Obduktionsstätte des beschriebenen Bildes

von Dirk Pilz

Berlin, 30. März 2007. In München kam es während einer Vorstellung der "Iphigenie auf Tauris" an den Kammerspielen vor, dass Zuschauer auf die Bühne gegangen sind und von den Schauspielern wissen wollten, was das solle. Dieses Drama zwischen Körper und Text, das der junge Regisseur Laurent Chétouane immer wieder inszeniert.

Dieses angespannte Stehen und verfremdende Sprechen, das so wenig den gängigen Erwartungen an Theater entspricht. Ein Drama, das sich alles Dekorative verbietet. Und ein Theater, mit dem der 1973 in Frankreich geborene Chétouane oft schon zu irritieren verstand. Als er vor drei Jahren am Hamburger Schauspielhaus Schillers "Don Karlos" herausbrachte, war kein Trauerspiel, sondern ein Sprechdrama zu erleben, in dem "'Schiller-Puppen' Sprache hinstellen", wie er sagt. Oder der Hamburger "Woyzeck" und eben Goethes "Iphigenie auf Tauris": Stets begreift Chétouane die Vorlagen als scharfkantige Landschaften, die er mittels Sprechen, Gehen, Schweigen vermisst.

"Der Text", sagt er, "muss die Chance haben, den Körper des Darstellers rückwirkend zu inszenieren. Zu ändern. Zu verfremden. Umzuhüllen, wie einen Mantel." Er nutzt diese Chance, um an einem Theater der Enthaltsamkeit zu arbeiten, das nicht auf Einfühlung, sondern das Wahrnehmen des eigenen Zuschauerblicks zielt.

An den Fäden eines irre gewordenen Marionettenspielers
Jüngstes Beispiel: "Studie 1 zu Bildbeschreibung", ein Abend, der im Februar am Essener PACT Zollverein herauskam und jetzt in den Sophiensaelen gastiert. Er zeigt einen Menschen auf einer leeren Bühne. Sie ist in dieser Inszenierung weniger Spielort, mehr Obduktionsstätte für Heiner Müllers Prosagebirge "Bildbeschreibung", in dem auf wenigen Seiten ein Alptraum die Realität gesellschaftlicher wie privater Ängste und Hoffnungen kreuzt.

Der amerikanische Tänzer Frank James Willens spielt diesen Text nicht, er lässt ihn durch seinen Körper stattfinden. Seine Bewegungen wirken, als hänge er an den unsichtbaren Fäden eines irre gewordenen Marionettenspielers. Er knickt um, fällt hin, zuckt. Als führten seine Gliedmaßen ein Eigenleben. Die Beine schlagen gegen die Wand, die Hände tasten um den Hals.

Dazu die sperrigen, surrealistischen Sätze Müllers, die Willens in eine Art Sprechmusik auflöst: Er spricht die Worte mit gleich schwebender Aufmerksamkeit und befreit sie so aus ihrem engen Bedeutungsgefängnis. Dass man dabei seinen amerikanischen Akzent noch hört und er seinen Kampf mit der Sprache nicht versteckt, ist kein handwerkliches Manko, sondern trifft den Text auf unheimliche Weise ins Herz: Müllers Prosastück ist eine Bild-Übermalung, die hier stimmlich gegengezeichnet wird.

Der Zuschauer erfährt so sein Alltäglichstes als Fremdkörper – das Sprechen verliert seine Selbstverständlichkeit. An den Sophiensaelen wird diese Müller-Anverwandlung mit "Hinrichs, Prinz von Dänemark" gekoppelt, eine Arbeit, in der Fabian Hinrichs im Wortsinne Hamlet verkörpert. Auch das: Aufregend handlungsarmes, essentielles Theater, das sein Glück in der provokanten Konzentration auf das Wesentliche sucht.


Tanzstück #1 Bildbeschreibung von Heiner Müller
ein Projekt von Laurent Chétouane
Mit: Frank Willens, Fabian Hinrichs.

www.sophiensaele.de
www.pact-zollverein.de

 

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