Ibrahim must stay

von Matthias Weigel

Berlin, 9. Februar 2014. Zum Glück gibt es nicht in allen europäischen Ländern direkte Volksabstimmungen wie in der Schweiz. Wer hätte gedacht, dass einem dieser Satz so einfach über die Lippen gehen könnte. Aber spätestens nachdem sich nun die Mehrheit der Schweizer für eine Begrenzung der "Masseneinwanderung" von "Fremden" entschieden hat, macht sich die Befürchtung breit, dass in den meisten europäischen Ländern das Ergebnis ähnlich ausfallen würde. Und natürlich nicht aus lachhaften Beweggründen wie "überlastete Autobahnen" oder "Wohnungsnot", wie sie in puncto Schweiz ernsthaft angeführt wurden.

Dass die Premiere der neuen Inszenierung von Nuran David Calis auf den gleichen Tag wie die Volksabstimmung fällt, kann man hochaktuell nennen – oder zynisch. Der Titel des Abends "Tee im Harem des Archimedes" ist eine Verballhornung von "Theorem des Archimedes", durch – genau: eingewanderte, fremde – Schüler. In der französischen Roman- und Filmvorlage von Mehdi Charef sind es Madjid und Pat aus dem Maghreb, in Calis’ Jugendtheater-Bearbeitung an den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin sind es (auch) Ibrahim und Marof aus Guinea und Afghanistan.

NDH statt DSDS

Christoph Franken führt als sich aufreibender Showmaster, Nebenrollenclown und stellvertretender Deutscher durch eine grelle Flüchtlingsrevue mit "NDH"-Darstellern, wie es in deutscher Beamtensprache heißen würde, also "nicht deutscher Herkunft". Er zeigt auf herrlich einfache Weise, wo die Probleme schon anfangen: Wie soll ein frisch eingewanderter Asylsuchender Aufforderungen wie "Bitte schildern Sie mir, wie und wann Sie nach Deutschland gekommen sind" auf deutsch verstehen?Archimedes1 560 ArnoDeclair hMarof Yaghoubi, Ibrahima Baldé und - kaum zu erkennen – Christoph Franken. © Arno Declair

Ibrahima Baldé, der im Banlieue-Bühnenbild nicht nur das triste Einwandererleben des Madjid zwischen Drecksarbeit, Kleinkriminalität und Entwurzelung nachstellt, sondern auch seine eigene Flüchtlingsgeschichte erzählen wird, antwortet deshalb auf Englisch. Von spanischen Schleusern ist er im Inneren des Fahrersitzes eines Autos über die Grenze gebracht worden. Nüchtern skizziert er seine Stationen in Spanien, Belgien, Frankreich und schließlich Deutschland. Auf Christoph Frankens bohrende Frage, warum er ausgerechnet nach Deutschland wollte, wechselt Ibrahim nach langer Denkpause in seine Muttersprache.

Keine Verharmlosungen

Es ist das einer der tollen Kniffe von Regisseur Nuran David Calis, der die großen Fragen unumwunden und – im besten Sinne – ganz naiv anspricht, aber Antworten zu Recht scheut. Nicht nur, dass es keine einfachen gibt; die Frage nach dem "Warum" heißt im Klartext ja auch: Was willst du hier in meinem Land? Und es sind wir als deutsche Mehrheitsgesellschaft, die diese Frage stellen. Dabei müssten wir uns vielmehr die Frage gefallen lassen: Warum nicht?

Wie Calis jugendliches Publikum ernst nimmt, zeigt sich auch daran, dass er nicht verharmlost. Süheyla Ünlü spielt unter anderem Pats Schwester, die für eine Handvoll Franc als Prostituierte arbeitet. Christoph Franken lässt erst eine Schaumstoffpuppe über sie herfallen, bevor er sich selbst über das Mädchen hermacht; nun wird sie durch eine Puppe ersetzt, die so grob benutzt wird, bis sie in Fetzen zerfällt. Und ganz fließend, ohne einen Bruch zu realisieren, geht es plötzlich wieder um Marof, der aus Afghanistan vor den Taliban geflohen ist, über die Türkei und Griechenland. Und schließlich geht es auch um das Publikum, das zu einer gemeinsamen Meditationsminute eingeladen ist, in der es mal kein Lampedusa geben soll. Haut nur leider auch nicht hin.

Der Schatz ist hier, wir geben nichts

Ausblenden, das ist eine ähnlich schlechte Lösung wie Aussperren. Ibrahim und Marof und Madjid und Pat sind treffende Beispiele für unsere neue Situation: Dank Globalisierung und Digitalisierung haben heute auch die Menschen in ärmeren und weniger entwickelten Ländern eine Ahnung davon, was es heißen könnte, mit Chancen und Wohlstand zu leben. Allerdings sind die Wirtschafts- und Bildungsvoraussetzungen dort (noch?) so marode, dass man lieber sein Schicksal in Zentraleuropa versucht.

Wenn die Schweiz, wenn wir Klartext reden würden, müssten wir sagen: Der Schatz, auf dem wir sitzen, ist dummerweise bekannt geworden. Und jetzt will jeder etwas davon haben. Nur wollen wir nichts abgeben. Das Problem: Es ist nicht mehr rückgängig zu machen. Einen Zaun darum zu bauen und sich gewaltsam gegen das Teilen zu sträuben, das wäre für alle fatal.

Zwangsversetzung trotz Integration

Der Roman und der Film enden damit, dass sich die Gruppe um Madjid und Pat ein Auto klaut, um ans Meer zu fahren. Als die Polizei kommt, hat Madjid keine Lust mehr zu fliehen und lässt sich verhaften. Im Deutschen Theater fleht Christoph Franken als Erzähler die restlichen Darsteller an, doch schnell wegzurennen. Aber die bleiben erstmal trotzig sitzen. Als das Stück dann praktisch zu Ende ist, gehen alle ab – bis auf Ibrahim und Marof.

Denn deren Flüchtlingsgeschichte ist noch lange nicht vorbei. Für den illegal eingewanderten Ibrahim erhebt sich während des Schlussapplauses sogar ein Demonstrationsgrüppchen, das auf einem Transparent gegen die Versetzung von Ibrahim nach Dortmund protestiert: "Ibrahim must stay". Mit Aufnahme seines Asylantrages wurde er nach einem bestimmten Schlüssel auf ein Bundesland verteilt – und so droht ihm die Zwangsversetzung weg von Berlin, wo er seit anderthalb Jahren die viel geforderte Integration betreibt und sich ein soziales Umfeld aufgebaut hat. Wie viele Jahre überhaupt vergehen werden, bis endgültig über seinen Antrag entschieden wird, darauf kann ihm auch Christoph Franken nicht mehr antworten, der als furioser Showmaster bis zuletzt gegen die Ratlosigkeit angespielt hat.

 

Tee im Harem des Archimedes
nach dem Roman von Mehdi Charef, bearbeitet von Nuran David Calis
Regie: Nuran David Calis, Bühne: Irina Schicketanz, Kostüme: Tine Becker, Musik: Vivan und Ketan Bhatti, Dramaturgie: Claus Caesar, Kristina Stang.
Mit: Ibrahima Baldé, Ketan Bhatti, Vivan Bhatti, Christoph Franken, Alper Senocak, Süheyla Ünlü, Marof Yaghoubi.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

In der Berliner Zeitung (11.2.2014) schreibt Doris Meierhenrich von einem "Missverständnis", dass einen nach 15 Minuten beschleiche. Die verschiedenen Ebenen, der Roman, die Flüchtlinge auf der Bühne sowie die thematisierte Biographie des Regisseurs Nuran David Calis selbst, hätten nichts gemeinsam. Die Romanfiguren hätten schon längst alles aufgegeben, während die Flüchtlinge auf der Bühne noch "alles tun würden, um ein Asyl zu erreichen". Und Calis' Biographie sei aufgrund des Gastarbeiter-Hintergrundes nicht vergleichbar. Die Konstellation pendle deswegen "sinnlos hin und her". "Wie wichtig wäre etwas Intelligentes dazu auf dem Theater!"

"Das ist gut gedacht, säuft aber in seiner chaotischen Umsetzung ziemlich schnell ab", meint Georg Kasch in der Berliner Morgenpost (11.2.2014). Die Bühne mit ihrer Betontristesse auf zwei Ebenen versinke in einer Materialschlacht. Von der Story "bekommt man ziemlich wenig mit, weil Franken sich in den Lese-Passagen schnell in die hysterische Übertreibung schraubt und auch sonst eher durch Ganzkörpereinsatz statt Figurenzeichnung auffällt." Als beim Schlussapplaus die Realtität in Form des Transparentes einbrach, sei der Abend schon längst verloren gewesen.

Die "Banlieu-Romantik" des einst brisanten Romans findet Mounia Meiborg findet in der Süddeutschen Zeitung (12.2.2014) heute "angestaubt". Regisseur Nuran David Calis wolle in seiner Adaption den voyeuristischen "Blick der Wohlstandsbürger auf Flüchtlingsschicksale" anprangern, doch würde dieser "nur reproduziert". Der Abend tappe "mit platter Symbolik und Betroffenheitskitsch zuverlässig in jede Falle, die das Genre Flüchtlingsdrama ihm stellt".

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