Einverständnis mit Musik

von Willibald Spatz

Augsburg, 10. Februar 2014. Jedes Jahr ein Festival, bei dem es nur immer wieder um einen einzigen Autor geht. Gibt es denn da noch genügend Material, oder dreht sich längst alles in einer Wiederholungsschleife? Viele Programmpunkte beim Brechtfestival haben lediglich einen losen Bezug zum Namensgeber. Und doch finden sich hin und wieder tatsächlich Entdeckungen von Originaltexten, die nie oder selten einem Publikum präsentiert wurden. Als "Das Badener Lehrstück vom Einverständnis" mit Musik von Paul Hindemith im Jahr 1929 in Baden-Baden uraufgeführt wurde, waren die Zuschauer empört, sie protestierten und verließen den Saal, angeblich weil sie mitmachen sollten und der Inhalt sie aufregte.

Die Brecht-Enkelin Johanna Schall hat das Stück nun im Jahr 2014 noch einmal herausgebracht, und diesmal war das Publikum nicht empört. Brecht gelang seinerzeit ein amüsanter Wurf; heutzutage könnte man sagen, das Lehrstück liest sich, als ob Monty Python und Ozzy Osbourne zusammen einen drauf machen und sich alle ein bisschen zu ernst dabei nehmen. An Ozzy Osbourne fühlt man sich erinnert, weil auch hier das Publikum zum Mitsingen animiert wird, immer wieder, weil es jedes Mal ein bisschen zu leise war. In einem Clownsintermezzo werden einem Herrn Schmitt sämtliche Gliedmaßen und der Kopf entfernt – genau wie bei Monty Pythons Ritter der Kokosnuss, nur dass die Kopie in dem Fall witziger ist.

Publikum? Nicht nötig!
Weil weniger mehr ist, verzichtet Johanna Schall darauf, die Szenen allzu sehr zu illustrieren. Es geht um Folgendes: Ein Flieger ist abgestürzt, der Pilot bittet um Hilfe, ein Chor verweigert sie. Es folgen diverse Untersuchungen, ob der Mensch dem Menschen überhaupt hilft, eine Beratung und ein Examen. Abstrakt, geistreich, versponnen. In dieser Inszenierung betreten vor dem Einsetzen des eigentlichen Geschehens die Agierenden die Bühne und sprechen grundsätzliche Sätze Brechts zu Lehrstücken: "Das Lehrstück lehrt dadurch, dass es gespielt, nicht dadurch, dass es gesehen wird. Prinzipiell ist für das Lehrstück kein Zuschauer nötig, jedoch kann er natürlich verwertet werden." Beim Sprechen dieser Worte tun sie so, als bemerkten sie erst, dass sie beobachtet werden.

lehrstueck2 560 diana deniz uNehmen Sie mich auseinander, ich bin nur eine Puppe! © Diana Deniz

Dann ziehen sich zwei Schauspieler Fliegerjacken, -mützen und -brillen auf und schmeißen Papierflieger über die Köpfe hinweg. Später, bei der eben erwähnten Clownsszene, kommt eine überlebensgroße Puppe auf die Bühne, ein Schauspieler bedient sie. Ihr können, wie die Regieanweisungen es fordern, die Gliedmaßen ausgerissen werden. Sogar die Schädeldecke kann man entfernen. Hier wäre vielleicht noch weniger noch mehr gewesen. Ansonsten wohnt man einer netten Abendunterhaltung bei, die allein schon deswegen gelungen ist, weil das Junge Vokalensemble Schwaben, die beiden Orchester und die Sänger sehr gut klingen.

Zeitlose Zivilisationskritik
Nur Brechts Lust, sich seinem Publikum zuzumuten, es zu fordern, die fehlt. Einige Sätze klingen überraschend aktuell: "Einer von uns hat eine Maschine gemacht / Durch die Dampf ein Rad trieb, und das war / Die Mutter vieler Maschinen. / Viele arbeiten daran / Alle Tage / Das Brot wurde dadurch nicht billiger." Zeitlose, immer wichtige Zivilisationskritik, darüber sind sich alle einig, und alle sind glücklich, dass sie hier im 21. Jahrhundert in diesem Rahmen geäußert wird. Bleibt die Frage, wenn so gar keine Empörung mehr aufkommt, wer durch ein Lehrstück überhaupt noch klüger wird.

Man kann es freilich grundsätzlich blöd finden, belehrt zu werden im Theater. Doch dann säße man ja in einer reinen Bildungsveranstaltung, bei der man lediglich erfährt – zu welchem Zweck auch immer –, dass Brecht und Hindemith in den zwanziger Jahren zusammen ein Lehrstück herausgebracht haben, das damals nicht besonders ankam. Und man wünscht sich im selben Augenblick in ein Theater hinein, das einen beleidigt, berührt, langweilt oder ankotzt, das wenigstens irgendetwas mit einem anstellt oben oder unten herum; es würde schon langen, in eine Zeit versetzt zu sein, in der das mit dem Badener Lehrstück noch funktioniert hat als geistiger Muntermacher.

Wahrscheinlich ist das ein bisschen zu viel verlangt, schließlich wendet die Stadt Augsburg eine Menge Geld auf, um dieses Festival auszurichten. Möglichst viele Menschen sollen von möglichst vielen Veranstaltungen zufrieden nach Hause gehen und möglichst wenige irgendwie provoziert sein. Hauptsache, der Name Brecht steht drauf.

Lehrstück
von Bertolt Brecht und Paul Hindemith
Regie: Johanna Schall, Musikalische Leitung: Geoffrey Abbott, Musik: Junges Vokalensemble Schwaben unter der Leitung von Andrea Huber, Musiker des Leopold-Mozart-Zentrums.
Mit: Sonja Hilberger, Marlen Ulonska, Gesang: Benedikt Bader, Wolfgang Wirsching.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.brechtfestival.de

 

Mehr lesen? Im Juni 2010 inszenierte Frank Castorf an der Berliner Volksbühne Das Badener Lehrstück vom Einverständnis.


Kritikenrundschau

"Die Regie von Brechtenkelin Johanna Schall hat das 'Lehrstück' einigermaßen weichgespült", findet Alois Knoller in der Augsburger Allgemeinen (11.2.2014). "Weder floss in ihrer Inszenierung das Theaterblut, wenn die beiden Clowns dem Herrn Schmitt auf der Bühne nacheinander Füße, Arme und Kopf abtrennen, noch nagten die eiskalten Urteilssprüche über den Unglücklichen am Gewissen der Zuschauer." Die musikalische Leistung unter dem Dirigat von Geoffrey Abbott sei den überschwänglichen Applaus am Schluss aber wahrhaftig wert gewesen.

 

Kommentare  
Lehrstück, Augsburg: frühere Aufführungen
Sehr geehrter Herr Spatz,
da haben Sie leider nicht gut recherchiert: Das Lehrstück mit Musik von Himdemith wurde in den letzten Jahren allein zweimal in Berlin neu inszeniert - von Castorf an der Volksbühne (u.a. hat nachtkritik darüber berichtet) und Michael v. zur Mühlen in der Werkstatt der Staatsoper im Schillertheater (u.a. Besprechnung in der NMZ). Von einer Entdeckung kann also nicht die Rede sein und ist allenfalls Marketing des Theater.
viele Grüße
Lehrstück, Augsburg: einige Hinweise
Das “lehrstück“ und „Das Badener Lehrstück vom Einverständnis“ sind zwei völlig verschiedene, im Hinblick auf ihre Zivilisationskritik geradezu gegensätzliche Texte, wobei „Das Badener Lehrstück“ in vielfacher Hinsicht die sozialistische Zurücknahme der radikalen Positionen des „lehrstücks“ darstellt. Die heftige, für Brechts Schaffen äußerst signifikante Differenz der beiden Fassungen ist der Brecht-Forschung weithin entgangen – der Text der Urfassung von 1929 fehlt in der Grossen kommentierten (!) Berliner und Frankfurter Ausgabe, er ist aktuell nur in Hindemiths Partitur zugänglich. Ich habe im Jahre 2006 für das Deutschlandradio eine Hörfassung des „lehrstücks“ erarbeitet, in einer Neuvertonung durch den kubanischen Komponisten Carlos Fariñas, welche den gesamten Text erfaßt, also auch die von Hindemith nicht vertonten Szenen, Anweisungen und Erläuterungen (für Interessierte: Frank-Patrick Steckel: Notiz zum Lehrstück. In: Günther Heeg: Klopfzeichen aus dem Mausoleum. Brecht-Schulung am Berliner Ensemble. S. 101.) Die Hörspielversion des Deutschlandradios gastierte 2006 im Rahmen des "Brecht Fests" als konzertante Bühnenaufführung im Berliner Ensemble.
Die Aufführung an der Volksbühne beschäftigte sich mit der 2. Fassung, die Aufführung an der Staatsoper, wie es scheint, mit dem Urtext, allerdings in einer Fremdtexte einschließenden Bearbeitung. Die Behauptung, das "Lehrstück" sei seit seiner Uraufführung nie wieder gezeigt worden, ist in jedem Fall unrichtig, es finden sich durchaus weitere Inszenierungen des Textes.
Lehrstück, Augsburg: Frage
Aber wir reden hier nicht von Bearbeitungen oder reduzierten Instrumentierungen sondern von dem Stück wie es eben in Hindemiths Partitur dasteht. Wie oft ist es denn so aufgeführt worden?
Lehrstück, Augsburg: mehr als ein halbes Dutzend
Zu Nr. 3: Sollten Sie das mich gefragt haben - mehr als ein halbes Dutzend Mal war es meiner Erinnerung nach nicht, aber das können Sie sicher recherchieren.
Lehrstück, Augsburg: genauer als die Nachgeborenen
Brecht schreibt in seiner Anmerkung zum "Badener Lehrstück vom Einverständnis" : ...müsssen hier in aller Kürze die Anweisungen des Komponisten Hindemith (im Klavierauszug zum "Lehrstück", dem die erste, ganz unvollständige Fassung des Textes zugrunde liegt) als abwegig korrigiert werden. ... An diesem Missverständnis ist wohl hauptsächlich meine eigene Bereitwilligkeit, einen unabgeschlossenen und missverständlichen Textteil, wie es die in Baden-Baden aufgeführte Fassung des Lehrstücks war, zu rein experimentellen auszuliefern, schuld." (zitiert nach: Versuche, Heft 2, 1930-33; Neudruck Berlin 1963). Vielleicht ist Brecht doch genauer als alle Nachgeborenen, die sich über ihn hermachen?
Lehrstück, Augsburg: mit Texten beschäftigen
Zu Nr. 5: Wenn Sie wissen wollen, womit Sie es zu tun haben, müssen Sie sich mit den Texten beschäftigen.
Lehrstück, Augsburg: beweislos
Das mag dass es sich schon sein, sehr verehrter Herr Steckel, aber die Erwähnung des Zitats lässt doch wohl den Schluss zu, dass es sich für Brecht entgegen Ihrer Meinung nicht um eine Urfassung handelt, sondern um einen Textteil, was doch wohl etwas anderes ist und ob das hinreicht, um Ihre Aussage: "Die heftige, für Brechts Schaffen äußerst signifikante Differenz der beiden Fassungen" und die darin von Ihnen behaupteten ideologischen Implikationen zu rechtfertigen, das ist die Frage. Ich habe es vordringlich mit Ihrem, in diesem Fall, beweislosen Text zu tun. Freundlichst
Lehrstück, Augsburg: Vergleichen Sie!
Nr.7: Wie gesagt. Die Beweise liegen da, wo Sie nicht hinsehen wollen. Brecht versucht, unter dem Druck der überwiegend linken Kritik, seine Spuren zu verwischen. Vergleichen Sie die Fassungen.
Lehrstück, Augsburg: Der Springpunkt für Deutschland
2010 waren Sie auskunftsfreudiger. Sie argumentieren: "Der 1929 aufgeführte Text hiess lediglich "lehrstück". Er unterscheidet sich stark vom ein Jahr später veröffentlichten "Badener Lehrstück..." Die linke Kritik am radikalen Fortschrittszweifel der ursprünglichen Fassung (in Brechts Gesamtwerk allenfalls noch im "Fatzer-Fragment" anzutreffen) veranlasste Brecht u.a., dem solistischen Flieger der Erstfassung nunmehr "Monteure" gegenüber zu stellen - sie dürfen, qua korrekter Klassenzugehörigkeit, weiter fliegen, das reaktionäre bürgerliche Großindividuum hingegen muss die Bühne verlassen. Die frühe Fassung ist selbst in der Berliner/Frankfurter (Aufbau/Suhrkamp) Werkausgabe nicht gedruckt worden, sie findet sich lediglich in der Paul-Hindemith-Werkausgabe des Verlags Schott - ein editorischer Skandal ersten Ranges. In der Erstfassung nämlich singt der Flieger: "dann lerne ich/was ich tat war falsch/denn jetzt lerne ich/daß der mensch/liegen soll und nicht/sammeln höhe noch tiefe/auch nicht geschwindigkeit". Nach diesen Versen wird man im "Badener Lehrstück" vergeblich suchen." Diese Argumentation ist natürlich schwach gegenüber einem Autor, der sein Werk im steten Fluss hielt, es als Versuch verstand und sich anpasste und verweigerte, lernte und verlernte und eins doch nicht aus dem Auge verlor: "Wenn keine Gewalt mehr herrscht, ist keine Hilfe mehr nötig. Also sollt ihr nicht Hilfe verlangen, sondern die Gewalt abschaffen." Darum ging es Brecht vordringlich im Badener Lehrstück, gleich ob in der ersten oder der zweiten Fassung. Das ist der Springpunkt, der eine Frage stellt, die zu beantworten wohl jedermann in Deutschland gern umgeht, die sich aber in der Welt um uns unausweichlich stellt. Darum geht es heute, gleich wie 1929.
Lehrstück, Augsburg: Zwei Seelen in Brechts Brust
Denken Sie, daß der von Ihnen zitierte Satz in der Fassung von 1929 steht? Sehen Sie?! Er findet sich dort ebenso wenig wie der von mir zitierte sich im „Badener Lehrstück“ findet. Fundamentale Zivilisationskritik wird ersetzt durch eine unreife linke Sophistik, das „Unerreichbare“ der ersten Fassung verwandelt sich in das „Noch nicht Erreichte“ der zweiten. Glauben Sie mir, in Brechts Brust wohnte mehr als eine Seele.
Lehrstück, Augsburg: unreife Sophistik
Da sind wir einer Meinung, nur: Brecht verwischte die Spuren nicht. Das war der springende Punkt. Er vermerkt sehr wohl für den Leser nachlesbar die Korrektur von " das Unerreichbar" in "das noch nicht Erreichte". Aber egal, Sie sprechen es aus und diesen Widerspruch wollen wir dann so stehenlassen, Sie lesen Brecht unter dem Aspekt fundamentaler Zivilisationskritik und ich unter dem, was Sie unreife linke Sophistik nennen.
Lehrstück, Augsburg: Brecht hätte...
F.-P. Steckel und Einer: Ja, sehr schön, die Herren. Glauben Sie ernsthaft, das hätte Brecht auf der Probe gefreut? - Er hätte vermutlich die Probe abgebrochen; was Nettes gegessen, geraucht oder irgendwas anderes mit ge- und sich dann an eine nächste Fassung gemacht, weil er an Ihrem Klein(lichkeits)krieg praktischerweise gesehen hätte, dass er was falsch gemacht hat, wenn die Sache verwischt wird, um die es ihm – auch und vor allem in Verbindung mit Hindemith! – geht. Und es hätte sich um ihn herum gewiss jemand bereitgefunden, auch diese künstlerische Produktionsbewegung möglichst genau zu dokumentieren. Für die Nachgeborenen und deren eigenes Denken. Er hätte sich vielleicht bei Ihnen für den Probestreit bedankt, den er konstruktiv, seinem poetischen Genie verpflichtet, genutzt hat. Und hätte es vermutlich trotzdem besser gefunden, wenn man für Hindemith schneller voran gekommen wäre… Denk ich. Er hätte Geduld mit Ihnen gehabt und gelächelt. DAS bewundere ich bis heute uneingeschränkt als Arbeitshaltung von der man als Heutiger nur lernen kann! Als das Wesentliche am Brecht. – D. Rust, freundlichst.
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