Miniaturen der Menschenbeobachtung

von André Mumot

Berlin, 21. Februar 2014. Der Vater schweigt. Baba. Wir sehen ihn auf einem Sofa sitzen, im fernen Dubai, wo er nickt und nichts sagt und angegriffen aussieht. Das Video ist dokumentarisch, und das, was hier, im Heimathafen Neukölln, erzählt wird, ist wahr. Deshalb steht auch auf dem Programmzettel: "Wir danken Sinan al-Kuri für die Offenheit, uns seine Lebensgeschichte anzuvertrauen. Sinan, wir haben sie mit Samthandschuhen ausgeschlachtet! Lass uns Freunde bleiben."

Sinan al-Kuri ist schon lange Teil des künstlerischen Ensembles im selbsternannten Neu-Berliner Volkstheater "Heimathafen Neukölln" und hat in der inzwischen legendären "Arabboy"-Inszenierung von 2009 auf der Bühne gestanden, auf die im Jahr darauf eine bejubelte "Arabqueen" folgte – und mit "Baba" nun eine Art späte Fortsetzung. Diesmal keine Romanadaption, die die fremd-gefährlichen Jugendkulturen der Migrantenkinder zwischen Intensivtätertum und weiblicher Selbstfindungsverhinderung ausleuchtet. Statt fiebriger Pubertätsstudie mit soziologischem Ausrufezeichen findet auf der kahl weißen Hafenbühne nun eine ganz persönliche Biographieaufarbeitung statt. Ein Projekt, das vor allem eins nicht sein muss: allgemeingültig.

baba 560 verenaeidel uBurak Yigit interpretiert seinen Kollegen Sinan al-Kuri. Im Video: der Vater, Baba, in Dubai
© Verena Eidel

Um einen, der auszog, um erwachsen zu werden, geht es diesmal, ums nüchterne Porträt des Arabboys als junger Mann. Mit knuddelig linkischem Charme interpretiert Burak Yigit seinen Kollegen Sinan al-Kuri an diesem Abend als haarwuschligen großäugigen Kindskopf und X-Box-Zocker, der sich in die Studentin Niko (Tanya Erartsin) verliebt und plötzlich Vater werden soll. Anlass, sich verspätet der eigenen irakischen Wurzeln zu besinnen und zum ersten Mal seine leiblichen Eltern aufzusuchen, die ihn als Kleinkind ihrer deutschen Schwägerin zur Adoption gaben und inzwischen in Dubai leben.

Per Orientteppich nach Dubai

Diese Reise, die bereits 2007 in dem Film "Mein Vater. Mein Onkel." dokumentiert wurde, ist eine so schillernd exotische wie überfordernde Konfrontation mit der Fremde, mit Tänzen, Familiensitten, Gebetsriten und touristischen Blicken auf den Basar, zu der sich majestätisch der große Orientteppich entrollt, der in den Deutschlandszenen, noch unter dicker Einwickelfolie verborgen, als knautschiges Allzweckmöbel dienen musste. Im so geschaffenen Bühnen-Dubai kleben sich die Damen denn auch gleich dunkle Schnurrbärte an, schieben sich Bäuche unters Hemd, geben buffo-artig rustikale Brüder und umarmen den neu-Ankömmling mit vielleicht allzu lustiger Karnevals-Emphase.

Das Team rund um Regisseurin und Textverfasserin Nicole Oder legt an diesem Abend die eingangs erwähnten Samthandschuhe nicht ab und schaut mit liebevollem Respekt echten Menschen über die Schulter. Nichts soll dabei künstlich dramatisiert oder aufgebauscht oder in größere Erkenntniszusammenhänge über das Selbstverständnis von Migrantenin Deutschland oder den Alltag in einem arabischen Land gerückt werden.

Doch immerhin: Die eine oder andere Daseinserschütterung lässt sich von den Darstellern wenigstens an der Oberfläche andeuten. Besonders eindrücklich, wenn Sascha Ö. Soydan als Sidans leibliche Mutter eine beklemmend glaubwürdige Wandlung durchmacht: Zuerst schwanger im Irak der späten 1970er – noch im Businesskostüm, umgeben von drei lärmenden Kindern, gefangen in der Frustration darüber, dass sie für die Familie ihre berufliche Selbstverwirklichung aufgeben muss. Später dann, bei der Wiederbegegnung: schwarz verschleiert, unsicher, eine zitternde Mutter, die ihren verlorenen Sohn hilflos füttert, die weint und lächelt, die sich nicht verständlich machen kann und einem das Herz bricht.

baba1 560 verenaeidel uBuffo mit Bärten: die Spieler_innen vom Heimathafen Neukölln © Verena Eidel

Dass solche Momente des aufschlussreichen Unbehagens nur selten Raum bekommen, unterstreicht jedoch die ganz anders gelagerten Qualitäten des Abends. Zum Anstacheln von Brisanz-Diskussionen mögen sich diese anderthalb Stunden nicht eignen, dafür bieten sie aber eine unwiderstehlich warmherzige Aneinanderreihung kleiner Menschenbeobachtungen.

Volkstheater ist das also tatsächlich, weil sich "Baba" fast ausschließlich aus aufrichtigen Wiedererkennungsmomenten zusammensetzt, im Ernsthaften wie im Komischen: Wenn sich Burak Yigit und Tanya Erartsin in einem Liebesduett ohne falsche Lässigkeit eine Packung Mon-Cherié teilen etwa, oder wenn sich Inka Löwendorf von der Alt-Berliner Pflegefall-Rentnerin zur servilen Flugbegleiterin und zurück zum kiffenden Neuköllner-WG-Mitbewohner in Bomber-Jacke verwandelt. Jede Miniatur ein Überzeugungsereignis.

Am Ende sehen alle glücklich aus, obwohl der Vater immer noch schweigt, obwohl die Fremde unerforscht bleibt und das Stück mit dem herben Dämpfer einer Abtreibung schließt. Der echte Sinan al-Kuri jedenfalls steht zusammen mit seiner deutschen Adoptivmutter mitten im Applaus, und das Publikum ist offensichtlich froh, Theatertourist gewesen zu sein in seiner ganz persönlichen Familiengeschichte.


Baba oder Mein geraubtes Leben
von und mit: Tanya Erartsin, Inka Löwendorf, Sascha Ö. Soydan, Burak Yigit
Regie und Text: Nicole Oder, Bühne, Kostüm, Video: Franziska Bornkamm, Sounddesign: Press Play Klangmanufaktur, Dramaturgie: Stefanie Aehnelt.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.heimathafen-neukoelln.de

 

Kritikenrundschau

"Ein tolles Ensemble in einer konzentrierten Studioinszenierung" hat Patrick Wildermann vom Tagesspiegel (24.2.2014) erlebt. Besonders überzeugt den Kritiker im Vergleich zu den Vorgängerarbeiten "Arabboy" und "Arabqueen", dass es hier "nicht um migrantische Kriminalitätskarrieren oder erstickende islamische Traditionen geht. Es ist einfach eine spannende Geschichte aus der Berliner Gegenwart."

Im dritten Teil der "Neuköllner Trilogie" spinne Nicole Oder "die Thematik über die Grenzen des Kiezes und Deutschlands hinaus weiter und erzählt dabei wiederum eine packende Bildungsgeschichte an der Bruchstelle der Kulturen", schreibt Christian Rakow in der Berliner Zeitung (24.2.2014). Was man erlebe, sei "szenischer Purismus, in reiche Farben gesetzt durch Verwandlungsschauspiel der Extraklasse", es sei "ein Theater der schnellen, passgenauen Handgriffe, der prägnanten Kurzszenen, des direkten Tons, der lässig um die Ecke gespielten Charge. Es ist ein Theater, das das kreiert, was ähnlich vielleicht am ehesten im Grips Theater zu finden ist: einen zeitgenössischen Realismus voller Fantasie."

"Im Heimathafen sieht man sehr reduziertes Theater, aber die Schauspieler sind gut", so René Hamann in der tageszeitung (26.2.2014). Die Story sei vorhersehbar, aber das mache nichts, weil man sich am "löchrigen Perserteppich" und am "hervorragenden Schauspiel des Ensembles" erfreuen.

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