Ticktack macht die Kaffeekanne

Katrin Ullmann

Hamburg, 1. Februar 2014. Es sind Einblicke in die Arbeit, in den Schaffensprozess und in das eigene Scheitern. Es sind Gedanken über Kunst und Geschichte, über Wahrnehmung und Darstellung, über künstlerische Arbeit und über die Definition von Zeit. Mit seiner fünfteiligen Lecture Performance "Drawing Lessons", die mit der Kammeroper "Refuse the Hour" abschließt, ist William Kentridge am Hamburger Schauspielhaus zu Gast. Darin zeigt der derzeit wichtigste südafrikanische Künstler und Dauergast der documenta Material aus mehr als 20 Jahren seines Schaffens.

Kentridges Werk – angefangen in den 1970er Jahren mit Zeichnungen, die die politischen Verhältnisse in Südafrika thematisierten – umfasst Animationsfilme, Schattenspiele, Theaterproduktionen, Multimedia-Installationen und Performances. Basis dieser Hamburger Vortragsreihe bilden die "Norton Lectures", die Kentridge 2012 in Boston hielt. Ein Wochenende lang übernimmt der preisgekrönte Künstler höchst persönlich seine Werkpräsentation, ab Mitte Februar wird Ensemblemitglied Joachim Meyerhoff ihn doublen.

Kaffeekanne statt großer Idee

In seinen "Drawing Lessons" tritt Kentridge nahbar auf und ungemein sympathisch. Er ist einer, der mit beherzter Offenheit und leiser Ironie von seinen Schaffenskrisen berichtet, der das Prozesshafte hinterfragt und an die Dummheit mehr glaubt als an die große Idee. Er ist einer, der sich schier endlosen Selbstversuchen unterzieht, der universelle Fragen stellt und in seinen Antworten anschaulich bleibt. Angefangen von der Formbarkeit des Materials über die Verwandlung physischer Handlung in Gedanken bis hin zum Übergang des Einzelbilds zum Bewegtbild: In seinen sehr persönlichen "Drawing Lessons III & IV" offenbart Kentridge in Wort und Bild seine Arbeitsweise und seine Versagensängste, erzählt vom Kreise drehen im Atelier und davon, wenn am Ende statt einer großen Idee immer wieder die profane Kaffeekanne motivgebend ist.

Auf einer riesigen Projektionsfläche werden währenddessen Kurzfilme gezeigt, Skizzen, Vorbilder, Sternenstaub. Es ist ein unterhaltsamer und geistreicher Ritt durch die Werk- und Kunstgeschichte mit prägnanten Ausflügen in die Literatur. Und Kentridge bewegt sich stets im Rahmen des Zumutbaren und Nachvollziehbaren.

refuse the hour8 560 john hodgkiss u© John Hodgkiss

Rhythmisch keuchendes Kunstgewerbe

Wenn als letzter Teil die Kammeroper "Refuse the Hour" auf die Bühne gebracht wird, erhalten seine Formulierungen und Gedanken eine weitere Darstellungsebene. Neben den sich immer wieder amortisierenden Skizzen, neben Metronomen, Schattenrissen und Megaphonen, neben mechanischen Schlagwerken und anachronistischen Zeit-Mess-Konstrukten sind nun mehrere Sänger, Musiker und mit Dada Masilo der Shootingstar der südafrikanischen Tanzszene auf der Bühne zu sehen. Die eingängige Musik von Philip Miller bewegt sich haarscharf an der Grenze zum Kitsch, die reich bebilderte Opern-Show tanzt auf dem schmalen Grat zum Kunstgewerblichen. Rhythmisch atmend, keuchend, und auch rückwärts singend (übermenschlich: Joana Dudley) arbeitet das Ensemble gegen die Zeit. Alles Gesagte wird sofort zurückgenommen, alle Spuren werden verwischt, alle Uhren zurückgedreht und doch bleibt ein ständiges Ticktack.

Wenn die Ernsthaftigkeit nicht gelingen will

Sequenziert von den Betrachtungen Kentridges zu Felix Ebertys "Gedanken über Raum, Zeit und Ewigkeit", von Exkursen zu Perseus und der Schicksalhaftigkeit seines Orakels sowie Gedanken über Schwarze Löcher und den Unterwelt-Fluss Styx, versucht der letzte Teil des Abends mit aller Kraft, mit Gesang und Trompeten ein ernsthaftes Gesamtkunstwerk zu werden. Doch es will ihm nicht gelingen. Irgendetwas fehlt: Sperrigkeit, Reibungsfläche, Grenzüberschreitung, Kontroverse?

Am Ende dieser allzu märchenbuchmagischen, zugleich jedoch hochkarätig performten Revue macht sich massenhafte Begeisterung breit und beim Gang zur Garderobe raunt jeder Zweite: "Es war sooo poetisch!" Poetisch, im streitbaren Theater ein Schimpfwort.

 

Drawing Lessons IV, V und Lesson VI: Refuse the Hour
Lecture Performance und Kammeroper von William Ketridge
Konzept und Libretto: William Kentridge, Musik und Orchesterleitung: Philip Miller; Choreografie: Dada Masilo, Videokonzept: William Kentridge, Catherine Meyburgh, Bühnenkonzept: Sabine Theunissen, Kostüme: Greta Goiris.
Dauer: 1 Stunden 30 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.de



Kritikenrundschau

Als "Zauberer" erscheint der Künstler William Kentridge dem Kritiker Till Briegleb von der Süddeutschen Zeitung (6.2.2014). In der Lecture erkläre Kentridge sein Handwerk und verblüffe dabei trotzdem, in der Oper zeige er eine "Nostalgie nach der großen europäischen Kultur vor den Kriegskatastrophen". Die Oper sei "im Kern künstlerisches Heimweh nach der Zeit, als Wissenschaft und Kunst noch farbige Abenteuer waren. Als im Vaudeville-Theater neueste mechanische Erfindungen zu Inszenierungen voller Magie dienten, die dann von begeisterten Künstlern im Publikum als expressive Phantasien der Welt überliefert wurden." Die Botschaft des Künstlers sei "weniger Aufklärung, der William Kentridge so hartnäckig misstraut, weil sie immer wieder in neue Regime umkippt, als Sehnsucht nach Rätseln."

Ein "intensives Kunsterlebnis" erlebte Annette Stiekele (asti) vom Hamburger Abendblatt (4.2.2014) bei Kentridge. Der Künstler fessle im Vortrag "mit klugen Gedanken über Kunst und Historie"; vom "Großen arbeitet er sich ins Kleine vor, wir sitzen in der Erkenntnis-Höhle aus Platons Gleichnis, streifen durch das kolonisierte Afrika, landen in der von Gewalterfahrung geprägten Realität von Johannesburg – und schließlich ebenda in einem Bücherregal seines Ateliers." In der Oper begeistere er dann durch "ein gigantisches Universum aus Sprache, Gesang, Tanz und Maschinen in Bewegung".

Kommentare  
Drawing Lessons, Hamburg: Nicht "streitbar" genug?
Weil "poetisch" im "streitbaren Thater" (?) angeblich ein Schimpfwort ist, gehe ich - und offenbar so viele andere - so ungern hin. Gerade Kentridge vermittelt mit seiner Poesie eine politische, kritische haltung, die mit Musikalität und Sinn für Bühne einhergeht - im Gegensatz zum ach so "streitbaren Theater", das manchmal einfach fehlendes Handwerk und die Abwesenheit von Rhythmus und Poesie als Intelligenz begreift. Aber demnach wäre jemand wie Neruda ein dummer Dichter, und das kann ja wohl keiner glauben. Oder ist der nicht "streitbar" genug und der Hinweis auf sein Werk auch ein "Schimpfwort"?
Drawing Lessons, Hamburg: Kritik ein Skandal
Die Kritik ist in ihrer Selbstgefälligkeit, alles bewerten zu müssen - ein Skandal!
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