Small Town Boy - Falk Richter entwirft am Maxim Gorki Theater ein Gegenbild zum homosexuellen Coming Out
Raus aus Putins Welt
von Simone Kaempf
Berlin, 11. Januar 2014. Es könnte ein Coming-Out sein. Vor der ganzen türkischen Familie, die sich zur Hochzeit versammeln wird. Aber der Vater würde es nicht verstehen, die Schwester würde ihn hassen für einen fetten Überraschungsauftritt. Denn die Hochzeit ist ihre Show, nicht Mehmets. Und deswegen entwickelt sich jetzt ein handfester Ehekrach zwischen ihm und seinem deutschen Lover, der auf die Ausladung immer hysterischer reagiert. Vorwürfe, Misstrauen, alles wird ausgebreitet, schon taucht der Verdacht auf, dass die ganze türkische Großfamilie nur vorgeschoben ist, um einen anderen zu treffen. Statt Familienfest also ein satter Streit, der zwar mit viel Selbstironie gespielt wird, sich aber auch zum entscheidenden Satz hochschaukelt: "Dann hau doch ab".
Die Schauspieler Niels Bormann und Mehmet Ateşçí schleudern diese Kaskaden heraus. Ihre Beziehungsphobie ist mit kulturellen Missverständnissen aufgepeppt. Aber das ist nur ein i-Tüpfelchen. Falk Richter wildert für "Small Town Boy", seiner ersten Arbeit am Berliner Maxim Gorki Theater, einmal mehr in Themen hyperindividueller Selbstfindung, in der Verbindlichkeits-Sehnsüchte stets von Ängsten durchkreuzt werden und eine diffus-überzogene Erwartungshaltung herrscht. Die finanz- oder wirtschaftspolitischen Absurditäten, die Richter zuletzt gerne mit der privaten Beziehungsebene abglich, werden hier nur angetippt. Die Mechanismen der Selbst- und Paarsuche kommen diesmal lange Zeit vor allem im Rahmen der sexuellen Identitätsbildung in den Blick.
Privatleben als Kunst
Da referiert Lea Draeger im Duktus der super-erfolgreichen Geschäftsfrau, dass sie nach dem saudischen Panzerdeal erst einmal 50 Seiten "Shades of Grey" liest, danach Murat, Ali und einen Analpropf braucht, um sich wieder als Frau zu fühlen. Oder gleich in der ersten Szene geben Aleksandar Radenković und Thomas Wodianka ein schwules Paar, eine Zufallsbekanntschaft, in deren Gespräch über die letzte Nacht sich die Machtverhältnisse spiegeln: Die Frage, wieviel beschnittene Schwänze man schon hatte, hat nichts mehr mit Post-Coitum-Gesprächen zu tun, sondern dient als Prüfung, die natürlich nicht bestanden wird.
So explizit der Text die Dinge benennt, so abstrakt bleibt die Bühne: einige Tische, dazu ein Stahlkonstrukt, auf dem Boden Flokatiteppiche, auf denen sich die Schauspieler mal fläzen und Schallplatten durchstöbern. An die Rückwand sind Zwischentitel wie "Making of III: Grenzen überschreiten" oder "Youtubeyouporn Zombie" projiziert. Meistens wird an der Rampe gespielt, wo die Schauspieler vor allem aus dem Witzpotenzial Funken schlagen, etwa mit der Angst vor unsittlicher Berührung kleine Scherze treiben. Zeigt der Abend auf der Bühne verkrachte Möchtegern-Künstler, die ihr Privatleben zur Kunst erklären, oder geht es tatsächlich um Erinnerung an die Jugend in den Achtzigern, mit spießigem westdeutschen Elternhaus, wo die sexuelle Identitätssuche ihre Anfänge nahm? Also sozusagen dort, wo man homophobe Paranoia am ehesten wittert. Lange weiß man's nicht.
Putins Frontmachung gegen Homosexuelle
Irgendwann aber holt der Schauspieler Thomas Wodianka Fotos nach vorne, die den russischen Staatschef Wladimir Putin zeigen: mit Angela Merkel bei der Eröffnung der Hannover-Messe, mit seinem guten Freund Silvio Berlusconi, mit Anna Netrebko, die seinen Wahlkampf unterstützte. Schon wie Wodianka die Bilder aufstellt, lässt einen spüren: Das ist jetzt kein Spaß mehr, das ist bitterer Ernst. In seinem zehnminütigen Wut-Monolog kommt der Abend zu sich selbst, findet er sein wahres Thema. Stürzt sich nicht nur auf Putins Frontmachung gegen Homosexuelle, sondern zieht seine Kreise auch weiter zu denen, die ohne Not rechtskonservative Politik betreiben. Oder zu einer Medienwelt, die Anna Netrebko nach der Zumutung befragen, auf der Bühne eine alte Strickjacke zu tragen, aber ihre Unterstützung für Putin aussparen, während inhaftierte russische Schwule ganz andere Zumutungen erfahren.
Es ist eine Szene, die einem das, was gerade in der Realität geschieht, in einem anderen Licht erscheinen lässt, die das Coming-Out von Thomas Hitzlsperger blass wirken lässt. Reicht das Bekenntnis "Ich bin schwul" schon aus, um ein Zeichen setzen? Natürlich nicht. Und so lässt Falk Richter seine Schauspieler vieles von dem aussprechen, was in der Realitätsdebatte verdruckst ausgespart wird.
Wodiankas Wutrede ist eine eigene Klasse für sich, der Anker dieses Abends, der sich inszenatorisch aufsprengt in unterschiedliche Spielszenen und Musikeinlagen, die nicht immer schlüssig verbunden sind. In satirische Überhöhung und dann wieder in Songs, interpretiert von Mehmet Ateşçí, der selbst aus den poppigen Beats des titelgebenden Bronski-Beat-Songs Smalltown Boy eine Ballade macht. Ja, Gefühle zeigen die Männer an diesem Abend auch, sie offenbaren dabei ein Pathos, das auch seinen Preis hat: Man mag ihnen die Gefühlslandschaften, wie es einmal heißt, nicht immer abnehmen. Aber – mit René Pollesch gesprochen: Scheiß auf Authentizität!
Small Town Boy (UA)
von Falk Richter
Regie: Falk Richter, Bühne und Kostüme: Katrin Hoffmann, Musik: Matthias Grübel, Dramaturgie: Jens Hillje / Daniel Richter.
Mit: Mehmet Ateşçí, Niels Bormann, Lea Draeger, Aleksandar Radenković, Thomas Wodianka.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.gorki.de
Kritikenrundschau
Christine Wahl schreibt im Berliner Tagesspiegel (13.1.2014) das auf, was allen auffiel: "Super Timing", Falk Richters Arbeit wirke wie das Bühnenstück zum schwulen Coming-out des Ex-Fußballnationalspielers Thomas Hitzlsperger. Gut, das ist das.
Außerdem: "Small Town Boy" reflektiere über "schwule Identität", "Geschlechterkonstrukte", "Beziehungsmodelle und ihre Kollision mit 'diesem Wirtschaftssystem' ". Richter versuche, die "Lücke zwischen generös zur Schau gestelltem Freigeist und verschwiegenem Ressentiment" aufzuzeigen. "Geschlechterklischees" würden parodiert, die "Kippfigur zwischen Bekenntnis und Parodie" sei Richters Mittel par excellence und Niels Bormann ihr versiertester Agent. Bei Thomas Wodiankas "Wutbürgerrede" gegen die Homo-Diskriminierung von Putin und Konsorten fühle man sich wie bei einer Demo auf dem Alexanderplatz.
Ulrich Seidler schreibt in der Berliner Zeitung (13.1.2014), der Abend biete ein "politisch unkorrektes Kulturprogramm mit kabarettistisch-satirischen Einlagen, lässig sortierenden Zwischentiteln und auflockernd-melancholischen Gesangseinlagen", mit pointiert "anwendungsbezogener Sprache". Die fünf Spieler spielten mit "Kraft und Einsatz", der sie "von jeder Scham" befreie. Thomas Wodiankas Hasstirade sei "bis in die grammatische Struktur" hinein "volksverhetzend, persönlich beleidigend, rassistisch und natürlich blasphemisch". Seidler fragt sich, wofür genau der explodierende Schlussapplaus eigentlich gespendet worden sei. "Von welcher Reflexionsebene wird dieser Abend gefeiert?" Sei es naiv, die Aussagen der Inszenierung ernst zu nehmen? "Als würde es auf deutschen Bühnen irgendetwas geben, das ernst gemeint, geschweige denn ernst zu nehmen wäre." Aber eben daran entzünde sich Richters Streitlust: "Dass uns Theatergängern alles wurscht ist." Deswegen sein "Gegenangriff mit Verletzungslust". Es handele sich bei "Small town boy" um "Theater, das mehr als Theater sein will". Darüber könne man sich aufregen, es erinnere auf diese Weise daran, dass es so etwas gebe wie: "Aufregung". Und dass man die wohl brauche, "um veränderbare Verhältnisse zu verändern".
Mounia Meiborg bekennt in der Süddeutschen Zeitung (13.1.2014), sie hätte diesen Abend gerne mögen wollen, aber Thomas Wodiankas zehnminütiger "Hass-Monolog" habe das zunichte gemacht. Falk Richter verwechsele "politisches Theater mit der Beleidigung von Politikern" und zeige, "dass Angehörige einer Minderheit auch nicht toleranter sind als alle anderen". Dabei sei alles bis dahin "hinreißend komisch". Mehmet Ateşçí singe "wunderschön", Aleksandar Radenković und Thomas Wodianka spielten "rührende Liebesszenen". Klar auch, dass man, die Verlegenheit, die sich bei Sätzen wie "Wie war das, als ich mit deinem Loch gespielt habe?" einstelle, vielleicht "mal aushalten" müsse. Die Brandrede beginne bei "verfolgten und malträtierten russischen Schwulen" und ende damit, dass sie sich "über Ilse Aigner lustig macht, weil sie Single ist. Und über Erika Steinbach, weil ihr Vater abwesend war. Und Angela Merkel, weil sie keine Kinder hat." Man müsse annehmen, Falk Richter selbst spreche hier über "vermeintlich homophobe Politiker". Doch Erika Steinbach wegen ihres Privatlebens anzugreifen, sei "ungefähr ebenso geschmacklos wie deren krude Äußerungen über Schwule". Das sei ein falsches Signal.
Katrin Bettina Müller schwärmt in der tageszeitung (13.1.2014): Wann immer Mehmet Atesci singe, grundiere er die Stimmung sehnsuchtsvoll, die Dialoge dagegen schleuderten einen auf "konfliktgeladene Schauplätze". Es handele sich "teils um biografische Splitter, teils um Überschreibungen von Filmszenen oder Fassbinder-Interviews, wütende Reden". Der Ort der Sprechenden werde verwischt; man wisse nicht, ob die Figuren sich über "Klischeefiguren aus der Soap und ihre Floskeln" lustig machten, oder ob sie darüber erschreckten, "keine andere Sprache mehr als die vorformatierte zu finden". Thomas Wodianka gebe sich bei seiner Wutrede alle Mühe, nicht als Schauspieler, sondern als Empörter "vor uns zu stehen", der "das Publikum als Wegseher" anspreche. Lea Draeger biete eine "Karikatur der politisch mächtigen Frau und ihrer verkorksten Sexualität". Als gäbe es "zwischen Berlusconi und Merkel keine Unterschiede", werde die Unterstellung von "bizarrem Sex" zum "Instrument der Rache". Sicherlich stünden solche Auftritte für das Ziel des Gorki Theaters, "aus einem Konsens auszuscheren, der blind macht für die Teilhabe an ausgrenzenden Mustern und diskriminierender Politik". Doch wirke "Small Town Boy" zu sehr auf die Provokation hin kalkuliert.
"Wie schon in den vorangegangenen Arbeiten des neuen Leitungsteams, bestehend aus Shermin Langhoff als Intendantin und Jens Hillje als leitendem Dramaturg, werden sämtliche theatralen Mittel, die dem Postrealismus zur Verfügung stehen, wie Stromstöße eingesetzt, die den Besucher immer wieder unversehens aufrütteln", freut sich Tilman Krause in der Welt (16.1.2014) – und möchte keine der 110 Minuten missen. Die "Hasstirade gegen Putin und alle Homophoben, auch der westlichen Welt" am Ende habe "die Hauptstadt-Kritik, die jeden selbstreferentiell selbstgefälligen Castorf-Quatsch bejubelt", ja "nicht goutiert" – Krause dagegen findet: "Nach 2000 Jahren Schwulenunterdrückung wird man es wohl ertragen, wenn auf der Bühne jemand mal 20 Minuten lang verbal kräftig contra gibt."
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Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2014/01/12/wenn-das-ich-schreit/
The show hitting everywhere, but bringing nowhere. A fight against homophobia?! with so much self hate and racism ?
Sex and relationships -in general- did not look pleasant.
And ladies.. what a pity that a woman had such a weak image.
Actors looked like men, but they were talking like babies.
The public of gorki is the wrong target, are we still talking about outing?
I did not get it. We are hurt without a reason.
aber warum diese 'verbesserung' dann im theater? weil es keine kriterien mehr gibt.
http://www.monde-diplomatique.de/pm/2014/01/10.mondeText1.artikel,a0043.idx,11
Heterofeindlichkeit? Könnte es auch geben, z.B. in queeren Kreisen, die ihre eigene Sexualität als maßgeblich für alle betrachten. Aber manche finden das dann eben doch nicht so toll: "und die Idee eines körperlich dauerhaft ineinander verflochtenen Humankapitals ('Das ist nur eine Metapher') scheiterte am Widerstand uneinsichtiger Frauenzimmer." (Wolfgang Herrndorf, "Sand")
Und es funktioniert offenbar auch nicht immer: "die Frage, ob man aus zwei homosexuellen Pärchen, einem glücklichen und einem verfehlten, eine planetenweite Zivilisation machen kann. Also: Man kann, nicht wahr. Möchte nur wissen, wer etwas davon hat." (Dietmar Dath, "Die Abschaffung der Arten")
Warum Menschen unbedingt einander auffressen müssen, ich weiss es nicht. Eine geistig-seelische Verbindung wär doch auch schon was Schönes. Aber wenn das körperliche Begehren beiderseitig ist, nichts dagegen. Aber sonst? Meret Oppenheim zelebrierte ihr "Frühlingsfest", das Nachtessen auf einer nackten Frau, und sagte später dazu, dass sie sich selbst in der entblößten Frau wiedererkannt habe. Als Selbstvermarktung der Frau im männlich dominierten, surrealistischen Kunstbetrieb. Also Projektion des sogenannten "Begehrens des Anderen". Soll heissen: Lesben werden in und von der heterosexuellen bzw. patriarchalen Männergesellschaft offenbar lieber voyeuristisch konsumiert als Schwule. Aber genau diesem Blick, dieser Zurichtung durch das Männliche müssten sich Lesben ja nun eigentlich entziehen (wollen). Was offenbar noch nicht einmal im Kunstbetrieb gelingt - siehe Oppenheim. Und das gilt wohl genauso für Schwule und weibliche "Chefinnen". Etcpp.
Ich weiß mit diesem Betroffenheits-Einzelschicksals-Mama-Papa-Pathos nichts anzufangen, ausser mich zu fragen warum das bitte auf der Bühne zu sehen ist.
Ich war gestern drin. Und wundere mich, wie sie bei dieser Produktion von "Einzelmenschenschicksal" sprechen können. Diese Produktion ist so ziemlich die vielstimmigste, multiperspektivischste Arbeit, die ich seit langem gesehen habe. Sie arbeitet mit den unterschiedlichsten Klischees, um das Korn Wahrheit in ihnen sichtbar zu machen und relativiert sie immer wieder von den unterschiedlichsten Standpunkten aus. Das Ganze ergibt ein Mosaik, weil man die "Wahrheit" als einfache (ideologische) nicht haben kann. Eine Annäherung ergibt sich aus Widersprüchlichem, Übertriebenem, Klischiertem, Fragmentarischem. Für mich eine der besten Richter-Arbeiten seit Kabale und Liebe, denn sie bleibt stringent am Thema Homosexualität und rückt es in eine neue Perspektive, indem (metaphorisch) so getan wird, also ob die Schwulen "ein Volk" seien (wie Menschen mit Migrationshintergrund, Juden etc.). Außerdem ist es irrsinnig gut gespielt.
Lieber Mr. Bond,
ich hatte dieselben Bedenken bei diesem enorm komischen Hass-Monolog mit tieferer Bedeutung. Ich sehe ihn aber im Zusammenhang mit dem Monolog über die Schwierigkeiten schwuler Beziehungen von Niels Bormann am Anfang. Dann relativiert sich die Heile-Schwulen-Welt der Anti-Putin-Tirade: es ist Figuren-Rede. Die Komposition fächert die Bandbreite Schwuler Denk- und Lebensweisen auf. Die Aufführung predigt eben keine faschistoide Ideologisierung nach der eine Rasse/Klasse/Sonstwas gut und alle anderen schlecht sind. In jeder Population gibt es das ganze Spektrum und das blättert der Abend auf.
Im Übrigen empfinde ich die Shades-of-Grey-Episoden nicht als Abkupferungen, sondern ich frag mich schon, was sind das für unerfüllte Bedürfnisse, die diese massenhaft von allen Typen von Menschen - prüde bis oversexed - ersatzweise konsumiert wird? Und was sagt das über die Bindungsunfähigkeiten aus? Das gehört strukturell zur Cyberpornzombie-Episode, wo dann auch noch die Frage unterschiedlicher sexueller Vorlieben zum Tragen kommt: Es gibt eben Leute, die sexuelle Praktiken genießen, bei denen Andere glauben, eingreifen zu müssen um den Genießer davor zu bewahren. Richter zeigt da das erkenntnistheoretische und daraus folgend moralische Dilemma komplexer Wirklichkeiten ziemlich genau auf.
Durchaus besorgniserregend auch das im Stück gezeichnete Frauenbild: die Frau ist schwach, zurückgewiesen, kinderlos, ein unerfülltes Leben führend.
Das ist mindestens fragwürdig, wenn nicht menschenverachtend.
Bei dieser Inszenierung ist doch mächtig was schiefgegangen?!
Das ist mir auch aufgefallen, dass Frauen in dem Stück ziemlich an den Rand gedrängt werden bzw. in den Szenen, in denen sie vorkommen (Powerfrau, Ehefrau, Mutter) derartig in EINEM Aspekt überzeichnet sind, dass man das eigentlich nur noch als Kabarett goutieren kann.
Aber kann man wirklich von jedem Stück Ausgewogenheit verlangen? Ich finde Sie und alle, die sich an Ähnlichem stören, suchen in dem Stück, was es nicht leisten kann und will: eine angemessene Beschäftigung mit Frauen. Es geht hier um Small Town Boys. Wenn ich mir Claire Booths "Frauen in New York" anschaue, vermiese ich mir den Spaß auch nicht, weil dort die Männer alle Karikaturen sind, sondern ich interessiere mich für das, was geboten wird: die Männerbilder der Frauen.
Im übrigen finde ich, dass man zwischen Figurenrede und Autorenrede unterscheiden sollte. Falk Richter hat auch schon ganz andere Frauenbilder entworfen. Im Disconnected Child z.B. Fragen Sie einfach mal Bibiana Beglau.
Noch was zum Thema Volksverhetzung: Warum muss es eigentlich immer irgendwelche Leute geben, die das Volk vor seiner Verhetzung schützen?
Dürfte das Volk über 18 Jahren nicht mal selbst entscheiden, was gut für es ist und was nicht?
Schon Brecht notierte in seinem Arbeitsjournal: "Der Zuschauer wünscht nicht bevormundet zu werden."
@Lieber Falk: (...) sehr flache Texte, bis auf die, in denen Theorien einen raum bekommen, die sind aber nciht von dir:sad: ich hab Rausch in Düsseldorf gesehen und habe es tatsächlich nicht länger als 40 minuten ausgehalten, denn die Theamen sind zwar interessant aber dein Umgang damit ist mehr als dürftig und eindeimensional-das will doch niemand sehen-außer wie schon erwähnt moralisch korrekte Gutmenschen, die grundsetzlich mit dem opfersyndrom sympatisieren... Wenn etwas passieren muss, dann muss die Welt endlich frei von Opfern werden.
Schönstens,
Ulrich Seidler (Berliner Zeitung)
Ich finde, das ist ein echter Fund!
Dass Putin und seine Mannen in der Duma täglich gegen die Homosexuellen wettern, kann man in den offiziellen Duma-Protokollen, Verlautbarungen, Gesetzen nachlesen. Was ist daran "russophob", das zu sagen?
Und dass "Wodianka" dann der Kragen platzt, ist sein gutes Recht als dramatische Figur. Onkel Wanja schießt ja auch auf Prof. Serebrjakow, ohne dass ihm irgendjemand deswegen Russophobie vorgeworfen hätte.
Fangen wir mit Herrn Seidler an: Wer den Begriff der Volksverhetzung benutzt, weiß sehr genau, dass dieser einen Straftatbestand bezeichnet und im derzeitigen deutschen Sprachgebrauch auch ausschließlich so verwendet wird. Wenn Herr Seidler, wie er behauptet, dem Abend keinen solchen unterstellen wollte, hätte er diesen Begriff nicht verwendet.
2. nochmals zu Herrn Seidler und anderen: Es wird hier unreflektiert von "Hass" geschrieben. Andere benennen das "Wut". Vielleicht sollte man darüber sprechen, denn Wut und Hass sind 2 grundverschiedene Dinge. Ich höre in "Wodiankas" Rede Wut. Eine, die sich nie Bahn brechen darf, weil Homosexuelle - ebenso wie andere "Minderheiten" (welch herablassendes Wort auch dieses) - gelernt haben, immer schön konstruktiv zu sein und ja nicht undankbar.Die Bundesregierung wirf ihnen ein paar Brotkrumen angeblicher Gleichstellung hin, in anderen Ländern geht es Schwulen und Lesben noch schlechter? Na, dann lasst uns alle jubilierend auf der Straße tanzen! Es geht nicht um rechtliche Verbesserungen, es geht um Gleichstellung, es geht um die Einhaltung des vor über 60 Jahren verabschiedeten Grundgesetzes. Punkt. es geht darum, zu akzeptieren, dass Schwule und Lesben eben überall mit Vorurteilen, Rollenerwartungen, Ausgrenzungsängsten konfrontiert werden: in der Politik, im Sportverein, im Beruf, in der Schule - und nicht zuletzt in sich selbst. Es geht darum, dass dieses Diktum des Nicht-Normal-Seins" so tief verwurzelt in unserem kulturelle Umfeld ist, dass wir es meistens gar nicht mehr wahrnehmen. Und genau das lässt Richter hier an die Oberfläche, genau diese nicht geführte Diskussion klatscht er uns hier auf den Tisch. Ich kann diese Wut und ihre Äußerungsform kritisieren, ich kann dagegen streiten - sie als "Hass" abzukanzeln, macht es sich aber viel zu einfach und verortet den, der das tut, eher auf der Seite des Problems als auf jener der Lösung. Vor allem aber ist diese Weigerung, einer Minderheit das Recht zu geben, wütend zu sein - haben wir schon in der "Blackfacing-Debatte" erlebt - aber auch Indiz einer herablassenden und, ja, diskriminierenden Grundhaltung. Die "Mehrheitsgesellschaft" definiert, wer worauf wie wütend sein darf. wer das überschreitet, predigt Hass.
Und 3. (und ich bin wieder bei Seidler, sorry): Wenn Kritik an massiven Menschenrechtsverletzungen in einem Land als russophob abqualifiziert werden, fällt mir nicht mehr viel ein. Letztlich ist das eher russophob als die "Tirade", schließlich setzt Seidler damit Russland und das Kritisierte gleich, leibt Homophobie mal schnell ins Wesen Russlands ein. Ich glaube nicht, dass Richter das einfallen würde.
Ich schätze Ulrich Seidler als Kritiker übrigens sehr. Umso mehr schmerzen diese - ja, ich kann es nicht anders nennen - Ausfälle.
Es wird immer Rassisten/innen, Antisemiten/innen und Homophobe/innen geben. Dieser Konflikt ist im öffentlichen Raum sozusagen permanent abrufbar und empören kann man sich ebenso jederzeit. Die Frage stellt sich, warum und zu welchem Zweck man sich an welchem Zeitpunkt neu empört. Denn die immer wieder sich wiederholende Empörung ist notwendig, um die Werte der Gleichberechtigung an die kommenden Generationen weiter zu vermitteln. Diese Wertevermittlung findet durch Erziehung, und Appelle an das Gewissen statt und muss stets erneuert werden. So erhalten sich demokratische Standards. Dem gegenüber steht ein gewisser Tugendterror. Eine Art Terror, der das Gewissen aufrühren soll, um den Gewissensträger akut zu bestimmten Haltungen zu nötigen. Das funktioniert immer ganz gut, wenn die „Wutrede“ eine Art Comedy ist und mit komischen Wirkungen versucht die Zuschauer zu bewegen. Schwierig wird es bei „Wutreden“, die man nicht genau lokalisieren kann. Dies scheint hier der Fall zu sein. Das Gewissen der Zuschauer sperrt und verweigert sich in einem solchen Fall und entscheidet sich erst nach Tagen der Reflexion, meistens in einem intimen Moment mit sich selbst. So könnte man hier den Kritiker verstehen.
Ob man hier gleich von einer Tiefenwirkung sprechen kann, weiß ich nicht. Denn diese permanent abrufbaren Gewissenskonflikte werden häufig instrumentalisiert. Das weiß das Gewissen und ist von daher skeptisch. Es gibt sozusagen einen Markt für gewisse Gewissensprodukte. Lukrativ erscheint momentan die Bewältigung der Zuwanderung. Man kann beobachten, wie eine ganze Regierung diesen Artikel vom Markt holt, ihn sozusagen seiner klassischen linken Klientel entreißt, um ihn dann wenige Momente später in leicht veränderter Form, eben modifiziert, wieder auf den Markt des Gewissens zu werfen. Wenn der Innenminister von einem attraktiven Zuwanderungsland spricht, ist er bei der Vermarktung der Gewissensbewältigung eben ganz vorne dran und es fällt dem Gewissen dann schwer zu entscheiden wie viel eigentlich noch von den ursprünglichen Zielen in dem neuen Gewissensprodukt enthalten sind, insbesondere dann, wenn der Begriff „Armutszuwanderung“ in seiner Rede ausgeklammert wird.
Das Gewissen fürchtet sich also zu recht vor tragischen und pathetischen Wutreden, auch wenn sich diese gegen Homophobie wenden. Die Angst als Zuschauer instrumentalisiert zu werden ist begründet. Nichts kann man trickreicher hintergehen als ein Gewissen und dies vor allem dann, wenn die Medien gerade für ein bestimmtes Thema und dies ist bei der Homosexualität der Fall, einen aktuellen Fall geschaffen haben. - Ich frage mich übrigens, warum die Beziehung der deutschen Weltfußballerin zu ihrer australischen Freundin nicht ebenso in den Medien präsent ist, wie das Geständnis eines ehemaligen Fußballspielers. Aber dies nur am Rande.
Das Medium „nachtkritik“ entwickelt sich immer mehr zu dem Theatergewissen der Nation. Das Gorki versteht es mit seinen Inhalten Recht gut auf dieser Welle mit zu surfen. Es greift scheinbar die richtigen Themen systematisch auf. Da kann man schon mal skeptisch werden. Da rüber hinaus ist es so, dass einzelne Privatpersonen durchaus homophob sein dürfen, so wie Menschen Angst vor allem Möglichen haben dürfen. Es ist lediglich nicht erlaubt seine Ängste in dem Sinne gegen andere Umzusetzen, dass ihnen daraus Nachteile erwachsen und sie prinzipiell ungleich berechtigt behandelt werden. Wie man die Ängste der Zuschauer angeht, ihre Präjudizien und Empfindungen, das Befinden ihres Gewissens ist hierbei jedem Performer und jeder Bühne selbst überlassen.
Abschliessend: Sagt man nicht auch, die Stücke eines Theathermachers lassen den Betrachter ein ganzes Stück weit in deren gebeutelte Seele gucken? Wenn dem so ist, wünsche ich Falk Richter, dass er irgendwann an einem Punkt kommt, in dem er in seinen Lieblingsthemen weniger das Reißerische als mehr das Tiefsinnigere entdeckt.
Schönstens,
Gesellschaftskritik gerät heute wohl zu einem der schwierigsten Fächer überhaupt. Die sich ständig verändernden Verhältnisse lehren einen, dass was gestern noch galt, schon heute missverständlich sein kann. Dass Falk Richter sich selbstreferenziell auf einen anderen Titel im Haus bezieht, ist hierbei die eine Sache. Die andere, dass er mit Sätzen dieser Art, angesiedelt in einer Figur, nahtlos anschließt an die Russenfeindlichkeit des kalten Krieges. Aber dieser Angriff im alten Kleid ist nur eine Travestie über neue Verhältnisse. Denn wie verläuft der neue Anerkennungstransfer unter modernen Demokratien nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten? Wie muss eine moderne Demokratie ausgestaltet sein?
Sie darf keinesfalls Humanressourcen vom Produktions-und Entwicklungsprozess ausschließen. Hierzu sind alle Wege frei zu machen. Man bezieht sich dabei auch nicht mehr wirklich auf den Begriff „Land“ oder „Nation“. Man lebt nicht mehr in Deutschland, sondern in dem „Projekt Deutschland“, dass auf sich das „Volk“ der Besserqualifizierten vereinigen möchte. In diesem Zusammenhang steht der Begriff „Toleranz“ heute für etwas ganz anderes. Er beschreibt nicht mehr ein lebenswertes Miteinander, sondern eine Leistungsgruppe, deren Zusammensetzung unter neuen Kriterien betrachtet wird. Nicht mehr Nation, Kultur und Ethik sind das Bindeglied, sondern Qualifikation auf dem gesamteuropäischen Arbeitsmarkt, und hier gilt es alle Kräfte ab zuwerben, egal ob homosexuell, migrantisch oder sonst wie.
Auf dem Weg hierhin muss Russland noch einige Creditpoints sammeln. Das Image, welches es sich, neben der Ukraine, erarbeiten soll, hat hierbei ebenso wenig mit der Realität zu tun, wie es hier im deutschen Noch-Hoheitsgebiet der Fall ist.
Somit ist ein verbaler Angriff auf Staaten, welche die scheinbar von der Kultur erarbeiteten, subjektiven, gefühlten europäischen Kriterien noch nicht erfüllen wohlfeil. Man kann sie nicht wirklich in dem Sinne ernst nehmen, dass sie tatsächliche Verhältnisse beschreiben. Wohl aber wird die Feindlichkeit gegenüber solchen Staaten als Katalysator für die Toleranzbeschleunigung im eigenen Land urban. Wem dies schlussendlich alles noch nützt, müsste erst in einer kritischen Auswertung begutachtet werden.
Hier befinden sich Kunst und Politik häufig in einer unfreiwilligen win-win Situation. - Was früher mal ein Toleranzprojekt war, kann so heute schnell zu einem Wirtschaftsfaktor deformieren. Unterkomplexe Abende, selbst mit begründeten Wutreden, sind von daher ganz sicher nicht mehr das, was wir heute tatsächlich nötig haben.
Es ist aber schon verdammt auffallend und schade zugleich, dass Kritik an unlauter konstruierten Gruppen durch eine bestimmte Kategorisierung immer nur dann thematisiert wird, wenn eine so kategorisierte Gruppen anfängt sich zu wehren und den Spieß umdreht. Die haben niemandem den Spiegel vorzuhalten, sondern moralisch bessere Vorschläge einzubringen - über deren 'Wert' dann wer entscheidet? Die untergeordnete Position hat sich nicht zu wehren - weil das so platt aber nicht gesagt werden kann, weil dann ja selbst der Großteil des anwesenden Publikums verstehen würde, dass da was faul ist, erledigt dies dann die Moralkeule.
Wer tappt hier also in welche Falle?
Der Abend ist sich meiner Meinung nach dieses Dilemmas bewusst und versucht deshalb im Anschluss wieder krampfhaft die vorherige Normalität herzustellen. Es gelingt nicht mehr, weil dafür zu viel vorgefallen ist. Irgendwie geht es aber doch weiter - jedoch nicht zufriedenstellend, für alle Seiten.
Jede Minderheit versucht eine besondere Instanz in der Gesellschaft abzubilden, um die Kräfteverhältnisse zu ihren Gunsten zu verschieben. Das ist ganz natürlich. Gelingt es nicht, eine kritische oder besonders leistungsfähige Instanz zu bilden, wird man einfach komisch. Minderheiten wohnt ein Geltungsbedürfniss inne, dass sich von denen der Mehrheit unterscheidet und sich häfig mit alllen Mitteln versucht in der Öffentlichkeit Ansehen zu verschaffen. Da ist auch die "Ulknudel" ein Mittel oder der "Aggressor".
Mit der Zeit gewöhnt man sich daran und betrachtet den Mahlstrom der Mehrheiten, wie er letztendlich alles unterpflügt, wenn es nicht gefällt. Es ist ein Kampf um das Überleben, der immer neue Formationen und Allianzen annimmt. Die Projektgruppe Deutschland stellt sich neu auf. Und es sieht nicht so aus, als ob zwingend die Minderheiten dabei auf der Strecke bleiben.
Thomas Wodianka, so ein toller Schauspieler, was für ein Glück fürs Gorki, ihn im Ensemble zu haben.
Als er Diamonds von Rihanna singt, kamen mir fast die Tränen vor Freude. Auch seine berühmte Wutrede (bzw die seiner Rolle), auch wenn ich verstehen kann, dass sie sehr zwiespältig gesehen wird, ist einer der zahlreichen Höhepunkte des Abends. Für mein Empfinden drückt er einfach die Wut oder auch das Unverständnis aus über den täglich in irgendwelchen Talkshows oder Zeitungen verbreiteten Schwachsinn über "Schutz der Ehe" und den "gefährdeten Fortbestand der Gesellschaft" durch Gesetze, die Schwulen und Lesben die Adoption erleichtern oder erlauben.
Bleibt die Frage, warum so etwas nicht zum Theatertreffen eingeladen wird, stattdessen aber die gefühlt zehnte Fritsch-Inszenierung.
"...dass Angehörige einer Minderheit auch nicht toleranter sind als alle anderen" - Entschuldigung, aber gegen Diskriminierung bis hin zum Mord aufzustehen ist nicht Intoleranz, Toleranz für Homophobie und Schwulenhass nicht Ausdruck von Fortschrittlichkeit oder Intelligenz. Hat es nicht einmal geheißen: Keine Toleranz den Intoleranten?
Und natürlich ist es fragwürdig, Erika Steinbach für ihr Privatleben anzugreifen - es wird aber legitim, wenn eine Politikerin das Privatleben anderer Menschen verbieten und reglementieren möchte und damit zum Politikum macht!
Hier wird eine falsche Toleranz für Intoleranz gefordert, die sehr seltsam anmutet ...
Ich verstehe auch immer noch nicht, warum hier permanent von "der Russe" und "mein Volk" usw. gesprochen wird. Das ist doch auch nicht ernst gemeint, oder? Es wird hier doch jedem klar, dass es "den Russen" und "mein Volk" (der Russen oder der Schwulen usw.) nicht gibt. Ach, Mensch, bei Schlingensief ging's wenigstens immer nur um das "Ich", Hier, bei "Small Town Boy", soll's offenbar um Kollektive gehen, die aktiv werden und kämpfen müssen. Warum eigentlich. "Den Türken" bzw. "die Türken" um Shermin Langhoff, die gibt's doch auch nicht, oder?
Einige Teile von der Rede empfinde ich als wirklich gut getroffen und in der Wut schon wieder komisch (u.a. den Steinbach-Teil), andere wiederum nicht. Das mischt sich aber so sehr, dass man hier nicht die Freiheit hat, selbst zu entscheiden. Man wird quasi in die Opposition getrieben. Ich beschrieb das schon in einem meiner Kommentare weiter oben.
"Flache texte" war ein Witz, oder?