Stillleben rasender Naturen

von Esther Slevogt

Berlin, 28. Februar 2014. Es gibt keinen Abgrund, in den die Figuren am Ende stürzen könnten. Sie sind schon von Anfang an ganz unten. Drei Stunden kämpfen sie, als gäbe es einen Weg hinauf. Zur Sonne, zur Freiheit oder so. Ein gigantisches eisernes Rad ragt auf, eine Drehbühne setzt es von Zeit zu Zeit in Bewegung. Eisengerüste fahren aus der Tiefe in die Höhe und wieder hinab. Menschen turnen darauf wie Wildtiere in einem Freigehege. Musik wummert, Bühnennebel wallt. Auf einer Riesenleinwand blenden Videos auf: gespenstische Stillleben von Steinen, Wasser, Sand – tote Natur.

Denn eigentlich bewegt sich nichts. Die Hölle ist die Hölle, und dem Patriarchen bleibt in seinem Neandertalerpelz am Ende nichts als das Leben der Familie auszulöschen. Ganz sanft, zärtlich fast: mit einem Streicheln über den Kopf, von dem sie alle tödlich getroffen dahinsinken. Erst die drei Söhne Richard, Geoffrey und John, dann deren Mutter Eleanor, die junge Geliebte Alais, ihr Bruder Philipp und am Ende er selbst, Henry II., König von England – ein Löwe im Winter seines Lebens, der sein Reich ordnen will und scheitert.

Unter Stahlbalustraden

Fast sieht es aus, als lasse Sebastian Hartmann, der mit seiner Inszenierung dieses Stoffs des amerikanischen Dramatikers James Goldman aus dem Jahr 1966 jetzt sein Regiedebüt an Berlins Deutschem Theater gab, die Figuren am Ende an dem zugrunde gehen, wonach sie sich den ganzen Abend lang am meisten sehnten: an Nähe und Zärtlichkeit. Am Ende, als sie müde sind von all den Kämpfen und Intrigen, erschöpft vom Hass, vom Neid und der Mordlust. Doch jetzt, wo das Leben beginnen könnte, müssen sie sterben.

Goldmans Stück, von dem es auch zwei berühmte Hollywoodverfilmungen gibt, eine Oscar-gekürte mit Peter O'Toole und Katharine Hepburn aus dem Jahr 1968 und eine aus dem Jahr 2003 mit Glenn Close als Königin Eleanor, führt in eine Familienhölle von O'Neillscher Unerbittlichkeit. Nur, dass sie ins 12. Jahrhundert verlegt worden ist. Aber auch da war es schon so wie heute immer noch: Macht- und Besitzstreben verhindern die Liebe. Menschen verhungern emotional, werden zu Bestien und machen aus der Erde so den unbewohnbaren Planeten, der er ist.

loewe6 560 arno declair uKönigliche Familie: Benjamin Lillie (John), Andreas Döhler (Philipp), Michael Schweighöfer
(Henry II.), Almut Zilcher (Eleanor), Peter Moltzen (Geoffroy). © Arno Declair

"Wir sind der Ausgangspunkt aller Kriege. Weder die Vergangenheit zwingt uns noch die Gegenwart, nicht Gesetze, nicht Ideologien, Religionen, Regierungen oder irgendetwas sonst", bringt es Königin Eleanor auf den Punkt. "Wir selbst sind die Mörder, unsere Gier brütet Kriege aus." Ihr Mann, der König, hält sie seit zehn Jahren gefangen. Jetzt, zu Weihachten, darf sie für ein paar Tage zur Familie stoßen, ins Schloss Chinon. Dort kommt es zum Showdown zwischen den drei erwachsenen Söhnen, Vater und Mutter um die Macht.

Ur-Familie

Ein toller Stoff, von Hartmann mit Hilfe der Videokünstler von Transforma sowie der Musik von Nackt in gewaltige Bilder und Atmosphären übersetzt. Ein tolles Ensemble auch, das Hartmann da auf der Bühne des Deutschen Theaters versammelt hat. Almut Zilcher ist die Königin: eine rasende megärenhafte Frau in wallenden Gewändern, die in Sekundenschnelle von weinerlichem Mitleidheischen oder leidenschaftlicher Liebesfähigkeit auf Eiseskälte umschalten kann. Der König ist Michael Schweighöfer, ein Mannsmassiv, der seine Figur sehr versiert zwischen tapsiger Gutmütigkeit und brutalem Egoismus balanciert.

Dann die finsteren Söhne, alle drei offenbar durch elterlichen Liebesentzug stark hospitalisiert. Benjamin Lillie als John, der jüngste: ein bleicher, vampirhafter Fanatiker, Geoffrey alias Peter Moltzen, ein verschlagener eitler wie schillernder Charakterschwächling und schließlich Felix Goeser als Richard, ein kalt blickender brutaler Egoshooter im Kettenhemd, der einem Comic (oder Computerspiel) entsprungen zu sein scheint. Sie alle lügen, morden und verraten. Für einen Zipfel Macht (oder eben Liebe) sind sie zu jedem Verbrechen bereit. Am Ende stehen sie wie drei junge Bolschewiken an der Rampe, Richard als veritables Lenin-Double.

Schwacher trifft starken König

Natalia Belitski spielt König Henrys junge Geliebte Alais, die Unschuldigste im ganzen Goldman-Szenario. Die einzige vielleicht, die wirklich liebt. Hartmann macht aus ihr eine berechnende junge Frau, die sich an die Macht schlafen will: eine königliche Nutte im knappen Kleidchen, der er am Ende noch einen lautstarken Auftritt als wasserstoffblonde mordlustige Feldherrin mit verzweifelten Allmachtsfantasien verschafft. Anders als im Original übrigens, wo sie die Rolle der Mörderin dezidiert von sich weist. Eine Figur, die in Hartmanns Deutung aber nicht ganz plausibel wird.

Und dann ist da noch Andreas Döhler, als Alais Bruder und junger französischer König Philipp II. Döhler, der sich als einziger gegen die Pathologisierung seiner Figur sperrt, ist der Ruhepol des Abends. Der junge König, den er spielt, weiß, dass er zu schwach ist, um das Machtspiel zu gewinnen. So spielt er alle gegeneinander aus: ein Pokerface und virtuoser Spieler auf der Gefühlsklaviatur der anderen.

Explosion der Bilder

Schließlich kommt es zur Explosion des Hasses und der Theaterbilder. Die Bühne reißt auf, auf dem Rundhorizont wimmeln die Videobilder. Musik kreischt, Alais liegt schreiend in Geburtswehen. Sie gebiert eine Art Weltkugel, die augenblicklich zerplatzt.

Mit der Wucht seiner ganzen Bildmacht aber erschlägt Hartmann das Stück, das vom understatement, von geschliffenen Dialogen voller Ironie und feinster Menschenkenntnis und -beobachtung lebt. Dessen Dramatik sich auch aus der Vergeblichkeit speist, mit der alle Figuren immer wieder gegen ihre Machtgier und um ihre Liebesfähigkeit kämpfen. Bei Hartmann sind es schrille Bestien von Anfang an. Es gibt keine Entwicklung, kein Geheimnis, keine Ambivalenz. Nur eine gigantische Theatermaschinerie, die zunehmend um sich selber kreist. Dabei ist Hartmanns Botschaft eigentlich grundsympathisch: Leute, geht nach Hause und habt erst mal eure Kinder lieb. Sonst macht alles eh keinen Sinn.

Der Löwe im Winter
von James Goldman, Deutsch von Susanne Meister
Regie und Bühne: Sebastian Hartmann, Kostüme: Anna Braga Peretzki, Musik: Nackt, Video und Lichtdesign, Transforma: Simon Krahl, Luke Bennett, Baris Hasselbach, Licht: Heimhart von Bültzingslöwen, Ton: Martin Person, Matthias Lunow, Dramaturgie: Sonja Anders.
Mit: Michael Schweighöfer, Almut Zilcher, Felix Goeser, Peter Moltzen, Benjamin Lillie, Andreas Döhler, Natalia Belitski.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.deutschestheater.de

 

Mehr zum Löwen im Winter? Die Schriftstellerin Else Buschheuer hat als Hospitantin die Proben beobachtet.

 

Kritikenrundschau

Nach dem spektakulären Probenbericht auf nachtkritik.de von Else Buschheuer dürften insbesondere "Freunde des 'Arschanspielens'" von der Inszenierung enttäuscht worden sein, mutmaßt Christine Wahl im Tagesspiegel (2.3.2014). Die Kritikerin selbst ist es nicht. Zwar empfindet sie den Abend – an Hartmanns früheren Arbeiten gemessen – "geradezu als Klassiker an Werktreue". Aber es gebe ein DT-Ensemble auf "Höchstleistungsniveau" zu bestaunen, das mit Sound und Bühnenmaschinerie eine "stimmige Allianz" eingehe. Dazu ein klarer Fokus auf der "Kompletterschöpfung, die der Machtkampf in der Königsfamilie zeitigt", wie auch auf der "Liebes- und Erlösungssehnsucht" der Figuren.

Verglichen mit früheren Arbeiten sei Hartmanns DT-Debüt "relativ unstrapaziös und unmutig", findet auch Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (2.3.2014). Allerdings sei dieser Dreistünder "immer noch strapaziös und mutig genug, um aus dem nachdenklich-depressiven bis wohlfühl-milden DT-Spielplan herauszustechen". Auf einer Bühne mit dem "Charme eines geräumigen Bergbauschachtes" werden die "von Adriana Braga Peretzki sehr schön märchenfilmartig eingekleideten Schauspieler" ins "Bild arrangiert und mit einem Zustand ausgestattet, den sie dann virtuos, formal und antipsychologisch ausspielen: flüsternd, rennend, kichernd, schreiend, fickend."

Unglücklich ist Katrin Bettina Müller von der taz (3.3.2014) mit dieser Inszenierung: "Mussten die Schauspieler doch mal wieder furchtbar viel brüllen und ihr Spiel viele Male ins Infantile treiben." Die Kritikerin wünscht sich „eine weniger plumpe Art des Gleitens zwischen Spiel und dem übertriebenen Ausagieren des Spiels", die ihr einzig Andreas Döhler als König Philipp wenn er sein Treffen mit König Henry als "feinstes Understatement des großspurigen Kräftemessens" vorwegnimmt. Das Bühnenbild imponiert, aber: "Tatsächlich leuchtet der Aufwand nicht ein, mit dem hier erzählt wird, während doch das Erzählte selbst eher als nebensächlich abgetan wird, als x-ter Aufguss einer Hetze gegeneinander, die schon lange vor Stückbeginn tobte und die nun wirklich keiner mehr verstehen kann."

Hartmann habe "Der Löwe im Winter" als "düsteres Spektakel mit viel Pomp, Wucht und Klamauk" inszeniert, schreibt Anke Dürr auf Spiegel Online (3.3.2014). Er mache das – von der Kritikerin als eher eintönig empfundene – Drama von James Goldman damit "amüsanter, aber nicht unbedingt interessanter". Hartmann beweise vor der Pause, dass er die endlosen "Ränkespiele" nicht allzu ernst nehme. "Es ist über weite Strecken ein einziges Hauen und Stechen und Brüllen und Fluchen. Schon bald verliert man die Übersicht, wer jetzt gerade wieder wen verrät und hintergeht". Nach der Pause gönne Hartmann dem Königspaar "einen Augenblick der Ruhe und der Ehrlichkeit (...). Dann läuft wieder die Theatermaschinerie an, das nächste Geraufe geht los, und der Musiker mit Künstlernamen Nackt haut wieder in die Tasten."

Es wäre "sicher interessant gewesen, mehr über die inneren Gründe zu erfahren, die Menschen offensichtlich nötigen, ständig Elend über die Welt zu bringen" sagt Eberhard Spreng in der Sendung "Kultur heute" auf Deutschlandfunk (2.3.2014). "Aber Hartmann interessiert sich weder für die Psychologie seiner Figuren noch für die Ausgestaltung des komplexen Intrigenspiels. Ihm geht es um eine grobe schematische Typenzeichnung." Die Regielinie laute: "Macht hat, wenn sie sich als pure willkürliche Gewalt zeigt, grundsätzlich eine groteske, lächerliche Note." Fazit: "Das, was diese Regie mit diesem Stück erzählen wollte, hat der Zuschauer schnell begriffen. Aber der Kampf der Abziehbilder und der Aufmarsch der Theaterbilder dauert drei sehr lange Stunden."

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (4.3.2014) beschwert sich Irene Bazinger, die Theatermaschinerie habe "Hochbetrieb", "schwerer Dunst" hänge über der Szenerie, Scheinwerfer blendeten ins Publikum, "nebulöse Videos" flackerten. Die "reichlich derbe Effekthascherei" verschleiere nicht, wie "erschreckend hohl und oberflächlich" diese "vorwiegend peinlich eitle Inszenierung" sei: "Sie schreit nur, aber sie sagt nichts, sie haut halbstark auf die Pauke – und trifft trotzdem kaum einen wahren Ton." Zwischen "Ironie und Parodie" fabriziere Hartmann eine "immer zäher sich dahinschleppende Klamotte", notdürftig kaschiert: die "Abwesenheit von Sinn und Form und Notwendigkeit".

In der Süddeutschen Zeitung (4.3.2014) berichtet Peter Laudenbach von seinen Erlebnissen: Die Inszenierung beginne mit einem "ausgiebigen Kopulationsakt", auch später würd' es nicht "dezenter". Eher schon "peinlich", weil ein "braves Staatstheater so tut, als hätte es sich in einen Club der Unterwelt verwandelt". Hartman interessiere sich nicht für Goldmans elegante Dialoge, lieber jage er seine Darsteller in einen "Parforceritt der Äußerlichkeiten". Ein "trivialisierter Shakespeare-Klon trifft hier auf einen Castorf-Epigonen der gröberen Art". Eigentlich jedoch gehe es allein um das "martialisch sinnfreie Auftrumpfen der Theatereffekt-Maschine". Eine schöne Ausnahme in all dem Treiben: die "wunderbare Almut Zilcher". Sie bediene sich "sehr gekonnt, lustvoll und leicht ironisch" im Gesten- und Tonfall-Arsenal des ganz alten Theaters.

In der Welt (7.3.2014) schreibt Reinhard Wengiereck: "Bei Hartmann gibt es keine Abgründe, keine Fallhöhe vom Komischen ins Tragische, kein Grauen und auch keine Sehnsucht nach etwas anderem. Nur ein plattes Horror-Stadel, vollgestopft mit Deppen." Die auf "Idioten-Comic erpichte" Regie entpolitisiere das Stück komplett, so dass es am Schluss "peinlich" für das Deutsche Theater sei, "das sich so viel zugutehält auf akut politische Bezüglichkeit".

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