Leerer Raum ohne Traum    

von Kaa Linder

Basel, 21. Dezember 2013. Am Bahnhof Basel um sieben Uhr abends stehen Menschen in einem großen Halbkreis und lauschen. Engelsgesang füllt die kalte Halle. Vor einer Plakatwand steht ein Junge, die Wollmütze mit Bommel tief ins Gesicht gezogen. Ganz alleine steht er da und singt. Selbstvergessen und ambitionslos. Als hätte er eine Wette abgeschlossen, dass er auf diese Weise genug Kleingeld zusammenbringt, um sich eine Playstation zu kaufen. Seine Stimme klingt glockenrein, manchmal verpasst er die Töne. Doch das ist egal. Das Staunen auf den Gesichtern der Passanten hält an.

dasweissevomei1 560 simon hallstroem uFamilienaufstellung mit Nasenbluten © Simon HallströmEinen Effekt dieser Art erwartet man von einem Theaterabend in der Regie Christoph Marthalers. Umso mehr, als der rätselhafte Programmtext die möglichen Kombinationen des menschlichen Genoms, also eine DNA, bestehend aus den Repräsentanten A, C, G und T auflistet. Angekündigt ist ein "süßes Etwas", denn die "Île flottante" ist eine französische Nachspeise aus Puderzucker und luftigem Eiweiß – frisch wie der erste Schnee.

Komplizierte Familienaufstellung

An Frische lässt Marthalers Bühnenpersonal von Anfang an zu wünschen übrig unter dicken Puderschichten, grau gesprayten Toupets und Perücken. Steif wie Wachsfiguren marschieren die Mitglieder von zwei Familien, die unterschiedlicher nicht sein könnten, vor den roten Vorhang. Es ist die gehobene Arztfamilie Malingear und die Familie des ehemaligen Zuckerbäckers Ratinois. Sein Sohn Frédéric (Raphael Clamer), angehender Anwalt mit Affinität zum Klavierspiel, unterrichtet die Arzttochter Emmeline (Carina Braunschmidt) täglich in der musischen Kunst, hat sich verguckt und will sie heiraten. Das ist kompliziert, weil die Familie Malingear ein gediegenes Französisch spricht, die Ratinois ein deutsches Patois und alle Bemühungen, das eine für die anderen zu übersetzen mehr Verwirrung stiftet als Klärung herbeiführt.

Präpariert für die Nachwelt

In einem Raum, in dem die Zeit vor Ewigkeiten stehen geblieben ist, türmen sich Nippes und Vasen auf Salontischchen, die Lampen hängen schief, die Tapete blättert von den Wänden (Bühne und Kostüme: Anna Viebrock). Riesige Gemälde, exotische Masken, ein feldgrüner Tresor und eine mächtiger Schreibtisch geben dem Interieur den Charme einer Brockenstube, in welcher selbst der Staub zum Souvenir geronnen scheint. Friedelind heißt das Ungemach in den Gemächern voller Spiegel, die keine Spiegel sind, sondern leere Bilderrahmen. Fenster in eine Zukunft, die nie stattfinden wird.

Die Dame im weinroten Samtkleid (Catriona Guggenbühl) ist neben der Spur. Das A part, das Beiseitesprechen, wie es in Komödien und Possen als Stilmittel eingesetzt wird, hat bei ihr zu einem dauerhaft physischen Reflex, also einem Tick, geführt. Ihre kanarienblauen Augenlider schließen sich nie. Eine Schlafwandlerin ist Friedelind, die herumschleicht und darüber sinniert, ob sie das Haustier des Ozeans sei oder umgekehrt. Und Haustiere gibt es im Maison Malingear jede Menge. Schildkröten, Fasane und Hermeline, Marder und Steinböcke – alle tot und ausgestopft, präpariert für die Nachwelt.

Verlobung zur Geisterstunde

Monsieur Malingear (Marc Bodnar) rühmt am Pult thronend seine medizinischen Erfolge, die seine nachtblau gewandete Gattin (Charlotte Clamens) spitzzüngig in Abrede stellt. Die Glockenschläge haben Mitternacht bereits um einige Stunden übertrumpft und wollen nicht enden. Zwischen den Repliken scheint das Ehepaar zu versteinern. Neben dem Klavier, welches eine Harfe ist, sitzt Tochter Emmeline (Carina Braunschmidt) mit Zapfenlocken und dem schönsten Überbiss seit Freddy Mercury. Viel mehr als ein schmachtendes "Frédéric" kommt der Demoiselle nicht über die Lippen. Das Objekt ihrer Begierde verpasst sie so regelmässig wie gleichgültig. Als wäre er angeschossen worden, stakst der junge Anwalt (Raphael Clamer) durch den maroden Salon. Die Beine brechen ihm unter dem Körper weg, seine gehemmte Leidenschaft verkommt zum hemiplegischen Tangotanz.

dasweissevomei2 560 simon hallstroem uDa ist das Haus noch vollgerümpelt © Simon Hallström

Kein Wunder, wird unter solchen Voraussetzungen das Anhalten um die Hand von Emmeline, die sie auf einem ausgestopften Igel wiederholt blutig schlägt, zur aussichtslosen "tour de force". Im Schneckentempo kommen sich die standesmässig nicht kompatiblen Familien näher. Mama Ratinois (Nikola Weisse), eine Art Puffmutter mit Manieren, rückt sich und ihren Spross ins beste Licht und weiß die bourgeoisen Attitüden schnell zu reproduzieren. Gatte Ratinois (Ueli Jäggi) bastelt derweil an seinem Weltempfänger und kriegt schon mal direkten Funkkontakt zu Onkel Robert (Graham F. Valentine), den seine kriminelle Vergangenheit plagt.

Ich. Haus. Ende

Es ist eine eigentümliche Sache mit dieser "Zuckerspeise", die Christoph Marthaler aus Eugène Labiches Lustspiel in einer Übersetzung von Elfriede Jelinek auftischt. Sie scheint aus allen bewährten marthaler'schen Ingredienzien zu bestehen. Komische Figuren, die durch Raum und Zeit stürzen wie weiland Alice in Lewis Carrolls Wunderland, stolpern über Teppichränder und krachen in Lederfauteuils, schlagen sich den Mund an Scherben blutig, reden aneinander vorbei. Doch wirkt das alles bemüht und konstruiert und bröckelt schmerzlich auseinander.

Bis nach zwei langen Stunden ein Lied angestimmt wird, und das Ensemble auf einmal die ganze Bühne zusammenzupacken beginnt. Mit der Geschäftigkeit einer Umzugsfirma werden Kartons gefüllt, Möbel weggetragen, Bilder abgehängt. Plötzlich ist sie da, jene zauberhafte Atmosphäre, auf die sich Christoph Marthaler und sein Schauspieler/innen so gut verstehen. Doch der Traum, so scheint es, ist aus und die Bühne leer. Mittendrin steht eine schulterzuckende Nikola Weisse. "Ich", sagt sie und "Haus" und abermals "ich". Weiter kommt sie nicht. Es ist auch keiner mehr da, der ihr zuhörte. Und es kommt keiner, der hinter vorgehaltener Hand verkünden würde, dass das alles nur ein Spiel und das Leben nicht halb so tragisch sei. Sterblich zu sein war bei Christoph Marthaler noch nie so schwer.

 

Das Weiße vom Ei (Une île flottante)
nach "La poudre aus yeux" (1861) von Eugène Labiche /Edouard Martin in einer Übersetzung von Elfriede Jelinek und "Un mouton à l'entresol" von Eugène Labiche in der Übersetzung von Jürg Läderach
Regie: Christoph Marthaler, Bühne und Kostüme: Anna Viebrock, Dramaturgie: Malte Ubenauf.
Mit: Charlotte Clamens, Marc Bodnar, Carina Braunschmidt, Nikola Weisse, Ueli Jäggi, Raphael Clamer, Catriona Guggenbühl, Graham F. Valentine.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause

www.theater-basel.ch

 

Kritikenrundschau

Christian Gampert schreibt auf der Website des Deutschlandradios (21.12.2013): Ende der 1980er-, Anfang der 90er-Jahre sei Marthalers Theater ein "anarchischer Gegenentwurf zur politischen Korrektheit und postmodernen Verzettelung" gewesen, inzwischen habe er sich in seinen "spinnerten Kosmos eingelullt". Geblieben sei nur die "komische Trance", manchmal die Albernheit und nur selten das Politische. In Basel nehme die Beliebigkeit, mit der "allerdünnste Einfälle aneinandergereiht werden", "bedrohliche Ausmaße" an. Das Bürgertum, das Marthaler auseinandernehme, gebe es nicht mehr. Es gebe nur die Marthaler-Family, "ein Wachsfigurenkabinett bewährter Bühnenkräfte, das vom Regisseur zu pantomimischer Kiefergymnastik und zum Kampf mit den Dingen animiert wird". Das "intellektuelle Niveau" orientiere sich mehr an "Loriot, Laurel and Hardy, Mr. Bean oder Freddie Frinton" als, wie früher, an "Beckett, Bunuel und Fernando Pessoa"."

Marthaler verlangsamt seinen Metaboulevard Richtung Stillstand, und folgerichtig wird gegen das Ende hin auch einmal tüchtig geschlafen und geschnarcht", so Alfred Schlienger in der Neuen Zürcher Zeitung (23.12.2013). Er bewege sich hier "selbstironisch schamfrei in der Recyclingschlaufe, zitiert Chaplin, Tati und sich selbst". Es werde gesungen, selbst die Nasen bluteten im Chor, und weil alle Spieler "so hingebungsvoll exquisit agieren, erträgt man wohl auch den sterilen Sprechautomatenduktus und die etwas gar schlichten Rülps- und Furzspässchen". Allerdings: "Man hat den Neodadaisten bei der Sinnzertrümmerung auch schon näher beim Hintersinn erlebt."

"Man schaut diesem Marthaler also dauernd mit gespaltenem Blick zu: mit einem müden Auge auf den Labiche, mit dem anderen, dem wachen und faszinierten, auf die kleinen Nebengeschichten am Rand", findet Andreas Tobler im Zürcher Tagesanzeiger (23.12.2013). Er preist die Inszenierung als einen unglaublich klug und elegant komponierten Abend, "mit dem Marthaler mithilfe seines Dramaturgen Malte Ubenauf sein Theater nochmals neu und anders erfindet". Marthaler steige da aus Labiches Stück(en) aus, wo dort die Moral und die Liebe zum Tragen kommen. "Stattdessen gibt es nun einen befreienden Abflug in den Nonsens."

"Das Weiße vom Ei" sei ein "Sahnehäubchen auf dem Schwarzbrot des Basler Spielplans", meint Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen (24.12.2013). In Marthalers Inszenierung sei "jeder eine schwimmende Insel, hart am Abgrund und nah am Vanillesee gebaut, aber irgendwo zwischen Dick und Doof und Alice im Wunderland, Buñuels surrealistischen Groß- und Loriots Kleinbürgerhöllen stecken geblieben. Jede Szene ist ein lebendes Bild nervöser Ticks und lächerlicher Kalamitäten, in Zeitlupe mit viel Öl und Zucker liebevoll ausgepinselt." Zwar enthalte "Marthalers Dessertkreation kaum Ballaststoffe: keine theaterarchäologischen Ambitionen, keine zeitkritischen Streusel, nicht einmal eine Zierbohne gesellschaftlicher Relevanz", doch trotzdem übertreffe der "Sand, den Marthaler bedächtig in schläfrige Augen streut, kulinarisch und ästhetisch alles, was das Theater Basel in letzter Zeit angerichtet hat".

"Bleibt der Zuschauer bei Marthaler reiner Konsument, dann lacht er sich halb tot über die Witze, die Kalauer und slapstickhaften Aktionen. Doch man muss das Dahinter aufspüren", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (27.12.2013). Bei Marthaler sei vieles a part, wird oft das Wesentliche verschwiegen, sodass man sich das dann zusammensuchen muss in den Darstelleraktionen. "Eine knappe Stunde ergreift einen der trübe Stillstand, bis dann in aberwitzigen, aber eben auch abgeklärten Pirouetten der Bühnenkunst – mit dabei der staubtrockene Graham F. Valentine – Ambiente und Figuren grunzend, krachend, schnarchend zerlegt werden." Da sei Christoph Marthaler dann viel böser, als es die lustige Quatsch-Oberfläche vermuten ließe.

 

 

 

mehr nachtkritiken