Zwischen farbigen Schaufensterpuppen

von Sabine Leucht 

München, 20. Dezember 2013. Da haben wir es wieder: das Schauobjekt. Gerade hat man in München das Problem diskutiert, das Schauspieler mit anderer Hautfarbe oder vermeintlich sichtbarer fremder Herkunft mit dem Theater haben (oder das Theater mit ihrem klischeebefreiten Einsatz), da kommt Luk Perceval in die Stadt und castet derer drei, damit sie in seiner kaum dramatisierten Version von J. M. Coetzees Roman "Schande" die Schwarzen spielen: Die Nutte, die sich der liebeskomplikationsüberdrüssige Kommunikationswissenschaftler David Lurie einmal wöchentlich zur Triebabfuhr leistet, den Vergewaltiger, der Luries Tochter Lucy auf ihrer Farm überfällt – und den Nachbarn Petrus, der Lucy den Schutzraum der Ehe anbietet für das Land, das die weiße Frau mit einer Hundepension, ein wenig Landwirtschaft und großer Bereitschaft zur Demut zu ihrer Zuflucht machen wollte.

Schuld-und-Sühne-Variation

Lorna Ishema, Aaron Amoatey und Felix Burleson sind keine schlechten Schauspieler, aber an den Münchner Kammerspielen dazu verdammt, in gebrochenem Englisch die "Fremden", den "Boy" oder das willige Mädchen zu spielen. Burleson, der Darsteller des Petrus, stammt original aus Percevals vier Jahre alter "Schande"-Inszenierung mit der Toneelgroep Amsterdam. Ebenso wie offenbar das Gros der farbigen Schaufensterpuppen, die nun auch in München wieder die Kulisse geben für die Schuld- und Sühne-Variation des Literaturnobelpreisträgers aus Südafrika: Große, kleine, junge, alte, Männlein und Weiblein in luftig bunten Freizeitklamotten, aber mit ernsten Gesichtern frontal zum Zuschauerraum hin ausgerichtet.

Schande2 560 JulianRoeder xInmitten exotischer Kulisse: "Schande" in München © Julian Röder

Recycling eigener Ideen darf es in einem Künstlerleben durchaus geben. Und der Belgier ist ein apartheidkritischer Kenner der südafrikanischen Verhältnisse. Doch die auf den ersten Blick faszinierende Front der Puppen, aus der die Schauspieler manchmal wie aus dem Nichts heraustreten, hinterlässt ein ungutes Gefühl: Die einst unterdrückte und danach noch immer arme und gewaltbereite Mehrheit eines Landes dient nur als Staffage, als leblose oder in ein Klischee gepresste exotische Kulisse für die Geschichte derer, um die es hier eigentlich geht: Und die sind weiß. 

Weiß wie Lurie, der nach der herzlosen Affäre mit einer Studentin ein Schuldeingeständnis verweigert. Weiß wie Lucy, die als einzige Weiße in einer ländlichen Gemeinschaft zu überleben versucht und dafür bereit ist, noch für die Sünden aller anderen mitzubüßen.

Masochistisches Gewissen

Schon das Buch, für das Coetzee 1999 den Booker Prize bekam, nervt bisweilen mit seinen Geschlechterstereotypen, seiner manchmal aufdringlichen (christlichen) Symbolik und dem Dauerappell an das schlechte Gewissen des weißen Mannes. Aber es ist durchweg spannend zu lesen. Umso erstaunlicher deshalb, wie sehr sich die zwei Stunden in die Länge ziehen, in denen Stephan Bissmeier und Brigitte Hobmeier durch den Figurenpark huschen wie durch ein Labyrinth oder rampennah umeinander schleichen.

schande5 560 julianroeder uBarbara Dussler und Stephan Bissmeier © Julian Röder

Auf den "in Schande" gefallenen Professor und seine geschändete Tochter, die sich selbst in ihrer vermuteten sexuellen Präferenz vom Vater zu befreien versucht, ist der Abend zugeschnitten. Und während Hobmeier vor allem Lucies Lachern gerne ein paar Schnörkel zu viel verleiht, ist der zwischen Arroganz und Schluffigkeit mäandernde Bissmeier die Idealbesetzung für den eingebildeten Intellektuellen, der – an seiner Ukulele herumzupfend – von neuem Glanz als Kammeropernkomponist träumt. Ein packender Erzähler aber ist Bissmeier nicht. Den bräuchte der Text jedoch dringend, der in der leicht umgestellten gekürzten Fassung von Josse De Pauw sehr episch bleibt.

Erschöpfte Phantasie

Mit der Verhandlung von Luries Schicksal vor dem akademischen Tribunal, in dem die Schicksalswächter allesamt im Zuschauerraum verteilte Frauen sind, beginnt Percevals Inszenierung. So schaut man praktisch zunächst als Richter auf die Bühne. Den Rest der Zeit schaut die Bühne mit hellen Augen in dunklen Gesichtern zurück. Vielleicht auch sie anklagend, aber in jedem Fall ernst. Und damit scheint Percevals szenische Phantasie für diesmal schon erschöpft.

Während Steve Jacobs' Verfilmung des Stoffes (mit John Malkovich in der Hauptrolle) das von Lucies Freundin Bev mit viel Herz betriebene Einschläfern streunender Hunde schmerzhaft ausschlachtet, gerade weil es in der Geschichte eine besondere Mensch-Hund-Beziehung gibt, erfährt man hier von dieser Beziehung erst, als es schon fast zu spät ist. Und die einzige Szene, die einem ein wenig ans Herz greift, ist das Versenken der Ukulele im Hundeleichensack: Der Traum von einem höheren Leben ist somit auch für Lurie gestorben. 

Schande
nach J. M. Coetzee
Dramatisierung von Josse De Pauw
Regie: Luk Perceval, Bühne: Katrin Brack, Kostüme: Ilse Vandenbussche, Pascale Martin, Licht: Mark Van Denesse, Dramaturgie: Jeroen Versteele.
Mit: Aaron Amoatey, Marc Benjamin, Stephan Bissmeier, Felix Burleson, Barbara Dussler, Brigitte Hobmeier, Lorna Ishema, Angelika Krautzberger, Annette Paulmann, Wolfgang Pregler.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Mehr zu Coetzees Schande? Für die Wiener Festwochen 2012 adaptierte Kornél Mundruczó den Roman.


Kritikenrundschau

Einen "starken, im besten Sinne aufklärerischen Theaterabend" hat Christopher Schmidt von der Süddeutschen Zeitung (23.12.2013) in den Kammerspielen erlebt. Die Besetzung der durch den Professor Lurie verführten Studentin mit einer weißen Schauspielerin unterlaufe die noch in der Steve-Jacobs-Verfilmung dargebotene "sehr vordergründige und bequeme Lesart, derzufolge der spätere Überfall schwarzer Jugendlicher auf die Farm von Lucy, der Tochter des Professors, als Umkehrgeschichte zu deuten ist: Sündenfall und Nemesis." Perceval habe den Roman "genau" gelesen. "Zeichenhaft" sei seine "Inszenierung, deren Textfluten Bissmeier mit mürber Nonchalance teilt, sparsame Akzente setzend".

Für Wolfgang Höbel von Spiegel Online (23.12.2013) ist es "reichlich mühsam, zwei Stunden lang zwischen leeren Schaufensterpuppenvisagen nach ein paar (oft großartigen) lebendigen Schauspielern Ausschau zu halten." Perceval beschränke sich "auf eine schöne, strenge Kunstübung: ein Gerichtskammerspiel, in dem nur die Beweisaufnahme zählt, weil es ein finales Urteil kaum je geben kann. Zentrales Thema der Verhandlung ist die Frage, warum wir in einer Welt leben müssen, in der eine "systematische Grausamkeit", so der Schriftsteller Coetzee, die Grundbedingung allen Lebens ist."

Perceval sei es "gelungen, den Stil des Südafrikaners in die Sprache des Theaters zu übersetzen" und dabei "einiges von der Substanz dieses Buchs auf der Bühne" zu entfalten, schreibt Michael Schleicher im Münchner Merkur (23.12.2013). "Freilich, der Abend braucht etwas (zu viel) Zeit, um in die Spur zu kommen. Gerade dem Auftakt, als es um Luries Verfehlungen an der Universität geht, hätte eine Straffung gutgetan. (....) Im Gegensatz zu den Themen sind Inszenierung wie auch Roman beinahe provozierend unaufgeregt. Zurückgenommen wird auf der Bühne agiert, die Konzentration des Publikums somit ganz auf den Subtext gelenkt."

Gabrielle Lorenz widmet sich in ihrer Kritik für die Abendzeitung (23.12.2013) vor allem den "bravourösen Darstellern" dieser "sehr epischen Inszenierung": Stephan Bissmeier zeige "die intellektuelle Überheblichkeit" von Coetzees Literaturprofessor "leise und unaufgeregt", behalte "auch als Erzähler den ruhigen Ton, der die Inszenierung bestimmt." Felix Burleson sei "hochpräsent", Aaron Amoatey lege "einen grausig-furiosen Wutausbruch hin", und Brigitte Hobmeiers Lucy sei "anfangs eine verspielte, kindliche Tochter", die dann zur "tränenfeuchten Büßerin" werde.

"Die Kraft eines Bildes, die Präsenz eines Schauspielers und das Verstörungspotenzial eines Romans: Luk Perceval hat daraus großes Theater gemacht." So resümiert Sven Ricklefs für "Kultur heute" auf Deutschlandfunk (21.12.2013). Die "eindringliche Theatralisierung" des Coetzees-Roman sei vor allem ein Abend des Schauspielers Stephan Bissmeier. "Es ist, als habe sich Regisseur Luk Perceval, dessen herausfordernde Inszenierungen durchaus auch einmal aggressiv daherkommen können, diesmal ganz auf diesen leisen und stillen Schauspieler eingelassen und seinen tastenden und zögernden Duktus zum Rhythmus des Abends gemacht."

Für Christoph Leibold von "Fazit" auf Deutschlandradio Kultur (20.12.2013) ist es kein "Abend, der sofort flammende Begeisterung entfacht. Wohl aber einer, der durch Reibung Funken schlägt." Die Inszenierung "ist von einer Art abgeklärten Ruhe, durchwirkt von seltenen, dann aber umso heftigeren Ausbrüchen." Sie gehe einem "in ihrer unspektakulären, nie reißerischen, fast spröden Eigenart sehr nahe".

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