Die Tragödie einer Farce

von Sascha Westphal

Bonn, 18. Dezember 2013. König Kohl verlassen auf freiem Feld oder Karl Marx hatte tatsächlich recht – was er einst über die großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen geschrieben hat, gilt genauso für die Kunst und das Theater: Auch sie ereignen sich zweimal. Das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Die hatte Marx damals noch als lumpig bezeichnet. Doch darauf lässt sich heute, in oder doch schon nach den Zeiten von Postmoderne und Posthistoire, gut verzichten. Zumindest hat in dieser Textfläche von Nolte Decar, die Leitartikel ebenso plündert wie Klatschspalten, Literaturgeschichte und Pophistorie, eher die Tragödie etwas Lumpiges an sich, während sich die Farce zu ungeahnter Größe erhebt.

Zwischen genialem Schwachsinn und banalem Tiefsinn

In "Helmut Kohl läuft durch Bonn" ist Kohl König Lear, seine Frau Hannelore allerdings die Lady Macbeth. Und aus den drei Töchtern des Lear sind drei Söhne geworden, Helmut, Helmut und Helmut Zwei. Die ersten beiden sagen natürlich immer das, was der Alte hören will, während der dritte einen fatalen Hang zur Wahrheit hat und dafür mit der Herrschaft über das Sauerland bestraft wird. Seine Brüder bekommen West- und Ostdeutschland, in denen es aber keinen Platz mehr für den ewigen Kanzler gibt.

helmutkohl1 560  thilobeu uIrgendwie sind hier alle Helmut Kohl © Thilo Beu

Die "Lear"-Paraphrase, diese zwischen genialem Schwachsinn und banalem Tiefsinn hin und her tänzelnde Shakespeare-Überschreibung, ist so etwas wie der rote Faden, der sich durch diese von sketchartigen Dialogszenen und abstrusen Monologen durchschossene Fläche angedeuteter Erzählungen und hingeworfener Bilder zieht. Vielleicht hätte sie auch die Folie für die Umsetzung des fast schon unmöglichen Theaters liefern können. Eine Trash-Historie. Tragödien-Pop, der in einem wilden Ubu-Spektakel endet, in dem Helmut Zwei (Samuel Braun) vor den Augen seines vor Entsetzen beeindruckten Vaters (Sören Wunderlich) Freunde wie Feinde ziellos über die Klinge springen lässt.

Listige Nonsense-Reihungen

Nur scheint diese Wildheit Regisseur Markus Heinzelmann gänzlich fern zu sein. Er ignoriert die Zumutung, die in diesem Stück liegt, ebenso wie die Lust an der Provokation, mit der das Autoren-Duo Jakob Nolte und Michel Decar dem Theater begegnet. Seine Uraufführung ebnet alles ein, die maßlosen "Oder"-Textpartituren und listigen Nonsense-Reihungen à la "oder WIE HELMUT KOHL IN WUPPERTAL DIE WUPPER STAHL oder Der Kolibri aus Mainz oder BITTE, BITTE NOCH VIER JAHRE" genauso wie die zitatengesättigten Dialogpassagen, die Francis Ford Coppolas "Paten"-Trilogie genauso plündern wie Shakespeare.

Markus Heinzelmann reiht einfach alles aneinander, so wie es gerade kommt. Die rein die Imagination und die Bühne fordernden epischen Teile lässt er seine sechs Performer brav aufsagen. Gelegentlich darf einer der anderen ins Wort fallen, aber das war es dann auch schon. Die Dialoge bricht er endgültig auf Fernsehsketch-Niveau herunter oder lässt sie in einem künstlichen, aber keineswegs kunstvollen Gleichton vor sich hin plätschern, während die großen Monologe, etwa Kohls ungeheuerlicher Vereinigungsrausch, der keine Nation unberührt lässt, oft chorisch vorgetragen werden. Die Mittel der Inszenierung erweisen sich dabei als genauso beliebig und belanglos wie der Raum, den Christoph Ernst ihr geschaffen hat.

Scheußliche Butterdose

Weiße Wände, rote Pappsäulen und ein gräulicher braungemusterter PVC-Boden beschwören 70er Jahre-Tristesse, aber nicht mit diesem grandiosen Gestus, den Anna Viebrocks Bühnenbilder für Christoph Marthaler haben. Hier in der Werkstatt hinter dem Bonner Opernhaus wirkt alles nur klein und – nun kommt Marx noch einmal zu Ehren – lumpig: das Schlagzeug hinten rechts, der Tisch mit der Videokamera schräg versetzt daneben, die alte Couch auf der linken Seite und der Tisch mit der scheußlichen Butterdose. Das ist alles irgendwie zweckmäßig, vor allem der Boden, der sich schnell wieder sauber wischen lässt, wenn mal wieder ein paar Eier, vorzugsweise im Gesicht von Sören Wunderlich, zerdrückt wurden. Doch derart abgeschmackt war diese "Republik vor unserer Zeit", auf deren Glanz und Elend Nolte Decar zurückblicken, trotz allem nicht.

Die Trostlosigkeit des Raums und die Mutlosigkeit der Inszenierung liegen schwer auf dem so leichten und verspielten, dabei auch so tiefgründigen und hellsichtigen Text, der Heiner Müller und Helge Schneider zusammen denkt. Aber ganz erdrücken können sie ihn nicht, zumal sein Esprit und sein Scharfsinn immer mal wieder aufflackern. Samuel Brauns Franz Josef Strauß-Imitation ist mehr als nur Kabarett. Für Momente scheint ein wahnwitziges Volksstück durch. Und Mareike Hein und Julia Keiling gelingt es in ihrem gemeinsamen Monolog die Tragödie in der Farce zu entdecken. Als Hannelore Kohl ihre Einsamkeit beklagt, erinnert diese Lady Macbeth bei Hein und Keiling mit einem Mal an das von allen verlassene Mädchen aus Büchners Märchen der Großmutter im "Woyzeck".

 

Helmut Kohl läuft durch Bonn (UA)
von Nolte Decar
Regie: Markus Heinzelmann, Bühne und Kostüme: Christoph Ernst, Licht: Lothar Krüger, Dramaturgie: David Schliesing.
Mit: Bernd Braun, Samuel Braun, Mareike Hein, Robert Höller, Julia Keiling, Sören Wunderlich.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.theater-bonn.de



Kritikenrundschau

Genervt ist der Kritiker unter dem Kürzel aro (Andreas Rossmann) in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (20.12.2013) von diesem nur vermeintlich auf Bonn und Helmut Kohl bezogenen Abend: Hier sei "die Geburt einer neuen Gattung" zu erleben: "das Google-Drama. Nolte Decar tragen und trashen zusammen, was das Internet zwischen 'Kolibri aus Mainz' und 'Citizen Kohl', 'Bonn Corleone' und 'Kohl lutscht Bonn Bonn' an Kalauern und Kaspereien, Jelinekigkeiten und Heinermüllereien hergibt." Und dem Regisseur, der ausdrücklich ungenannt bleibt, "fällt dazu nichts anderes ein, als das Stück, das keines ist, auf einer Studentensimultanbühne im Achtziger-Jahre-Retrolook zwischen Schlagzeug und Sofasitzecke als zwei Stunden lang weilendes Kleinkunstklimbim zu arrangieren."

"Man sieht Nolte Decar förmlich vor sich, wie sie listig lächelnd solche Einfälle ausbrüten", schriebt Dietmar Kanthak in der Kölnischen Rundschau (20.12.2013) und im Bonner General-Anzeiger (20.12.2013, Link) über ein "Theaterkarussell", das sich zäh und "vornehmlich im Leerlauf" drehe. Diese Uraufführung "kreist vornehmlich um sich selbst. Regisseur Markus Heinzelmann und sein Ensemble setzen Noltes und Decars selbstverliebte, assoziationswütige Kohl-Paraphrase in ein albernes, aberwitziges, anarchisches, mal abgehobenes, mal abgefahrenes Spektakel um."

Das Stück sei vor allem Literatursatire, und "in dieser Hinsicht ist der Text schamlos albern und ziemlich gut", schreibt Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (21.12.2013). Was in der Literatur Relevanz beanspruche, komme irgendwie vor und werde hemmungslos durch den Fleischwolf gedreht. Doch szenisch gebe die Vorlage nicht so viel her, wie man beim Lesen meinen könnte. "Regisseur Markus Heinzelmann wechselt seine Strategie zwischen dem eher biederen Ausführen von 'Sketchen' und dem hörspielmäßigen Vortragen von Text."

 

Kommentare  
Helmut Kohl läuft..., Bonn: ideenlos
Entscheidung aber ich sah gestern einen tollen Text, eine vollkommen ideenlose Inszenierung und wirklich bis auf wenige Ausnahmen, schrecklich tönende Stadttheaterschauspieler. Also Bonner Theatergänger bin ich besonders enttäuscht von den neuen jungen Schauspielern. Keiner der hier gesehenen hat das Potenzial sich ins Gedächtnis zuspielen. Gerade an einem solchen Abend sollte das möglich sein.
Helmut Kohl..., Bonn: Beeindruckt von jungen Leuten
Ach, Kommentator/-in Nummer 1,
wo waren denn da "schrecklich tönende Stadttheaterschauspieler"? Ich bin auch ein Bonner Theatergänger, aktuell ein bisschen häufiger als zu Weises Zeiten. Und ich bin ganz beeindruckt von den vielen jungen Leuten, die die neue Leitung da ausgesucht hat und die alle spielen können.
Fahren Sie mal nach Düsseldorf oder neuerdings auch nach Köln, dann wissen Sie Ihr Ensemble dort vielleicht zu schätzen.
Helmut Kohl..., Bonn: Wettrinken der Theater-AG
Schund
Weder mit Helmut Kohl noch mit Bonn hat das Stück etwas zu tun, wie der neckisch-verführerische Titel suggeriert. Es hätte bei minimalen Änderungen ebenso „Konrad Adenauer verkauft eine Rose“ oder „Gerhard Schröder trifft seine erste Frau“ heißen können. Wenn die Autoren sich überhaupt ernsthaft auf Helmut Kohl einlassen haben wollen, dann war das eine Anmaßung. Vielleicht haben sie das selbst gemerkt und daher für das Honorar einen aufgeblasenen Unsinn-Text aus dem Zitaten-Lexikon abgeliefert. Und schon dessen redundante Plattheiten „oder“, „oder“, „oder“ alternativen Tiefsinn täuschende Hohlheit werden zu eine Zumutung für die Zuhörer. Zum Ausdruck bringt das schließlich die einfallslose Inszenierung, deren spannendste Höhepunkt das Zerschlagen von zehn Eiern auf dem Bühnenboden oder an den Köpfen der Schauspieler und das Wetttrinken von zwei Litern Wasser sind. Von der Theater-AG auf einer gymnasialen Schulabschlussfeier könnte man eine solche Aufführung erwarten. Die Leitung eines städtischen Schauspiels – zumal in Bonn - sollte solchen Schund nicht abnehmen.
Paul Tostorf
Helmut Kohl..., Bonn: Das Beste seit langem
Seltsam, ich sah einen kongenialen Abend voller Spiellust, Understatement und charmanter Provokation. Ein beeindruckendes Ensemble - mutig und endlich mal kein pures Stadttheater. Für mich - das Beste was ich in letzter Zeit in Bonn sehen konnte. Absolut empfehlenswert. Zu Recht der begeisterte Applaus.
Helmut Kohl..., Bonn: Warum der Personenkult?
Warum so ein Personenkult auf dem Theater? Worin da das relevante oder aber dramatische liegt, das habe ich nicht verstanden..
Helmut Kohl..., Bonn: Großartige Folge
Gerade das Glück, dass jemand wie Markus Heinzelmann in einem öffentlichen Raum einen Abend zu Helmut Kohl gestalten kann, ist eine großartige Folge aus der Überwindung der Bonner Republik, über die ich mich nicht oft genug freuen kann.
Helmut Kohl..., Bonn: bleibe dabei
(...)
Ich bleibe dabei. Schwacher abend. Schwache Schauspieler. Es gibt starke abende in bonn wie Karl und Rosa oder leonce und lena. Aber dieser bleibt enttäuschend.
Helmut Kohl, Bonn: Reaktion des Publikums einbeziehen
Ohne, dass ich es gesehen habe: Ist doch mal wieder interessant, dass man erst in Eintrag 4 erfährt, dass es begeisterten Applaus gegeben hat, wenn man den Rest liest, hat man den Eindruck, als sei völlig tote Hose gewesen. Ist aber nix Neues: Zuviele Kritiken lassen aus, wie es dem Publikum gefallen hat. Ein bisschen mehr "Ich fand..., aber die Leute fanden..." finde ich wünschenswert. Also, dass das Publikum mal erfährt, wie das Publikum es fand. Nein, ich meine keine Applausmessungen. Nur die Erwähnung der Fairness halber.
Helmut Kohl..., Bonn: Claque
Liebe Helga,
ist Ihnen nicht schon einmal aufgefallen, dass in der Premiere ein gut Teil der Besucher aus der Claque aus dem jeweiligen Haus sowie der Freunde und Bekannten von Regisseur und Schauspielern, etc. sitzen? Im übrigen sagt das Klatschen am Ende einer Schauspielaufführung nichts. Wer würde den Schauspielern den Beifall versagen, wenn sie sich 100 Minuten lang mit einem solchen miserablen Stück in einer solch miserablen Inszenierung herum gequält haben. Haben Sie schon einmal erlebt, dass nicht geklascht worden ist oder dass die Besucher nach Ihrer Meinung gefragt worden sind?
Helmut Kohl..., Bonn: Entlassungsklatschen
Das Klatschen hat zumindest die Aufgabe, die Schauspieler nach dem Spiel, aus den Rollen heraus, in die eigene Biografie zu entlassen.
Helmut Kohl..., Bonn: selber gucken
Ja, es hat begeisterten Applaus gegeben nach der Premiere! Sauertöpfisch-humorlos saßen in erster Linie die Kritiker herum. Die Zwischenüberschrift "genialer Schwachsinn und banaler Tiefsinn" fängt eine Qualität des Abends ein. Die Inszenierung reicht dem Stück das Wasser (und umgekehrt). Ist doch prima. Dazu brauch ich kein Anna-Viehbrock-Bühnenbild. In der Kohlzeit traten aufgeblähte staatstragende Phrasen gerne in trauter Geschwisterlichkeit mit purem Schwachsinn und entwaffnender Banalität auf. Die zeitgenössischen Zeitungsüberschriften liefern ein schönes Bild der Zeit. Warum das nicht benutzen und collagieren? Empfehlung: Hingehen und selber gucken!
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