Trautes Heim, Alptraum rein!

von Valeria Heintges

Basel, 27. Februar 2014. Es beginnt in der totalen Idylle. Auf der Bühne ein riesiger Scherenschnitt; Landschaft mit Bäumen, alles schön schwarz-weiß. Dazwischen die Schauspieler, sie rezitieren im Chor das in Alexandrinern gereimte Gedicht "Die Alpen" von Albrecht von Haller. Nur die raue Natur kann die schöne Schweiz zerstören. Dann aber kommt der Alptraum. Sechs Typen im dunkelgrauen Zwirn, die die "Bürger der Vaterstadt" zur Aufmerksamkeit aufrufen. Sie rappen, zeitweise auf Schweizerdeutsch, dazu fette Beats. Hinter ihnen eine comicartige Schrift, blutrot verkündet sie: "Biedermann und die Brandstifter".

Max Frischs Drama auf den Kopf gestellt

Ja, es ist Max Frischs Werk, das am Theaters Basel gezeigt wird – und es ist es doch auch wieder nicht. Denn Regisseur Volker Lösch stellt mit seinem Dramaturgen Christoph Lepschy das Drama auf den Kopf. Kein Aufruf zur Wachsamkeit, sondern das schiere Gegenteil: Biedermanns Ängste werden zur Horrorphantasie. Sein Alptraum: Ausländer ergreifen Besitz vom trauten Heim, samt Ehefrau, Dienstmädchen und Silberbesteck. Sie machen sich im Haus breit, bunkern Benzin auf dem Dachboden und zerstören im finalen Brand die ganze Stadt. Zwei Kriminelle sind es auch in Basel, die alles bedrohen, aber sie sind heißen jetzt Ivan Supotic und Carlos Sika. Sie geben das Abziehbild des "hässlichen Ausländers": Supotic säuft, furzt, rülpst und ist dauergeil, Carlos lässt das scharfe Messer kreisen, jederzeit bereit, es zu benutzen, ist über und über kriegsbemalt und wendig wie eine Schlange.

biedermann1 560 judith schlosser uSieht ein bisschen aus wie bei Robert Wilson: Biedermanns Comic-Alptraum mit David Berger
(Biedermann) und Jan Viethen (Eisenring) © Judith Schlosser

Vor knallbuntem Hintergrund agieren die famosen Schauspieler, auch sie wie bunte Scherenschnitte. Sie bewegen sich zackig, karikierend, verharren oft sekundenlang in der Bewegung, nur eine klackende Uhr ist zu hören. Lächerlich ist das, grob überzeichnet, aber es treibt doch nur die von der rechtskonservative SVP benutzten Argumente ins Groteske.

Kostümbildnerin Teresa Grosser kleidet die Frisch-Figuren schwarz-weiß-rot, der SVP-Farbgebung folgend. Die Ästhetik der Plakate, die vor allem vor Volksabstimmungen wie der jüngsten gegen die Zuwanderung massenhaft im Land aufgehängt werden, nutzt Illustratorin Giovanna Bolliger für gigantische Hintergrundzeichnungen für die Auftritte des Feuerwehrchors: Da zernagen Ratten die Karte der Schweiz, stehen Kühe in der schwarzen Burka auf der grünen Weide, da wird der blaue Papagei Globi vom hässlichen Ausländer vergewaltigt. Vorne tragen die Biedermänner die Ängste der Bürger vor, malen den Teufel Ausländer an die Wand. Am Ende zeichnen sie die Vision einer verarmten Schweiz, aus der die Menschen massenhaft gen Norden fliehen wollen. Aber längst hat Deutschland die Grenzen dicht gemacht.

Bitte, habt keine Angst vor uns!

Volker Lösch hatte sich schon vor der Premiere in Zeitungsartikeln entsetzt über die Annahme der Zuwanderungsinitiative in der Schweiz gezeigt. Mehr fragend als anklagend suchte er nach Gründen, nach Lösungen. Dass ihm diese Differenziertheit in Basel gelingt, dafür sorgt der Chor der "Basler AusländerInnen, PapierlischwyzerInnen, MigrantInnen, Flüchtlinge, Einwanderer und Einwanderinnen, Secondos, Secondas etc.", wie das Theater ihn ausweist. Diese 14 Personen setzen dem Plakativen das Menschliche entgegen, dem hässlichen Ausländer den ganz normalen Menschen mit Sorgen, Ängsten, Freuden, Fragen. Sie berichten – chorisch, natürlich, wir sind bei Volker Lösch – von ihren Erlebnissen und Erfahrungen in der Schweiz.

biedermann2 560 judith schlosser uDas menschliche Antlitz: der Chor der AusländerInnen, PapierlischwyzerInnen, MigrantInnen, Secondos, Einwanderer, NichtschweizerInnen © Judith Schlosser

Teils liebevoll, manchmal erstaunt-verwundert, auch verletzt und enttäuscht. Sie sitzen in der ersten Reihe, halb Schauspieler, halb Publikum. Ganz am Ende, da ist Biedermanns Haus schon in die Luft geflogen, klettern sie auf die Bühne, bitten eindringlich und ruhig darum, als Menschen erkannt zu werden. "Wir haben unsere Vergangenheit, unsere Leben. Bitte, nehmt uns, wie wir sind. Und habt keine Angst vor uns." Plötzlich ist das Theater ganz nah dran, an den Menschen, ihren Problemen. So aktuell, wie Theater nur ganz selten ist. Tobender Applaus.

PS: Nach der Aufführung versammelten sich die Mitarbeiter des Theaters Basel auf der Bühne und deklamierten einen Text, in dem sie sich "entsetzt" über das "JA vom 9. Februar 2014" äußerten. "Unsere tägliche Arbeitspraxis zeigt exemplarisch, was die Schweizer Gesellschaft verliert, wenn sie sich nach außen abschottet: Vielfalt, Kreativität, Neugier, Toleranz, Vielsprachigkeit, Fantasie, Lebendigkeit, Offenheit, Streitlust, Team- und Kritikfähigkeit", heißt es darin. Und: "Wir lehnen jede Form von Rassismus entschieden ab und sprechen uns hiermit für eine weltoffene, tolerante und humanistische Schweiz aus."

 

Biedermann und die Brandstifter
von Max Frisch
Regie: Volker Lösch, Bühne: Sarah Roßberg, Kostüme: Teresa Grosser, Dramaturgie: Christoph Lepschy, Mitarbeit Dramaturgie: Sina Stingelin, Chorleitung: Bernd Freytag, Licht: Roland Edrich, Sounddesign: Amadis Brugnoni, Illustration: Giovanna Bolliger.
Mit: David Berger, Cathrin Störmer, Andrea Bettini, Jan Viethen, Claudia Jahn, Julian Anatol Schneider.
Chor der Feuerwehrleute (Studierende der Hochschule der Künste Bern): Nadja Rui, Paulina Quintero, Gian Leander Bättig, Julian Till Koechlin, Jonas Rhonheimer, Julian Anatol Schneider.
Chor der AusländerInnen, PapierlischwyzerInnen, MigrantInnen, Einwanderer, Second@s, NichtschweizerInnen, etc.: Dalila Dahmane, Ana Lucia Landazuri, Désirée Ly, Monica Marks, Thusanthy Sinniah, Agota Skorski, Ben Berroudja, Tornicke Bluashvili, Valentin Köhler, Erosi Margiani, Anselm Müllerschön, Simon Tesfahiwot, Alonzo Yarbrough, Melahat Yapici.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.theater-basel.ch

 

Kritikenrundschau

"Volker Lösch entscheidet sich für eine klare Dreigliederung auf drei Ebenen", schreibt Alfred Schlienger in der Neuen Zürcher Zeitung (1.3.2014). "Den Stücktext liefert er als Guckkasten-Einsprengsel, für die sich die schwarze Rückwand in immer neuen Formaten öffnet", das sei in grellen Farben und Gesten samt akustischer Untermalung grotesk überzeichnet wie in einem Comic. "Die zweite Ebene belebt Lösch mit dem sechsköpfigen Feuerwehrchor, der die Vorderbühne mit seinen Angstmacherparolen rockt: eine agile, geschniegelte Truppe in grauen Businessanzügen, die sich ihre Texte aus den Untiefen des politischen Schlagabtauschs der letzten Wochen und Monate fischt." Die dritte Ebene sei der 14-köpfige Chor der Migranten, die von ihren Fremdheitserfahrungen in der Schweiz berichten, "ein Spiegel für mangelnde Wärme in menschlichen Begegnungen, für Engstirnigkeit, Ausgrenzung und Rassismus auch, aber im Kern sind diese authentischen Statements eine einzige Charme-Offensive: Nehmt uns doch so, wie wir sind, dann können wir alle davon profitieren!"

Für Volker Lösch ist Frisch schon wegen seiner berühmten Sätze über Ausländer ("Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es sind Menschen gekommen") der Mann der Stunde, so Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1.3.2014). Frischs Parabel komme dabei allerdings unter die Räder: "Die Brandstifter Schmitz und Eisenring heißen in Basel Iwan und Carlos, furzen und rülpsen dem Appeasement-Biedermann frech ins Gesicht, klauen seine silbernen Löffel, essen seinen Senf und vergewaltigen mit ihrer riesigen Wurst sein Dienstmädchen", aber zum höheren Klamauk Herbert Fritschs fehlt es ihnen doch an Tempo, Witz und Spielintelligenz. Fazit: "So wird das Stück auf Schlüsselszenen skelettiert, zu Stand- und Zerrbildern des hässlichen Ausländers und Scherenschnitten in Nationalfarben heruntergebrochen. Großformatige Karikaturen greifen die Angstprojektionen noch einmal auf und treiben sie vollends in die obszöne Groteske."

"Volker Löschs Inszenierung ist geprägt von einer großen Deutlichkeit und einem Reichtum an ästhetischen Mitteln", findet Hartmut Krug auf Deutschlandfunk Kultur heute (28.2.2014). Die Aufführung mache Biedermanns absurde Haltung verständlich, "hier ist er unsicher, wie er zugleich Freund des sogenannten Multikulti sein und trotzdem seine Ängste und Wahrnehmungen ausleben kann". "Insgesamt weniger ein provozierender und anklagender Theaterabend als ein Bestätigungstheater für Einverständige, geboten in einer inhaltlich wie theatralisch ungemein überzeugenden Inszenierung."

Der Realitätsschwung am Ende – die Verkündigung der Resolution der Mitarbeiter des Theaters Basel – hätte für Dominique Spirgi nicht sein müssen "nach einer Vorstellung, die über anderthalb Stunden lang eigentlich nichts anderes war als eben eine Resolution gegen diese Masseneinwanderungsinitiative". Aber auch den rein künstlerischen Teil sieht Spirgi in der Tageswoche (28.2.2014) kritisch: Mit den Chören als Gegenpol zu Frischs Spielhandlung kippe der Abend, der doch eigentlich als Pamphlet gegen das Plakative gedacht sei, selber arg ins Plakative. "Der Chor der durch und durch aufrechten und guten Ausländerinnen und Ausländer, der sich auf Aussagen beschränkt wie 'die Muslime, die ich kenne, sind weltoffen' oder 'Habt keine Angst vor uns', kratzt letztlich ganz heftig an der Grenze zum Sozialkitsch." Der Abend sei in die "Aktualitätsfalle" getappt. Allzu sehr fokussiere er sich auf die Aussage: "He, Ihr Schweizer, es ist ganz und gar nicht gut, wie Ihr da am 9. Februar abgestimmt habt." "Auch wenn man dieser Aussage durchaus zustimmen kann: Für einen Theaterabend, der sich mit dem schwierigen Thema Xenophobie befasst, ist das zu wenig."

 

 

 

 

 

 

 

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