fast brutal von der Bank wischt. Auch Jens Harzer als Arzt wirft achtlos Brot und Käse auf den Boden und Christian Grashof als Alexander schwitzt, sabbert und schlenkert auf das Erbarmungswürdigste mit seinen Gliedmaßen. Das grob Körperliche und Verachtungsvolle, die Selbstverachtung natürlich, die dahintersteckt.

Bleischwere Ganzkörperfrustration

Hier wird in den Szenen nichts untergründig offenbart, sondern werden die Verhältnisse im vertraut-vorwurfsvollen oder hochgradig gereizten Ton demonstriert. Es hat etwas von Schaukampf: Sie lösen sich von der Wand, treten auf der Mitte der Bühne gegeneinander an und kehren an den Rand zurück. In den Pausen ziehen sie sich auf offener Bühne bei vollem Licht um, die Wechselkleider liegen in Wäschekörben.

Jens Harzer, neu in Berlin und von Dieter Dorn aus München kommend, hat einen quakig-nölenden, komisch-kauzigen Tonfall, mit dem er Astrows Eigenbrötlertum betont. Der Schritt der schwarzen Anzughose hängt tief, und so spöttisch wie selbstvergessen hebt er die Arme zum folkloristische Groove, wenn Bernd Stempel Entsprechendes auf der Gitarre klampft. Später aber, nach der Pause, reißt er Constanze Becker an sich und verfängt sich in ihr, wie auch sie, als Elena, sich verzweifelt an ihn drängelt, um ihrer ganzen Frustriertheit zu entsteigen wie einem bleischwerem Ganzkörperkostüm.

Ein Moment des Kampfes zur Befreiung, der jäh endet und auch sonst nichts Gutes bringt. Wanja und Sonja, deren Liebessehnsüchte durch das Zusammenkommen von Astrow und Elena enttäuscht werden, kompensieren dies, indem sie alle Hemmungen gegenüber Alexander verlieren, was erst zu Tränen und versuchtem Mord führt, dann zu der langen Düsternis der Depression. Ein merkwürdiger Ton herrscht in dieser Inszenierung. Auf verschiedene Weisen gekünstelt, aber trotzdem einer jeweiligen Authentizität entspringend, sperrig also und glaubhaft. Ein Spiel ist ein Spiel ist kein Spiel.

Einsprengsel von Schießbude und Ohnsorg

Die Inszenierung hat Längen, und sie hat Dichten. Man blickt ins Erdloch und fühlt sich selbst wie in einem, oder wie mit nassem Sand behäuft, immer tiefer sinkend, sich wegwünschend und doch gespannt verharrend, in welche Tiefe es führen wird, das mal mähliche, mal eruptive Sinken. Grashof hat große Momente des Unappetitlichen, Matthes exerziert Verlorenheit, Constanze Becker straßenrealistisches Erlöschen.

Die gelungen umgangssprachliche deutsche Fassung von Angela Schanelec hat Gosch als Modell- und Ernstfall zugleich inszeniert, als Kopf- und Knasttheater, mit Einsprengseln von Schießbude und Ohnsorg zwar, aber ohne auch nur das Jota eines Erlösungsangebots. Die Figur eines ab und zu von außen einbrechenden "Arbeiters" steigert dies nur: der Schauspielstudent Rahul Chakraborty tölpelt über die Bühne und singt zuweilen aus voller Kehle herzergreifend sehnsüchtig in einer fernen Sprache. Hier ist es arg, hat man gelernt. Und anderswo womöglich noch viel ärger.

 

Onkel Wanja
von Anton Tschechow
deutsch von Angela Schanelec nach einer Übersetzung von Arina Nestieva
Regie: Jürgen Gosch, Bühne und Kostüme: Johannes Schütz, mit: Constanze Becker, Rahul Chakraborty, Meike Droste, Christian Grashof, Jens Harzer, Ulrich Matthes, Gudrun Ritter, Christine Schorn, Bernd Stempel.

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

"So hat man Tschechow lange nicht gesehen", jubelt Rüdiger Schaper im Berliner Tagesspiegel. "Gnadenlos hart." Schon das Licht sage: "Es gibt kein Entrinnen. Die Situation ist offen und intim wie auf einer Probe. Goschs Schauspieler, die Johannes Schütz recht ärmlich und heutig kleidet, wirken splitternackt. Entblößte Seelen." Allerdings würden einige Figuren Karikatur bleiben ("Warum brüllt Christian Grashof, der Professor und Sommergast, dieser eingebildete und von sich so eingenommene Kranke, wie der letzte Knallcharge einer missratenen Molière-Komödie?") Die aber "machen Platz für die anderen, die sich tragisch auswachsen. Ulrich Matthes also: So intensiv hat er noch nie gespielt." Und Constanze Becker, die "groß und schön, herausfordernd" sei, "und gleich wieder ungelenk, angsterfüllt, von Zweifeln getrieben. Großartig!"

Im besten Fall entstehe aus dem reinen Spiel in den Inszenierungen Jürgen Goschs, "des Anti-Pathetikers des deutschen Theaters", Wahrheit, meint Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (14.1.2008). "Onkel Wanja" sei "so eine Inszenierung. Tschechows Figuren sind hier keine elegischen Theater-Russen, sondern gereizte, nervöse Menschen". Nichts sei "in dieser Aufführung so selbstverständlich wie das Unglück". Wie etwa Ulrich Matthes in das Unglück seiner Figur vordringe, "von den Momenten trauriger Sehnsucht bis zum Zustand illusionsloser Abrechnung mit sich selbst", sei "von beängstigender Wahrhaftigkeit". Nichts daran sei wehmütig oder larmoyant. "Man hat für einen kurzen, gespenstischen Moment das Gefühl, einem Menschen zuzusehen, der gerade seinen eigenen Tod zu Lebzeiten konstatiert."

"Dreieinhalb eindringliche Stunden Theater, die eine Lehrstunde für das grosse Abc des Scheiterns sein wollen", hat Dirk Pilz für die Neue Zürcher Zeitung (14.1.2008) bei Goschs "Wanja" gesehen. Die Inszenierung kenne " keine Gnade – sie ist unnachgiebig realistisch in ihrem Blick auf das zum Tode bestimmte Leben." Ulrich Matthes schreite "als Protagonist jene Empfindungsskala von Hochfahrigkeit bis Eigenhass ab, die alle andern in einen Strudel aus Gram und Grimm reißt." Der Abend gehorche "ganz dem Regelwerk eines psychologischen Realismus, dessen oberstes Gesetz Wahrhaftigkeit heißt." Lernen könne man aber "beim Durchbuchstabieren dieser mit Vergeblichkeit infizierten Seinsweisen" nichts. Man mache "vielmehr eine so tiefgreifende wie allgegenwärtige Erfahrung: Etwas fehlt immer zum Glücklichsein."

Goschs "Wanja"-Inszenierung sei "frei von aufdringlichen Regie-Methoden, wie sie Gosch zuletzt bei seinen Shakespeare-Arbeiten überstrapaziert hatte", meint Matthias Heine in der Welt (14.1.2008) Der Regisseur lenke "ein großartiges Schauspielerensemble nur sanft und lässt es die Zuschauer ergreifen, ohne sich in den Weg zu stellen." Neben Harzer, Matthes und Becker rühre "vor allem Meike Droste zu Tränen. Die Tristesse des Schlusses, als Sonja und Wanja allein auf dem Gut zurückbleiben", werde "gnadenlos langsam ausgespielt und so der religiöse Zweckoptimismus von Sonjas Monolog über die heilsame Kraft des Ausruhens konterkariert. Das ist so traurig, dass sich der Herzmuskel zusammenzieht und man darüber zum Hypochonder werden könnte wie der Professor."

Johannes Schütz' Bühnenkästen für Jürgen Goschs Inszenierungen interpretiert Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (14.1.2008) als "so etwas wie die Grund-Theateranordnung: ein Ur-Raum, der nichts zu tun hat, als drei Dimensionen abzugrenzen, und Ur-Licht, das für nichts als Helligkeit sorgt." "In aller Selbstverständlichkeit" kletterten die Schauspieler dann in den Schütz-Kasten und machten sich bereit "für das geballte Menschenunglück, für das Spiel mit der Ausweglosigkeit". Und das spielen sie laut Seidler gut: Ulrich Matthes spiele sich gar "in absturzgefährliche Sphären hinauf", Jens Harzer lasse "seinen Astrow stets mit warmen Augen aus seiner Rolle herausschauen" – "weswegen sich alle anwesenden Frauen unter vierzig unverzüglich in ihn verlieben" –, Meike Droste beherrsche "aufs Rührendste alle Spielarten des vergeblich unterdrückten Weinkrampfs" und Constanze Becker strahle "verschwenderische Sinnlichkeit" aus.

"Mit der Melancholie, die es dem Publikum sonst ermöglicht, Tschechows Wahrheiten zu ertragen", habe Goschs "Wanja" wenig zu tun, schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (14.1.2008). In Goschs "Wanja" werde "gebrüllt und sich an die Schläfen gefasst, und oft können die Zuschauer nur noch lachen. Und trotzdem ist die Verzweiflung in den Herzen zu sehen." Ulrich Matthes' Wanja etwa sei "derartig verloren, dass es schwer fällt, ihn sich am Ende wieder ruhig bei der Arbeit vorzustellen." "Nur wenn Matthes lächelt, ist es noch trauriger, als wenn Matthes weint." Und Constanze Beckers Elena "ist gar nicht so schön ..., aber sie ist vernichtend langweilig." Der letzte Akt sei bei Gosch "sehr still und sehr träge": "Sieht man ihn gerne, diesen vierten Akt? Nein. Wird man ihn je vergessen? Wohl kaum."

"Weil Wanja einmal sagt, dass er seit Ewigkeiten ‚wie ein Maulwurf'" auf dem Anwesen hocke, habe der Bühnenbildner Johannes Schütz Tschechows Drama "in einen engen, hohen Guckkasten aus feuchtfleckigem Lehm" gepresst, glaubt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen (14.1.2008). Ob es nun an diesem Erdloch liege, "in welches die Darsteller kollektiv versenkt wurden, oder an Jürgen Goschs Weigerung, als Regisseur Position zu den russischen Verhältnissen, zum Stück oder zumindest zum Stand der Dinge zu beziehen – alle wirken so, als würden sie nicht Tschechow spielen, sondern Tschechowspielen spielen." "Obwohl räumlich eigentlich auf Tuchfühlung" bleibe das Ensemble "seltsam unverbunden und inhomogen". Goschs Inszenierung versinke "bis zum tranigen Ende immer tiefer in Kitsch und Klischees", selbst der Professor Christian Grashofs – "unter aller schlüpfrigen Edelschmiere bestürzend glaubwürdig" – könne "keine vieraktige Aufführung retten".

"Wer wirklich sehen will, wie es ausschaut, wenn Träume platzen und sich dann ein ganzes fehlgeleitetes Leben auflöst – gnadenlos überzeugend, äußerst schmerzhaft und dabei vollständig unsentimental – muss diesen Schauspieler als Onkel Wanja erleben!" schreibt Christine Wahl auf Spiegel online (13.1.2008). "Matthes lässt den Titel-Antihelden, der dem egomanischen Kunstwissenschaftler-Pflegefall aus verfehlter Verehrung sein ganzes Leben zu Füßen gelegt hat, vom anfänglichen Zynismus des Intellektuellen Stufe um Stufe fallen: Irgendwann gibt es wenigstens noch die rückwärts gewandte Sehnsucht, was das hätte sein können: ein Leben. Nach dreieinhalb Stunden ist dann noch nicht mal mehr sekundenweiser Selbstbetrug möglich."

Etwas später, aber nicht minder begeistert, stimmt Peter Kümmel in der Zeit (17.1.2008) in den allgemeinen Jubel ein. Auch, weil die Form der Inszenierung noch mal Goschs Sicht auf Stoff und Drama für ihn so zwingend deutlich macht. "Hier sieht man Menschen die Zeit aushalten, die nicht vergehen will", beschreibt er die Stand-By-Haltung derer, die gerade nicht agieren, sondern stumm an der Wand ausharren. Weshalb es für Kümmel konsequent gewesen wäre, wenn auch das Publikum die ganzen 3 1/2 Stunden hätte stehen müssen. Und was hat das Spiel dann diesem Kritiker gezeigt? "Es gibt kein Vergessen und keine Erfüllung. Wenn wir einen anderen umarmen, hören wir nicht auf, allein zu sein. Und wenn wir einen anderen vergessen, ist er noch immer da." Auch Kümmel verneigt sich tief vor Ulrich Matthes' Darstellung der Titelfigur. Matthes' Wanja begehre ins Leere, werde in seiner Gier immer weniger und schwinde dahin, was für Kümmel ebenso grauenvoll wie komisch wirkt.

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