Die Möwe - Der Ex-Intendant des ungarischen Nationaltheaters Róbert Alföldi zündet in Eggenfelden ein satirisches Feuerwerk mit Tschechow
Das Feuer der Einsamkeit
von Michaela Schabel
Eggenfelden, 14. Februar 2014. Unglaublich, dass Tschechow so spannend sein kann! Mit einem Stilmix aus Farce und Charaktertragödie inszeniert Róbert Alföldi, Ex-Intendant des ungarischen Nationaltheaters, "Die Möwe" in der niederbayerischen Kleinstadt Eggenfelden. Nicht zum ersten Mal. Seit Jahren beschäftigt sich Alföldi mit diesem Stück. Aber hier in Niederbayern, ein gutes halbes Jahr nach seinem Ausscheiden aus der Budapester Intendanz, ist es ein Debüt. Und was auf den Theaterfotos nach Komödienstadel aussieht, entwickelt sich auf der Bühne zu einem Tschechow der Extraklasse in der flotten Übersetzung von Kristina Horváth.
Mitten in der Provinz ist das "Theater an der Rott" in Eggenfelden, ein 3-Spartenhaus mit 400 Plätzen und 50-jähriger Tradition, das einzige Landkreistheater Deutschlands. Unter Intendant Karl M. Sibelius macht es überregional von sich reden. Bei den 31. Bayerischen Theatertagen in Nürnberg 2013 wurde Sibelius als "bemerkenswerter Theatermacher" geehrt. Der gebürtige Österreicher versteht sein Metier, weiß die Medien mit Schlagzeilen zu bedienen. Mit seinem "Charme und seiner unglaublich erotischen Ausstrahlung" habe er den Ex-Intendanten des ungarischen Nationaltheaters nach Eggenfelden geholt, hieß es in der Programmankündigung. Alföldi ist zweifelsohne einer der bekanntesten Regisseure Ungarns, eine Ikone der Liberalen, ein Dorn im Auge der politischen Rechten, die ihm die Theatermittel kürzten und schließlich den Intendantenvertrag im Juli 2013 nicht verlängerten (siehe zu den Kampagnen gegen Alföldi auch den Theaterbrief aus Ungarn im März 2012).
Grelle Psychosen im Miniaturkosmos
Tschechows "Möwe" ist zwar ein unpolitisches Stück, doch die Holzwand auf der Bühne als Ausdruck geistiger Engstirnigkeit lässt in Alföldis Inszenierung durchaus auch an politische Verbohrtheit denken. Noch sprießen im ersten Teil Farne in Blumenkübeln an der Wand. Der junge Künstler Trepljow (Sebastian M. Winkler) sucht nach neuen Theaterwegen und die Menschen nach Liebe und Anerkennung. Weder das eine noch das andere funktioniert.
Herrlich exaltiert arrangiert Alföldi die kleine Sommergesellschaft und ihr Theater im Theater. Zehn, teilweise von Schauspielschulen gecastete, extrem unterschiedliche Schauspieler formt der Regisseur zu Tschechows Miniaturkosmos gesellschaftlicher Polarisierungen. Seine Tschechow-Figuren sind alles andere als verinnerlicht. Sie leben ihre Psychosen aus. Innenleben stülpt sich nach außen, ein satirisches Feuerwerk, im nächsten Moment Ausdruck Tschechowscher Seelenpein.
Die Menschen sind isoliert, sie kauen Kaugummi. Die Zeit steht still. Doch in den Blickachsen bauen sich Emotionen auf, die die Entladung ahnen lassen. Im Achterpack einer Stuhllinie aufgereiht, nebeneinander, vor oder auf der Holzmauer, oszillieren die Figuren zwischen marionettenhafter Typisierung, überzogener Hysterisierung und menschlichem Elend. Hart und schrill geht es zur Sache, bewegungsintensiv, oft im Profil mit scherenschnittähnlicher Akzentuierung. Seelische Leere explodiert in hysterischen Anfällen, fängt sich in zärtlicher Geste wieder ein. Der nächste Ausbruch folgt. Mitunter konterkariert eine Schnulze die Gefühlslage.
Poetische Spuren
Stephanie Brenner zieht als Trepljows Mega-Mutter in rotem Kleid die Blicke auf sich, eine Grand Dame mit Diva-Allüren, macht-, herrsch- und eifersüchtig, großartig gespielt in neurotischer Hysterie. Aline Joers als Trepljows Liebe Nina bildet den Gegenpol mit mädchenhaft erfrischender Erotik und jugendlichen Idealismus. Sie hinterlässt die poetischen Spuren, nicht zuletzt durch ihr leitmotivisches Möwengegurre, überaus facettenreich zwischen Liebe und Elend.
Im zweiten Teil fügt sich die Holzwand wehrhaft zusammen. Oben spielen die einen, die andern liegen unten im Elend. Das Grün verschwindet. Trepljow ist inzwischen auch ein bekannter Dichter. Doch um welchen Preis? Ein Angepasster. Das ist Róbert Alföldi sicher nicht.
Die Möwe
von Anton Tschechow
Deutsch von Kristina Horváth nach der ungarischen Fassung von Imre Makai
Regie: Róbert Alföldi, Ausstattung: Ilona Agnes Tömö.
Mit: Markus Baumeister, Ursula Berlinghof, Stephanie Brenner, Michael del Coco, Aline Joers, Günter Reiner, Armin Stockerer, Elisabeth Therstappen
Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.theater-an-der-rott.de
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Warum gibt es in Deutschland im Moment soviel Theater das gar keine Position bezieht.
Als würden die Regisseure darauf achten nur nichts Eindeutiges zu zeigen,nur nichts worauf man sie festnageln, sie ansprechen könnte.
dann waren Sie offensichtlich in einer anderen Vorstellung. Sie wissen ja, mit Tschechow ist das so eine Sache....
War gestern zum ersten Mal im Theater an der Rott: tolles Marketingkonzept, wirklich innovatives Layout und dieVorstellung selbst: Kann mich nicht erinnern in München einen so überzeugenden Tschechow gesehen zu haben. Das ist schon bemerkenswert, was dort abgeht. Fein auch, dass sich der Intendant nach der Vorstellung den Frsgen der Zischauer stellt und gemeinsam mit dem Ensemble diskutiert. Auf für jeden Fall ein aussergewöhnlicher Abend und die Anfahrt hat sich gelohnt.
Das Theater ist es wert entdeckt zu werden. Habe ein phantastisches Sweeney Todd dort gesehen (inszeniert vom Intendanten, Sänger gleichzeitig Chor und Orchester, unglaublich), die Oper HÄNSEL und Gretel auf Volksmusikunstrumenten, eine DE einer Stubenoper von Robgsgwandl und jetzt kommt noch die Uraufführung einer Kammeroper: es wird Zeit, dass sich auch die Fachleute Zeit nehmen nach Eggenfelden zu reisen: da entsteht gerade was Besonderes.
soviel also zum "marketingkonzept" und den elegien u.a. auf den superchef.
ab dafür!
Ich denke und hoffe, das es Theater und Intendant nicht nötig haben nach einer guten Kritik hier, so offensichtlich und uncharmant für sich selber zu werben.
Wir sind ein Theaterclub aus Passau, die noch gemeinsam mit dem Bus ins Theater fahren und bei der Rückfahrt gemeinsam diskutieren, über das Gesehene. Unsere Gruppe hat die Premiere von Möwe besucht und ein Großteil war eben begeistert und möchte das auch kommunizieren. In der Region selbst wird der Intendant für seine Arbeit extrem angegriffen, auch bei uns waren nicht alle von der Regie begeistert.
Schleppend höchstens ein wenig zu Beginn- ja, man muß reinkommen.
Aber dann wirds besser und besser. Wunderbares ensemble! bin sehr froh, daß ich da war!