Schuld - Karin Henkel vervielfältigt Dostojewskis Raskolnikow im Malersaal des Hamburger Schauspielhauses
Es ist die Hölle
von Falk Schreiber
Hamburg, 7. Februar 2014. "Es ist doch bloß die Probe!" Noch darf Raskolnikow einen Fehler machen, noch ist nichts endgültig, noch wird nicht wirklich geblutet und getötet: Es ist "bloß die Probe", ein letzter Durchlauf vor dem Verbrechen. Noch einmal überlegt Raskolnikow, was schief gehen könnte, wo die Fallstricke bei seinem Plan liegen? Und merkt nicht, dass die fiesesten Fallstricke die Überlegungen selbst sind.
Karin Henkel inszeniert Dostojewski am Deutschen Schauspielhaus. Eigentlich war der frühe Roman "Schuld und Sühne" geplant, aber nachdem die Hauptbühne wegen eines Unfalls wochenlang unbespielbar war, lag die gesamte Spielzeitplanung in Trümmern. Henkel zog mit ihrer Produktion in die Nebenbühne Malersaal um und halbierte die Inszenierung: Erstmal wird das Schuldigwerden des gescheiterten Jurastudenten Raskolnikow gezeigt, gut zwei Stunden lang, bis zum echten Mord. Die "Sühne" aber lässt bis kommende Spielzeit auf sich warten – dann will das gleiche Team den zweiten, umfangreicheren Teil des Romans präsentieren. Entsprechend ist nicht ganz klar, was man unter dem Titel "Schuld" zu sehen bekommt: eine eigenständige Inszenierung? Oder nur den Auftakt zu etwas, das sich erst in einem Jahr endgültig erfüllt?
Paniker, Würstchen, brutaler Brüter
Henkel verweigert geschickt eine Antwort, indem sie den fragmentarischen Charakter ihres Vorhabens betont. "Raskolnikow" bedeutet auf Russisch "Gespaltener, Abtrünniger", und in der Regel liest man Dostojewskis Protagonisten als jemanden, der sich von der Gesellschaft abgespalten hat. Henkel setzt allerdings noch einen drauf: Ihr Raskolnikow spaltet sich selbst noch einmal auf in sechs Individuen, er ist im Wortsinn eine gespaltene Persönlichkeit, die von Lina Beckmann, Matthias Bundschuh, Charly Hübner, Jan-Peter Kampwirth, Bastian Reiber und Angelika Richter furios verkörpert wird.
Die Darsteller widersprechen sich, fallen einander ins Wort, bilden einen Chor, zerfasern im Kanon, sprich: Sie versuchen, den Gedankenfluss zu fokussieren, und geraten doch immer wieder ins Ungenaue, sie versuchen, endlich zur Tat zu schreiten und werfen sich dann doch immer wieder skrupulöse Knüppel zwischen die Beine. "Warum muss man denn überhaupt proben?", schreit Kampwirths Raskolnikow einmal. "Ich mach' das jetzt einfach! Ohne Nachdenken, ohne Zögern!" Aber natürlich macht er nichts – schließlich ist so ein Mord zum Scheitern verurteilt, wenn man nicht alle Eventualitäten bedenkt. Es ist die Hölle, die Hölle, die tief in einem selbst versteckt ist.
Immer weiter reitet sich Raskolnikow in seinen Zwiespalt aus Unruhe und Antriebslosigkeit hinein, und jeder von Henkels verhinderten Mördern findet einen eigenen Weg, mit diesem Zwiespalt umzugehen: Bundschuh gibt Raskolnikow als distanzierten Paniker, Hübner als gewalttätigen Brüter, Kampwirth als Würstchen, das krank ist vor Angst – es ist ein großer, perverser Spaß, diesen Schauspielern zuzusehen, wie sie Dostojewskis Text in sich hineinfressen, während der Text sie nach und nach auszehrt.
Stumpfes Versumpfen
Aber irgendwie muss das bisschen Handlung bis zum Mord ja vorangebracht werden. Also verändert sich die Szenerie, also wird eine Bühne auf der Bühne (Thilo Reuther) aufgebaut. Diese ist eine Art Kneipe, in der spielt Alain Croubalian einen skelettierten Blues, außerdem gibt es Bier und Wodka, weswegen die verhinderten Mörder stumpf weitersumpfen können und sogar Kontakt zu anderen Menschen aufnehmen dürfen: zum versoffenen Beamten Marmeladow etwa.
Plötzlich existiert so eine Welt außerhalb Raskolnikow, was der darstellerischen Brillanz des Abends zwar keinen Abbruch tut, die Inszenierung aber ein wenig den Fokus verlieren lässt. Muss Michael Prelle wirklich die Bühne mit hanseatischer Schnoddrigkeit schwarz streichen? Muss Lina Beckmann aus Raskolnikows Mutter wirklich eine Art Rachedämon machen, wo doch bis dato überhaupt nichts passiert ist, das gerächt werden muss? Und führt das wirklich schlüssig zur Mordszene?
"Komm, ich hab keine Lust mehr"
Die wird dann eher en passant absolviert. Kampwirth fasst sich ein Herz beziehungsweise ein Beil, schmettert den Opferschädel anschließend zur Sicherheit noch ein paar Mal auf den Boden, schon ist die blutige Pflicht erledigt. Am Ende gibt es eine mehr oder weniger lieblos angerissene Verhörszene, in der Hübner seine Prominenz als Fernsehkommissar auf die Schippe nehmen darf, schließlich wird unbestimmt auf nächste Saison verwiesen: "Komm, ich habe keine Lust mehr, wir machen ein andermal weiter." Eingestiegen wurde mit einer Probensituation, aufgehört mit einem in seiner Gemachtheit ausgestellten Schlussbild: "Schuld" ist Metatheater, dessen schauspielerische und inszenatorische Qualität nicht darüber hinwegtäuschen können, dass da inhaltlich noch was kommen sollte, in einem Jahr.
Schuld
nach Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Deutsch von Swetlana Geier und Hermann Röhl
Regie: Karin Henkel, Bühne: Thilo Reuther, Kostüme: Nina von Mechow, Musik: Alain Croubalian, Dramaturgie: Christian Tschirner.
Mit: Lina Beckmann, Matthias Bundschuh, Alain Croubalian, Charly Hübner, Jan-Peter Kampwirth, Michael Prelle, Bastian Reiber, Angelika Richter.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.schauspielhaus.de
Mehr zu Karin Henkel und Dostojewski? 2012 inszenierte sie mit einem ähnlichen Team in Köln Der Idiot. Schuld und Sühne (bzw. Verbrechen und Strafe) wird auch anderswo gerne für die Bühne bearbeitet, 2012 etwa von Martin Laberenz in Leipzig, 2010 in Luzern von Barbara-David Brüesch, 2008 bei den Salzburger Festspielen von Andrea Breth.
"Aus der Vervielfachung des in sich zergrübelten Protagonisten gewinnt Henkels Inszenierung viel Kraft, und dem Hamburger Ensemble ist es tatsächlich gelungen, die Energie des frühen Probenstadiums (wo ja alles auch noch ganz anders erzählt werden könnte) bis zur Premiere und in die fertige Aufführung zu retten", meint Michael Laages auf Deutschlandfunk (online 8.2.2014). "Sie darf und soll ja angenehm unfertig wirken, und im andauernden Suchen nach Lösungen wachsen Ironie und Vergnügen." Natürlich fehle dem Abend "der große Zugriff, der forciert intellektuelle Überbau." Aber "als Theaterfantasie unter extrem erschwerten Bedingungen" mache "diese 'Schuld' immerhin viel Appetit auf die "Sühne".
Karin Henkel "stehe ein glänzendes Ensemble zur Verfügung, allen voran Lina Beckmann und Charlie Hübner", schreibt Armgard Seegers im Hamburger Abendblatt (8.2.2014). "Aber auch Angelika Richter, Matthias Bundschuh, Jan-Peter Kampwirth und Bastian Reiber, die alle gemeinsam Gedanken und Zweifel des Titelhelden spielen (…), überzeugen. Jeder zeigt eine andere Facette des Charakters." Man müsse "sich einlassen auf diesen Theaterabend, der auch ein wenig mit Metaebenen arbeitet." Insgesamt sei es "aber ein anregender, schauspielerisch überzeugender Abend".
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 12. Oktober 2024 Sanierung des Theaters Krefeld soll 154 Mio. Euro kosten
- 12. Oktober 2024 Theater an der Rott Eggenfelden: Weiterhin keine Bundesförderung
- 11. Oktober 2024 Theater Ansbach: Großes Haus bleibt bis 2026 geschlossen
- 10. Oktober 2024 Berlin: Neue Teamleitung fürs GRIPS Theater ab 2025
- 10. Oktober 2024 Literaturnobelpreis für Han Kang
- 08. Oktober 2024 euro-scene Leipzig: Kritik an Einladung palästinensischer Produktion
- 05. Oktober 2024 Zürich: Klage gegen Theater Neumarkt wird nicht verfolgt
- 04. Oktober 2024 Interimsintendanz für Volksbühne Berlin gefunden
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
neueste kommentare >