Im Schreibtischgebirge

von Esther Slevogt

Berlin, 18. Dezember 2013. Das kann man natürlich so sehen. Damals, in den 1930er Jahren deregulierte die Naziideologie die Beziehungen zwischen den Menschen, zerstörte soziale Bindungen und nistete sich bis in die hintersten Winkel der Seele ein: Um besonders die Jugend zuzurichten für die Ziele des Nazistaats, speziell für den Krieg. Heute, da ist es das Geld und das Versprechen des Alles-immer-Habenkönnens in unserer sprichwörtlich durchökonomisierten Gesellschaft, das vergleichsweise verheerend auf die Seelen junger Menschen wirkt, ihre Seelen kalt macht und Ideale absterben lässt.

Diese Rechnung macht zumindest Tilmann Köhler an den Kammerspielen des Deutschen Theaters auf, wo er Ödön von Horváths berühmten Roman aus den 1930er Jahren, "Jugend ohne Gott", auf die Bühne bringt. Horváth hat darin am Fall eines Lehrers und einer Gruppe von Schülern das Bild einer Gesellschaft gezeichnet, die im Klima der durch alle Kanäle und in alle Beziehungen sickernden Naziideologie Werte und ethische Grundlagen verliert. Dagegen zeichnete Horváth einen Lehrer, der zunächst noch feige und indifferent diesen Verfall konstatiert und im Verlauf dann immer deutlicher Fragen nach persönlicher Moral und Verantwortung stellt. Allem zu Grunde liegt die Frage, in wieweit Gott und die Religion ein taugliches Fundament für die moralische Verfasstheit einer Gesellschaft sein kann.

Sich einfressender Totalitarismus

Und so treten erst einmal vier junge Mitglieder eines Knabenchors auf die karge dunkle Bühne und singen acapella (und wohl in lateinischer Sprache) ein geistliches Lied. Zuvor rollte als projiziertes Manifest des Abends ein Text aus Harald Welzers Buch "Selber denken" über den Eisernen Vorhang, der von einem neuen Totalitarismus spricht, der sich in die menschlichen Beziehungen fressen würde.

jugendogott1 560 arnodeclair hHelmut Mooshammer, Barbara Schnitzler, Anton von Lucke, Thorsten Hierse, Harry Schäfer, Maike Schmidt.  © Arno Declair

Es ist nicht irgendein Knabenchor, der dann hier sein beträchtliches Können zeigt, sondern der Knabenchor Berlin, in dem Kinder aus zehn verschiedenen Nationen singen. Es ist sozusagen eine "Jugend mit Gott", die hier als leuchtendes Beispiel eingeführt wird, an die man als Zuschauer wohl Hoffnung auf Weltverbesserung knüpfen soll. Am Bühnenrand sitzt der berlinisch-brasilianische Musiker Thonaci, der Köhlers kühle Versuchsanordnung auf der Gitarre begleitet: einem lakonischem Mix aus südamerikanischen Rhythmen, Afrojazz und New Age, was den Abend immer wieder in eine moritathafte Distanz zur Gegenwart rückt, ihn aber gelegentlich auch ins Stimmmungsvolle entschärft. Thonaci, der in dieser Inszenierung vielleicht auch als Erscheinung selbst als Statement zum Rassismus der Jugendlichen aus dem Horváth-Stück gedacht ist.

Mangelnde Vorbilder

Zumindest drängt sich dieser Verdacht auf, wenn der Abend in seiner Exposition erst einmal mit einer, an heutige Debatten nicht mehr ganz anschlussfähige Verhandlung der Frage beginnt, ob andere als nach Nazimainstream aussehende Menschen überhaupt als solche bezeichnet werden können. Horváth bezog sich da auf die Nazirede vom Untermenschen. Wer das Stück auch als Parabel für ein Heute lesen will, müsste sich aber zu dem von Horváth benutzten N-Wort verhalten, an dem entlang heutige Rassismusdebatten unter anderem verlaufen.

So erweist sich die Parabeltauglichkeit des Stücks und seine Befunde für die Gegenwart an diesem Abend schon recht schnell als äußerst brüchig, staubt es immer wieder mächtig aus dem Text. Und geht die Rechnung des Abends eben nicht auf. Weil eigentlich gar nicht gerechnet, sondern bloß behauptet wird. Köhler spielt den Text mit wenigen Straffungen ziemlich vom Blatt. Den Lehrer gibt Christoph Franken, zunächst als nicht mehr ganz jungen Jammerlappen, der mit seiner etwas ungepflegten Erscheinung ganz klar den schicken Jugendlichen in ihren schmalen Hosen kein Vorbild sein kann.

Well made Kriminal- und Moralstück

Die Jugendlichen, gespielt unter anderem von den drei Ernst-Busch-Studenten Harry Schäfer, Anton von Lucke und Maike Schmidt, sind von Susanne Uhl in zeitlose Garderoben gesteckt worden. Weiße rokokohafte Schleifen an Hemden (und auch der noch nicht wieder abgeschliffene hohe und idealistische Theaterton der jungen Schauspieler) machen Assoziationsräume zu anderen Jugendgenerationen ohne Gott auf, Schillers Räubern beispielsweise. Die Bühne von Karoly Risz ist ein Schreibtischszenario. Mal steht nur einer da. Dann türmen sie sich zu Schreibtischgebirgen und Gerüsten, auf, von denen die Spieler immer wieder in gefährliche Abgründe blicken. Der Abend ist nicht ohne Spannung, weil Köhler den Text very well als das well-made-Kriminal- und Moralstück inszeniert, das er schon bei Horváth ist. So richtig gepackt aber wird man trotzdem nicht.

Jugend ohne Gott
von Ödön von Horváth
Regie: Tilmann Köhler, Bühne: Karoly Risz, Kostüme: Susanne Uhl, Musik: Jörg-Martin Wagner, Gitarre: Thonaci, Dramaturgie: Meike Schmitz. Mit: Christoph Franken, Thorsten Hierse, Anton von Lucke, Helmut Moshammer, Harry Schäfer, Maike Schmidt, Barbara Schnitzler sowie Mitglieder des "Knabenchor Berlin".
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.deutschestheater.de

 


Kritikenrundschau

Einen "bemerkenswert konzentrierten Abend" hat Dirk Pilz für die Berliner Zeitung (20.12.2013) im DT erlebt. Tilmann Köhler sei ein "Regisseur, der mehr auf seine Schauspieler als auf Tricks und Einfälle vertraut". Seine Akteure verwandelten sich im Handumdrehen. "Und sie stellen diese Verwandlungsmomente immer zugleich aus und lassen sie doch so aussehen, als ereigneten sie sich hinter ihrem Rücken." Darin liege der "entscheidende Inszenierungsdreh dieses Abends: Horváths Text ist eine Geschichte darüber, wie sich Menschen unter der Hand verwandeln, wie sie werden, was sie nicht sein wollten, was sie dann aber umso entschiedener sind. Für Köhler wird daraus eine Erzählung über Menschen in Sozialgeflechten, für die ein Ton- oder Schrittwechsel reicht, um als das kenntlich zu werden, was sie immer sind: verwandlungsfähig, verführungsanfällig, gefährdet."

Als "beklemmende Parabel von heute" erzähle Tilmann Köhler Horváths "Jugend ohne Gott", schreibt Andreas Schäfer im Tagesspiegel (20.12.2013). "Neugier" und "analytische Sachlichkeit" präge diese Romanadaption. "Es ist nicht einfach, die Qualität dieses Abends in Worte zu fassen, weil Tilmann Köhlers Arbeit vor allem im Wegnehmen besteht. Er hilft den Schauspielern, sich unverstellt zu zeigen, obwohl der permanente Figurenwechsel das Gestellte, den Spielcharakter unterstreicht". Es sei „ein ernstes Spiel. Hier wird etwas vorgeführt, um dahinter zu kommen. Hinter die Teufelskreise des Misstrauens etwa oder die Kettenreaktionen der Furcht."

Köhler zeige "mit minimalistischen Mitteln eine bemerkenswert sprachlich-spielerische Kraft", sagt Peter Hans Göpfert im Kulturradio des rbb (19.12.2013). Der Regisseur "dekoriert kein Milieu, er pinselt keine Atmosphäre. Mit nur wenigen Spielern (...), mit schnellen Rollensprüngen, dem raschen Ineinander der Szenen wird er auch der Erzählweise Horváths, dem Wechsel von Dialog und Erzählung, auch den inneren Monologen gerecht."

Kommentare  
Jugend ohne Gott, Berlin: Was passiert beim N-Wort?
Ja, danke für diese Kritik.

Da kann ich im allgemeinen mitgehen.

Im Besonderen fehlt mir dann doch sehr die Haltung zu dem schwarzen Musiker oder die Haltung des schwarzen Musikers zum Text.
Was bedeutet es, wenn da auf der Bühne gesagt wird, dass sogenannte "Neger" kein Recht auf Leben hätten?
Der Blick wandert auf den Musiker. Der bleibt unbewegt. Soll das Publikum sich dazu verhalten? Dafür macht der Abend zu wenig auf und bleibt zu sehr in seiner Geschichte, die vorbei ist und die wir an uns vorbeiziehen lassen können.

Die drei jungen Studierenden der Ernst Busch verkörpern diese kalte Jugend hervorragend. Schmale, direkte und schneidende Töne der ohne eigene Schuld bösen Figuren erinnern an die Bürgerpflicht, dagegen Position beziehen zu müssen.
Und so verlässt man diesen über weite Teile harmlosen Abend doch noch mit leise nagenden Zweifeln in der Brust...
Jugend ohne Gott, Berlin: Keine Haltung
Handwerklich ist dem Abend nichts vorzuwerfen. Und doch lässt er seltsam kalt. Das hat mit der durchaus intendierten Kälte, mit der Köhler agieren und sprechen lässt und die auch die elaborierte Lichtregie auszeichnet, zu tun, mehr jedoch mit der Unentschlossenheit der Inszenierung. Köhler findet keine Haltung zu diesem Stoff. Jenseits des programmatischen Statements zu Beginn, liegt sein Fokus auf einer möglichst spannungsreichen Nacherzählung, als um Inhalte, eine Gesellschaftsanalyse etwa, eine Betrachtung massenpsychologischer Prozesse oder einer Anatomie des Widerstands. Trocken und nicht selten in didaktischem Ton werden die großen Debatten des Romans – über Gott, Menschlichkeit und Würde – geführt und bleiben stets Behauptung. Dem Ensemble, je zur Hälfte bestehend aus DT-Schauspiekern und Studierenden der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, ist dies nicht anzulasten, insbesondere Busch-Student Anton von Lucke beeindruckt mit seinem subtilen Spiel zwischen Unschuld und Dämonie. Nein, dass der Abend im Beliebigen bleibt, liegt primär an Tilmann Köhlers Regie, welche das Versprechen des Anfangs, Stellung zur Gegenwart zu beziehen, nicht einlöst. Was bleibt, ist äußerst gut gemachtes und weitgehend nichtssagendes Theater.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2013/12/19/zwischen-den-tischen/
Jugend ohne Gott, Berlin: sinnlose Kategorie
"gut gemachtes Theater" ist nicht nichtssagend, nichtssagendes Theater ist schlecht gemachtes Theater - oder gehört die augenscheinlich werdende geistige Haltung nicht unter den Begriff des Gutgemachten, dann aber ist das Gutgemachte eine sinnlose Kategorie.
Jugend ohne Gott, Berlin: Homo homini Deus
Dirk Pilz' Überschrift in der Berliner Zeitung verstehe ich irgendwie nicht: "Wir sind gefährdet". Das klingt leider wie "Wir sind Papst". Och nö, wir sind Herzen, wir sind Kinder der Liebe. Oder so. Immer diese Apokalyptiker. Die Stückauswahl des DT wird auch immer fragwürdiger. Da hilft Feuerbach: "Homo homini Deus est." Oder auch Georges Bernanos: "Gott hat keine anderen Hände als die unseren."
Jugend ohne Gott, Berlin: lesen kann ich allein
den 4köpfigen Knabenchor fand ich musikalisch schön, nahm ich symbolisch als zeichen und zeigefinger wahr. er hat mich daraufhin ob der ausgestellten Unschuld in den zwei nummern zu großen hemden verärgert. ich wohnte einem behauptet sachlich analytischem Requiem bei ohne dass dies zu Konsequenzen jenseits der erzählebene, also auf der darstellungsebene führte. lesen kann ich allein. was die darstellerische Konsequenz ist, wäre doch Sache des Theaters um sich von Literatur zu emanzipieren. so beginn der abend mit einem projezierten leitfaden, der mich moralisch auf die richtige schiene setzen will und meine fantasie sofort lenkend in den griff kriegen will. der Lehrer, dessen geschichte verhandelt werden soll, geht unverändert durch den abend, so wie er gekommen, so geht er auch nach Afrika, nichts macht wirklich etwas mit ihm. selbst der soziale Tod geht spurlos an ihm vorrüber. der Darsteller des Lehrers verweigert uns das Schauspiel. also sagt sich der Regisseur: Erfahrungen verändern den Menschen nicht, Afrika ist nicht so schlimm, soziale Tode sind eh alltägliche Praxis. aber warum dann das stück spielen. welche Totalität droht uns denn zu zermürben? etwa die Gottlosigkeit? das ist ja gottlos.
Jugend ohne Gott, Berlin: Club der toten Dichter
@ kappes: Und diese Szene, wo der Knabenchor auf den Tischen steht, erinnert mich nicht an Gott, sondern vielmehr an Peter Weirs "Club der toten Dichter". Der geht allerdings in eine ganz andere Richtung als Horváths bzw. Köhlers Vorstellung von Gott (obgleich auch Köhler im rbb-Interview sagt, dass es ihm eher um den Glauben als innere Orientierung gehe). Die Schüler im "Club der toten Dichter" treffen sich in einer ehemaligen Indianer-Höhle im Wald zur (geheimen und verbotenen) Würdigung leidenschaftlicher Poesie, z.B. der von Thoreau ("Walden"): "Ich ging in die Wälder, weil ich bewusst leben wollte./Ich wollte das Dasein auskosten. Ich wollte das Mark des Lebens einsaugen!/Und alles fortwerfen, das kein Leben barg, um nicht an meinem Todestag/Innezuwerden, dass ich nie gelebt hatte.“ The universe is made of poems!
Jugend ohne Gott, Berlin: well made play
@3: Sagt Ihnen der Begriff "well-made play" etwas. Exakt so ist das gemeint. Gutes Handwerk ohne viel Aussage.
Jugend ohne Gott, Berlin: Blödsinn!
"Gutes Handwerk ohne viel Aussage" - selten so einen Blödsinn gehört, Herr Krieger! Was ist denn mit dem Text? Und stehen sich Handwerk und Aussage ausschließend gegenüber? Kein Handwerk uns viel Aussage müsste dann ja ihre bevorzugte Theaterform sein!
Jugend ohne Gott, Berlin: lose Fäden und Nikotin
Das zweite Problem dieses Abends ist, dass Tilmann Köhler ein klarer Zugriff auf das Stück fehlt. Dies ließen auch schon die Texte im Programmheft befürchten, die recht willkürlich zusammengesampelt erscheinen. Das Stück beginnt mit einer Bühnen-Projektion eines Zitats des Sozialwissenschaftlers Harald Welzer aus seinem viel diskutierten neuen Buch Selbst denken. Anleitung zum Widerstand, der die Zerstörung sozialer Bindungen in unserer Zeit beklagt. Ein interessanter Ansatz, aber diese steile These steht dann einfach nur im Raum, an keiner Stelle wird darauf Bezug genommen. Auch die anderen Regieeinfälle sind nicht recht überzeugend: die Mitglieder des Knabenchors Berlin singen lateinische, religiöse Lieder, der dunkelhäutige deutsch-brasilianische Thonací untermalt viele Szenen auf der Gitarre mit Afro Jazz. Man ahnt, dass sein Auftritt eine Reaktion auf die Debatte zwischen den Lehrern und seinen von NS-Ideologie deformierten Schülern im Stück ist, ob "Neger auch Menschen" sind. Aber auch hier gilt: Die losen Fäden werden nicht stimmig verknüpft und miteinander in Beziehung gesetzt. Ärgerlich ist schließlich der Nikotingestank, der in zwei Szenen in die Zuschauerreihen nach oben zieht. http://www.e-politik.de/kulturblog/archives/277-Jugend-ohne-Gott-Anklage-gegen-Nazi-Mitlaeufer.html
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