Bitte gehen Sie in die Knie

von Dirk Pilz

Berlin, 9. Januar 2014. Auch ein schönes Ideal: Theaterzuschauer in eine Lesegemeinde verwandeln. Still sitzen alle beisammen, lesen, blättern und halten das gleiche Buch in Händen. Schwarz, in Leinen, golden ist der Titel aufgeprägt: "Idealisten. Idealists. Idealisti. Schauplatz International".

Die Ausgabe von Luthers Kleinem Katechismus in meinem Regal schaut genauso aus, auch das Gebetsbüchlein gleich daneben. Und weil wir alle zusammen vor der Buchausgabe angehalten wurden, uns erst still zu erheben, hernach auf die Knie zu sinken und dann die Augen zu schließen, was viele auch taten, möchte man meinen, das Theater habe sich in ein Gotteshaus, die Publikumsschar in eine Gebetsgemeinschaft verwandelt. Ist's möglich!?

Irre und Ironie

Weil aber auf der leeren Bühne der Schauspieler Martin Bieri sitzt, das selbige Buch in Händen, sehr ernst in die Lektüre vertieft, könnte man auch meinen, das gemeinsame Lesen diene hier selbstironischer Kommentierung eines Abends, der das Theater nicht aus dem Spiel, sondern aus dem Konzeptbuchstaben, der Theorie, der Steppe des Gedankens erfinden will.

Es wäre dann, als ob dieses Theater wüsste, dass es sich an Unmöglichkeiten versucht, weil es weder Philosophie noch Gebet zu werden vermag, sich hartnäckig weigert, auf einen Gedanken verkleinert und in Theorie verwandelt zu werden, auch wenn es eben dies ebenso hartnäckig erstrebt ­– es entkommt nicht dem Spiel, der Vieldeutigkeit, der Offenheit. Beter spielen nicht, Philosophen nicht, auch nicht Idealisten. Theater spielt immer. Oder es ist kein Theater.

idealisten2 560 dorotheatuch u"Die Idealisten" von Schauplatz International © Dorothea Tuch

Vielleicht also hat es diese Inszenierung damit zu schaffen: mit sich selbst. Mit einem Theater, das betont grenzenauflösend, gleichermaßen Tanz wie Theorie, Performance wie Musik, Installation wie Bild sein will, die Perspektive folglich einzig im Plural denkt und darin dem Ideal einer Befreiung von vormaligen Unterordnungszwängen huldigt. Und vielleicht ist dies damit gar ein Abend, der den kühnen Gedanken wagt, dass eben auch solcherlei Theater in Jüngerschaft zu einem Ideal steht, das wie alle Ideale in die Irre zu führen vermag. Ist es so, sei er gepriesen für seine Kraft zum Selbstzweifel, den Mut, die eigenen Idealen gegen den Strich zu bürsten.

Schlechter scheitern

Dies aber geschieht, ehe ans Zuschauervolk die Leinenbände ausgegeben werden: Anna-Lisa Ellend und Lars Studer teilen zu Beginn mit, sie mögen nicht länger reden, sondern die Körper sprechen lassen. Es gehe, sagen sie noch, nicht nur um Theater, man müsse auch etwas tun, woraufhin sie in Schweigen sinken, sich der eiserne Vorhang hebt und die Scheinwerfer auf die schräge Bühne hübsche Lichtstreifen malen. Sie tänzeln umher, liegen, rollen, gucken drollig. Und weil es einen schmalen Graben gibt, wird rasch hineingefallen und qualvoll wieder herausgekrochen.

Bald werden Bodenklappen geöffnet, Stangen, Rahmen, hohe Holzteile hereingeschleppt und unter Aufbietung aller denkbaren Umständlichkeiten zu einem hohen, schiefen, wirren Irgendwasgebilde zusammengebastelt. Es wird viel geschwitzt, oft wird gestolpert, immer dem hohen Gott der Slapstickkunst gehuldigt. Ein Duo, das sich redlich müht, mit jedem Handgriff komisch zu wirken. Eine klapprige Ritterrüstung wird umgeschnallt, ein Leib ins zu enge Kleid gezwängt. Ein Hasenköpfiger trägt ein Leuchtschriftband umher und verkündet: "Life is hard. Art is harder." Gewiss. "Der Idealist stellt sich die Falle, in die er lächelnd tritt, selber." Aber ja doch, man sieht's.

Man sieht auch Ausschnitte aus Buster Keatons sehr komischem, sehr lebensweisem Film One Week von 1920, sieht dabei auch den Großmeister des Slapstick, der einst für jenen Beckett den Helden abgab, dem das "scheitern, wieder scheitern, besser scheitern" zum Leitspruch wurde. Damit will man sich hier nicht messen. Für diesen Abend gilt das Ideal: scheitern, wieder scheitern, schlechter scheitern. Ein Ideal wider den Idealismus, ein Trinkspruch auf den Trotz.

Im Theatertrockenen

In dem Buch, das leider am Ausgang wieder abzugeben war, wird übrigens von einer Reise nach Italien berichtet. In die berühmte, von Vespasiano Gonzaga errichtete Renaissancestadt Sabbioneta und das kleine Dorf Solomeo in Umbrien, das der Edel-Kashmir-Kleidungserfinder Brunello Cucinelli dem Renaissance-Vorbild folgend renovieren und dort sich auch ein Theater errichten ließ. Zu Orten also, die streng den Idealen der Zentralperspektive unterworfen wurden. Die erfahrbar machen, dass Ideale Machtinstrumente sind und Druck ausüben, gehorsamspflichtige Anhängerschaften und mithin Gleichförmigkeiten, hierdurch aber eben auch Ordnung, Übersichtlichkeit, Entlastung schaffen. So ist die Widerspruchswelt des Idealismus: Keine Ordnung ohne Macht, keine Entlastung ohne Unterwerfung. Für derlei fußnotengroße Einsichten also diesen von dem Performance-Kollektiv Schauplatz International und der Architektengruppe raumlaborberlin entworfenen Guckkasten-Zweistünder? Hm.

Einmal spielt Anna-Lisa Ellend in Ritterzeug auf der Geige und drei Herren stehen gesenkten Hauptes daneben: ein schönes, von aller Symbolik befreites Bild. Öfter flaniert die von Martin Lorenz entworfene, live gegebene Musik für Schlagwerk und Akkordeon durch ferne, sehr eigensinnige Welten: noch schöner, weil unberechenbarer. Und gegen die abgezirkelten, ausgedachten Theatertrockenübungen ringsum gerichtet. 

Was da auf der Bühne erst hin- und dann wieder abgebaut wird, soll übrigens ein "Denkmal für den Idealismus" sein. Man möge es, werden wir aufgefordert, "gut in Erinnerung behalten, aber auch vergessen". Wird gemacht.

 

Idealisten
von Schauplatz International
Idee, Konzept, Realisation: Schauplatz International; Konzept, Raum, Kostüme: raumlaborberlin; Komposition und Schlagzeug: Martin Lorenz; Akkordeon: Silke Lange.
Mit: Martin Bieri, Anna-Lisa Ellend, Albert Liebl, Lars Studer.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.hebbel-am-ufer.de

 

Kritikenrundschau

"Im Unterschied zum fingierten Doku-Theater früherer Stücke, deren knifflige Intellektualität der Truppe mit ihrer Vorliebe für Diskurstheorien auch schon das Beiwort 'hardcore' verschaffte", sei "Idealisten" von Schauplatz International "ein Spaziergang – vergnüglich, charmant und voll liebevoller Komik", meint Barbara Villiger Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (11.1.2014). "Das Versprechen des Prologs gilt: Schluss mit den Diskursen, in denen sich das postdramatische Gegenwartstheater heutzutage generell verirrt. (…) Statt Dekonstruktion sehen wir für einmal, buchstäblich, Konstruktion." Das Ganze sei eine "so abstrakte wie konkrete Auseinandersetzung mit dem sinn- und nutzlosen Ideal der Kunst, die, wie Karl Valentin wusste, schön ist, aber viel Arbeit macht. Ihr ernstes Anliegen macht in diesem Fall hintersinniger Humor geniessbar. Zum Genuss."

"Das Vermögen der Gegenwartsmenschen scheint nicht mehr zu reichen für die umfassende Kunst von einst und die zwei Baumeister bauen auch gar nicht, sie kämpfen grotesk mit und gegen ihre Bretter", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (11.1.2014). Vielleicht sei "das der Kommentar dieser malerischen, aber inhaltlich dünnen Handwerker-Klamotte zur idealismusfernen Gegenwart: das Universalgenie von einst ist der Heimwerker von heute." Er haue "dezentral drauf los nach vielen kleinen Anleitungen, die sich unverbindlich und windschief aneinander heften. Das ist nicht falsch diagnostiziert und durchaus tragikomisch. Aber knappe zwei Stunden lang das Chaos nur festzuklopfen, ohne auch dessen Vorteile zu finden − das ist etwas wenig."

 

Kommentare  
Idealisten, Berlin: Luther?
Das liest sich ja jetzt irgendwie total lustig. Wie unterschiedlich Kritiker so ihre Kritiken schreiben. Warum z.B. zieht Dirk Pilz (anders als Doris Meierhenrich und Barbara Villiger Heilig) hier den Vergleich mit Luther? Passt das denn inhaltlich überhaut? Wenn ich die Beschreibung der Handlungen lese (sich erheben, auf die Knie sinken, Augen schließen), komme ich sofort eher auf eine Yoga-Sitzung, auf Ghandi, Buddha, Meister Eckhart oder vielleicht noch auf Brandts Kniefall. Aber auf Luther? Nun gut, Assoziatonsräume sind wohl ebenso unterschiedlich wie Handlungsräume.

Und angesichts der Doña Quixote bin ich versucht zu fragen, ob Schauplatz International sich da nicht möglicherweise doch auf Agamben bezogen haben. Und zwar auf dessen schöne und traurige Geschichte von den "schönsten sechs Minuten der Filmgeschichte". Die Geschichte vom kleinen Mädchen Dulcinea mit dem Lutscher im Kino, welche die Zerstörung der Illusionen mittels der realen Zerstörung der Leinwand tadelnd zur Kenntnis nehmen muss. Zitat: "Was sollen wir mit unseren Phantasien tun? Sie lieben, ihnen glauben - bis zu dem Punkt, da wir sie zerstören, entstellen müssen (das ist vielleicht der Sinn der Filme von Orson Welles). Doch wenn sie sich am Ende als leer und unerfüllt erweisen, wenn sie das Nichts zeigen, aus dem sie gemacht sind, erst dann heißt es, den Preis für ihre Wahrheit zu bezahlen, zu begreifen, daß Dulcinea - die wir gerettet haben - uns nicht lieben kann."
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