Welt von Gestern

von Lukas Pohlmann

Bautzen, 28. Februar 2014. Im pittoresken Städtchen Bautzen an der Spree steht ein vor zehn Jahren hübsch sanierter Theaterbau, Stammhaus des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters, des wohl einzigen konsequent zweisprachigen Theaterbetriebs Deutschlands. Neben Deutsch wird in einigen Inszenierungen ausschließlich Sorbisch gesprochen. Weil aber John von Düffel eine deutsche Fassung von Leo Tolstois Roman "Anna Karenina" geschrieben hat, wird also deutsch gespielt.

Flexible Bühne, schnelle Wechsel

Interessant ist: Schauspieler, die beide Sprachen aus dem Effeff können, gibt's nicht viele, und so kommt es, dass der Großteil des Bautzner Ensembles sich länger kennt als das an den meisten Bühnen der Republik üblich ist. Regisseur Matthias Nagatis inszeniert hier nicht zum ersten Mal, und die Ausstatterin Katharina Lorenz ist dem Haus ebenfalls verbunden. Eine Ausgangssituation, in der man sich gemütlich einrichten könnte, zumal das Publikum seine Spieler kennt und ihnen wohlgesonnen ist. Und dann auch noch ein Stoff, der wahrlich kein Kommentar zum aktuellen Zeitgeschehen ist!

AnnaKarenina3 560 RobertMichalk uUnd der Samowar ist auch dabei: Da ist die bürgerliche Idylle noch in Ordnung.
© Robert Michalk

Gemütlich gemacht haben sie es sich nicht mit dieser berühmten Ehebruchsgeschichte aus der Weltliteraturkiste. Im Gegenteil: Mit viel Verve öffnet das Ensemble ein Fenster ins Russland des 19. Jahrhunderts, ohne dabei allzu museal zu wirken, auch wenn die Kostüme zeitecht scheinen und Requisiten und Möbel die Zeit zitieren. Der Bühnenraum ist ungeheuer flexibel und lässt mit wenig Aufwand verschiedene Orte etablieren. So wird die schräge Spielfläche von der Bahnhofshalle zum Karenin'schen Esszimmer, dessen Tisch dann Schießstand, dann Tribüne der Pferderennbahn wird, bevor er sich zurückverwandelt. Die fixen Wechsel sind es auch, die die Spieler davor bewahren, dem emotionalen Affen zu viel Zucker zu geben und sich ganz am fremden, großen, tragischen Gefühl zu berauschen.

Schlüssige, unkitschige Geschichte

Lilli Jungs Anna liebt ihren Sohn über alles, ihren deutlich älteren an-arrangierten Ehemann Alexej Karenin (Ralph Hensel) aber nicht und fühlt sich eingesperrt. Sie kann aber nicht weg, weil das nicht gesellschaftskonform wäre. Da läuft ihr Graf Wronski über den Weg, gespielt von Marian Bulang, der zwar anderweitig vergeben, aber noch nicht beringt ist. Die beiden gucken sich in die Augen, das Märchen von der Liebe auf den ersten Blick lebt, und die Tragödie nimmt ihren Lauf. Da Wronski jetzt nichts mehr von Kitty (Anna Marie Lehmann) will und Dolly Oblonski (Katja Reimann) von ihrem Mann Stepan (Olaf Hais) betrogen wird, ist für so viel Verwicklung und großes Gefühl gesorgt, dass sich daraus problemlos eine ganze Telenovela stricken ließe.

Nagatis und sein ausnahmslos gutes, waches Ensemble schaffen es aber, in kurzweiligen Episoden eine schlüssige, unkitschige Geschichte zu erzählen. Vor allem ist ihnen ihre unaffektierte, einfache Sprachbehandlung anzurechnen. Manchmal misstrauen sie dem Zuschauer mit überdeutlichen Wiederholungen – wenn während Annas und Wronskis erster Begegnung ein Mann von einem Zug erfasst wird, ist dies erst über die Lautsprecher zu hören, um im nächsten Bild noch einmal ausführlich auserzählt zu werden. Und in manchen Szenenwechseln wabern für die Begriffsstutzigen Gedankenfetzen als Tonecho ziellos durch den Saal. Auch stehen dem Ensemble die komischen Momente besser: Stepans 40. Geburtstag ist eine herzerwärmende Party mit Polonaise zur russischen Weise und Lewins (Anthony Mrosek) zweiter Heiratsantrag an Kitty eine feine Nummer mit Kinderspielzeug-Buchstabenwürfeln.

Die großen Zusammenbrüche, Geständnisse, Beteuerungen scheinen dagegen immer etwas holzschnittiger oder zu duselig, doch schafft die Regie dann meist rettend den nächsten Szenenwechsel. Natürlich ist die Liebe ein zeitloses Thema, und unbestreitbar ist, dass ihre Verwicklungen mitunter die schönsten, tragischsten, intensivsten Geschichten schreiben. Gleichwohl die Probleme, die dieser erweiterte Familienverbund hat, nur mit viel Übertragungswillen zeitgemäß sind. Sie bleiben aus der Welt von gestern.

 

Anna Karenina
von Leo Tolstoi
Bühnenfassung von John von Düffel
Regie: Matthias Nagatis, Ausstattung: Katharina Lorenz, Musik: Tasso Schille, Dramaturgie: Eveline Günther.
Mit: Lilli Jung, Ralph Hensel, Jerome Darian Hennersdorf, Marian Bulang, Anthony Mrosek, Anna Marie Lehmann, Olaf Hais, Katja Reimann, Nikolay Ustinow, Thomas Schanz.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.theater-bautzen.de

 

Kritikenrundschau

Marco Mach schreibt in der Sächsischen Zeitung aus Dresden (3.3.2014): Die Schauplatzwechsel auf der Bühne "faszinierten" zwar, seien aber in der Summe zu viele, sie schüfen Unruhe. Lilli Jung spiele eine von Anfang an zwischen "Herz und Kopf hin- und hergerissene" Anna, die "immer mehr und immer schöner" leide. Doch irgendwie schaffe sie es nicht, beim Zuschauer "Mitleid zu erzeugen". Eher stelle sich da ein "Selber-Schuld-Gefühl" ein. Ralph Hensel spiele einen äußerlich harten, die Form wahrenden Karenin. Innen jedoch "weich", liebe er Anna. "Etwas blass" agiere Marian Bulang als Wronski. "Angenehm erfrischend" Publikumsliebling Anna Marie Lehmann als Kitty. Sie alle verstünden es auch "zwischen den Zeilen zu spielen". Dennoch bleibe die Inszenierung weniger wegen einzelner Personen, vielmehr durch opulente Kostüme und schöner Bilder in Erinnerung.

 

 

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