Der Dämon der Geilheit

von Claude Bühler

Basel, 25. Januar 2014. Düster ragt eine riesenhafte Skulptur aus ineinander verschachtelten Stühlen in den Bühnenhimmel. Weihrauch steigt aus ihr empor, füllt das Schauspielhaus. Frauen und Männer umstellen sie, jede und jeder für sich, die Arme an sie gelehnt, die Schultern gebeugt, als wäre das Ding die Klagemauer. Ohne dass man zunächst etwas hört, spürt man: Sie beten.

Aber was ist das für ein Ding der Anbetung und Hingebung? Jedenfalls ist es größer als wir. Und mächtiger. Für den spanischen Regisseur Calixto Bieito, der es auf die Bühne stellen ließ, ist es in der Tragödie "Bluthochzeit" seines Landmannes Federico Garcia Lorca der unüberwindliche und alles bestimmende Dämon der Geilheit.

Heiß aufs Blut

Wollen die Mutter (Grazia Pergoletti) und ihr Sohn (Philippe Graf) mit dem Brautvater (Martin Hug) die Hochzeit mit seiner Tochter vereinbaren, so weidet der gerade einen Ziegenbock aus. Zu den Absprachen über Kirchgang etc. lässt er die blutigen Eingeweideklumpen in einen Kessel plumpsen. Lachend peitscht er mit einem Lappen den Hintern der Magd (Vera von Gunten), die auf allen vieren das Blut aufwischt. Führt er endlich die Tochter (Zoe Hutmacher) vor, stellt er sie so grob hin wie ein Pferd, reckt ihr das Gesicht so vor, als müsste man das Gebiss prüfen. Heftig und oft schlägt sich die Braut später auf das Geschlecht, weil ihre Leidenschaft nicht für den reicheren Bräutigam, sondern für den armen, mittlerweile verheirateten Leonardo brennt, der seinerseits sein Pferd schindet, um in der Nacht vor dem Fenster seiner einstigen Verlobten aufzutauchen.

bluthochzeit1 560 HansJoergMichel hTango obzön: Grazia Pergoletti und Martin Hug als Bräutigammutter und Brautvater.
© Hans Jörg Michel

Alle Heiligkeit geht auch der Hochzeitsfeier ab. Mutter und Brautvater legen einen obszönen Tango hin. Dann fummelt er kichernd einer Bediensteten zwischen den Beinen. Die Mutter demonstriert ihrem Sohn handgreiflich und mit sichtlichem Vergnügen, wie er den Willen seiner Braut in der Nacht zu überwinden habe. Und flieht die Braut mit Leonardo, vom Bräutigam verfolgt, so hängt der Mond (Katka Kurze) breitbeinig onanierend in einem Stuhl, heiß auf das Blut der beiden jungen Männer, die sich umbringen werden.

Alles immer auf tutti

Fast immer nur von unten und seitlich fällt das Licht auf die Figuren, verzerrt die Gesichter zu Fratzen, verleiht dem Szenario etwas Spukhaftes, zumal bei der nächtlichen Verfolgung, wo Trockeneisnebel grün beschienen über die Bühnenfläche zieht.

Oft hat man in Lorcas Stück von 1933 den Konflikt mit der katholischen Sittenstrenge betont. Davon ist bei Bieito fast nichts mehr übrig. Als der Bräutigam der Braut bei der Hochzeit an den Hintern fasst und sie sich wehrt, meint er, es sei ja jetzt geheiligt. Aber er sagt das so daher, als wär's eine äußerliche Formsache. Den Hochzeitsgesängen fehlt jede Heiterkeit. Vielmehr erinnert der dunkle "Aaaaaaah"-Gesang aus vielen Mündern an eine archaische Beschwörung der Säfte.

Wenn etwas von dieser ersten Basler Schauspielarbeit Bieitos, der dort seit dieser Spielzeit "artist in residence" ist, in der Erinnerung bleiben wird, so ist es seine brachiale Szenenpoesie. "Oh nein", entfährt es einer Sitznachbarin, wenn Leonardos Frau (Judith Strössenreuter) im Streit mit ihrem untreuen Mann Wasser von unter dem Jupe auf den Boden platscht. "Weinst Du schon wieder", faucht er sie an. Sieht die Braut ein, dass die Hochzeit unvermeidlich ist, mit der sie sich von ihrer Leidenschaft für Leonardo retten will, so kreischt sie ins Auditorium. Alles geht gegen außen, alles immer auf tutti.

Maximale Expression

Nur wenig bleibt für das Innere, für die Vibration des zurückgehaltenen Eros, für die hohe Ladung Lyrik in Lorcas Einzeilern, für die antike Strenge der Figuren, deren Selbstbewusstsein ein Ausagieren, wie es hier auf der Bühne gezeigt wird, aushöhlen würde. Das Manko sollen bei Bieito die übersteigerte Getriebenheit und die drastische Explizitheit kompensieren. Es ist diese eine Idee, die Forcierung der Leiblichkeit, die die Inszenierung über ihre gesamten 90 Minuten tragen muss. Vom Ensemble hat er, das merkt man, maximale Expression verlangt. Nicht immer gelingt das, einigen Akteuren fehlt dazu die Kraft. Und besonders bei den längeren lyrischen Passagen wünschte man sich ausgiebigere Probezeit, vielleicht auch mit einem Regisseur, der der deutschen Sprache mächtig ist – zu oft hört man da bloß Papier. Wut und Lautstärke allein machen noch kein überzeugendes Ganzes.

Manche Spieler treibt Bieito allerdings auch in eine Intensität, die sie über sich hinauswachsen lässt: Judith Strössenreuter etwa, die ihren bislang stärksten Auftritt in Basel hinlegt. Sympathisch an Bieitos Inszenierung ist auch, dass sie nie niedlich ist, sondern immer deutlich. Und dabei doch nicht effekthascherisch. Man habe das Blut für Bieito schon bestellt, scherzte Schauspieldirektor Tomas Schweigen im Mai 2013, als das Engagement des skandalträchtigen Spaniers verkündet wurde. Für diesmal unterläuft Bieito diese Witzelei, denn bei aller Drastik ordnet er alles dem Ausdruck unter. Dafür gab's in Basel Bravorufe.

 

Bluthochzeit
von Federico Garcia Lorca
Deutsch von Rudolf Wittkopf
Regie / Bühne: Calixto Bieito, Kostüme: Cornelia Schmidt, Licht: Anton Hoedl, Dramaturgie: Ute Vollmar.
Mit: Karl-Heinz Brandt, Philippe Graff, Vera von Gunten, Martin Hug, Zoe Hutmacher, Katka Kurze, Julian Hackenberg Grazia Pergoletti, Judith Strössenreuter.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater-basel.ch

 

 

Kritikenrundschau

Bieito zeige sich in seiner "Bluthochzeit"-Inszenierung "erstaunlich diszipliniert", meint Alfred Schlienger in der Neuen Zürcher Zeitung (27.1.2014). "Genauer, er vertraut der dunklen poetischen Kraft, die in der lyrischen Tragödie seines andalusischen Landsmannes steckt." Das Ganze komme "betont statisch daher", das "simple Handlungsgerüst werde unterspült von einem lyrischen Strom voll sinnlicher Naturmetaphorik". Bieito erzähle "mit den Mitteln des Theaters". Herauskomme eine "anstössige Liturgie der Triebunterdrückung."

Im Tages-Anzeiger (27.1.2014) schreibt Andreas Tobler, dass Bieito "nicht nur an seinen Stoff" glaube, "sondern auch ganz stark an den Theaterapparat, mit dem er Bilder und Stimmungen erzeugen will". Doch obwohl er "ohne Scheu den Apparat" bediene, verfehlten "die meisten seiner Theatereffekte ihre Wirkung; zu erkennbar sind sie in ihren Absichten. Angesichts der durchschlagenden Wirkungslosigkeit stellt sich umso dringlicher die Frage, warum man sich der 'Bluthochzeit' aussetzen" solle, "deren Handlung doch nur aufgrund einer altertümlichen Gesellschaftsordnung" funktioniere.

Bieito tue "etwas Merkwürdiges", befindet Stephan Reuter in der Basler Zeitung (17.1.2014). Er forciere "einen Ingrimm, der aus jeder Silbe herausproletet, wie sich ein Stadttheater die ach so archaische ländliche Hölle vorstellt. Und das Ensemble, das einer andalusischen Familienfehde aus den fernen Zwanzigerjahren nachfühlt, erinnert fatal an gewisse Donna-Leon-Fernsehkrimis, in denen Venezianer reden wie mitteldeutsche Provinzstädter bei Hochwasser."

Bieito inszeniere dieses "kraftvolle Stück von Leidenschaft und Brutalität" auf die "einzig erträgliche Art", meint Susanna Petrin in der Basellandschaftlichen Zeitung (27.1.2014). "Nicht als analytisches Stück (…), sondern als abstraktes, karges Kunstwerk". Doch "der Regisseur wäre nicht Bieito, wenn er mit Gefühlen sparte. Die Schauspieler sind gefordert, ihr Innerstes und Dunkelstes herauszukehren." Dabei gelangten zwar "einige der Basler Schauspieler spürbar an die Grenze ihres Könnens, ihrer Glaubwürdigkeit. Doch keinem misslingt die Aufgabe." Vor allem die Frauen hätten "an der Premiere Höchstleistungen" vollbracht.

Bieito inszeniere eine "kraftmeiernde griechische Tragödie im Gewand des traurig-schwarzen spanischen Katholizismus", so Christian Gampert im Deutschlandfunk (26.1.2014). "Man kann das so machen, wenn man die Schauspieler dafür hat. Hat man in Basel eher nicht". In Bieitos weihrauchschwangerer Inszenierung habe von vornherein die Kirche gewonnen, die Ehre, die Konvention, der Machismo. "Und, leider, auch das Pathos."

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