Auf der Flucht

von Dorothea Marcus

Düsseldorf, 12. März 2014. Er wird einfach nicht grün. Ich sitze vor einem Knopf und drücke ihn, sobald er rot leuchtet, damit ein anderer Knopf Grün anzeigt und meine Arbeitsschicht beendet. Kurz drücken? Schnell? Lang, verzögert, abgehackt? Gefühlte zwanzig Minuten vermüllt diese Fragestellung meinen Kopf, während ich nur von fern die Endlos-Loops, Passwort-Geschreie, das gehetzte Brüllen der Mitspieler, die angezählten Stunden bis zur Grenzschließung höre. Ich kann mich aber nicht darauf konzentrieren, sonst verpasse ich das rote Licht und mithin die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen und weiterzukommen. Ich muss auch noch drüber schreiben! Stress. Und dann schließt die gouvernantenhaft grausame Fabrikaufseherin in grauem Anzug, die allein mir Geld auszahlen kann, einfach so die Fabrik – und meine stupide Geschäftigkeit zerplatzt in einem Nichts aus Sinnlosigkeit.

Ziel: der solidarische Wohlfahrtsstaat

Ich muss wiederkommen. Denn Geld zu verdienen erweist sich als das verlässlichste Tool im ansonsten zunächst unübersichtlichen, interaktiven Spielsetting "Right of Passage", das machina eX als Krönung ihrer zweijährigen Recherche-Residenz am FFT Düsseldorf  zur Uraufführung  bringen, auf einer verschachtelten Bühne aus Bars, Arzt-Kabinen, Grenz-Häuschen, Zocker-Kaschemmen. Der Zuschauer wird darin in die Lage eines Flüchtlings im Transit-Lager Gohptal gebracht, der um alles in der Welt in die verlockende Lörische Republik will, 91 Millionen Einwohner, seit 250 Jahren ein "solidarischer Wohlfahrtsstaat". Denn, wie der Computerspielwissenschaftler Ian Bogost im Programmheft sagt: "Erst im Vollzug von Systemen kann ein System erfahrbar gemacht werden." So ist jeder Zuschauer nun zur symbolhaften Spielfigur geworden, gewürfelt – oder besser: digital ausgespuckt vom Zufallsgenerator seines Schicksals. Wie in der Wirklichkeit.

right of passage 560a sarahhuettenberend uIn der Grenz-Bar © Sarah Hüttenberend

Aber von vorne: Durch den kahlen Bühneneingang des FFT gelotst, in einen kargen Vorraum gepfercht, muss man Taschen, Jacken und elektrische Geräte abgeben, selbst die vielen Journalisten. Und kann in zehn quälenden Minuten auf harten Stühlen ausharren oder die erschlagend detaillierten Grundinformationen über Geschichte und Tradition der Ros-U, Pradaer, Lörer etc. aus fiktiven Wikipedia-Drucken an der Wand studieren, inklusive manipulativer Radioeinflüsterungen und Religionserfindungen wie die der "S-inhuasu", eine Minderheit, die den Boden heiligt und Bändchen am Arm trägt.

Kampf um den Platz an der Sonne

Man bekommt einen Ausweis ausgestellt, dann geht es hinein. In zwei Modi ist "Right of Passage" eingeteilt: Wenn eine neue Gruppe das Lager betritt, formieren sich die sieben Performer zu einer Szene, die am Schluss hängt – und die nur die Mitspielenden gemeinsam lösen können. Sie müssen ein Rätsel lösen, ein Passwort suchen, ein Messer finden – sonst gibt es einen Endlos-Loop und das Spiel geht nicht weiter.

Immer schriller verhaken sich die Darsteller in ihren letztgesagten Sätzen. Was den anderen wiederum Zeit gibt, aufzuholen. Denn jeder hat eine eigene Identität mit speziellen Anforderungen erhalten. Ich bin konfessionsloser Bürger des kommunistischen "vereinten Akrolien", recht privilegiert – es gibt sogar 500 Pradt Kampfgeld. Ich brauche nur fünf statt acht Dokumente, um mir ein Visum zu beschaffen. Und fühle mich doch wie die Allerletzte, als der individuelle Kampf um den Platz an der Sonne losgeht. So muss man sich fühlen in der Tretmühle der Ausgestoßenen: Man tritt auf der Stelle, überall wird man abgeschmettert, alles kostet. Beim Amtsarzt eine ewige Warteschlange, die Barfrau ist verschwunden, die Fabrik schließt vor Auszahlung. Feierabend, nichts zu machen, der Wohlfahrtsstaat-Mitarbeiter will seine wohlverdiente Ruhe vor dem Elend.

Ohne eigenes Tun passiert nichts

So steigt immerzu der Druck, weil die Zeit verrinnt und das "Korminische Kombinat" von den Lörern die Verschärfung der Asylbedingungen fordert – auf der Bahnhofsuhr sind fünf Minuten wenige Sekunden. Da ist es wieder, jene unangenehme Begegnung mit dem Selbst, jener Mischung aus eigener Rücksichtslosigkeit, Stress, Gier und Egoismus, die man auch von den legendären SIGNA-Abenden kennt, von deren interaktivem Charakter sich machina eX diesmal wohl auch hat inspirieren lassen in zwei Jahren Testläufen und Werkstätten mit Game-Designern und Wissenschaftlern in "interactive storytelling".

Erstmals kann man nicht nur festgelegte Levels und Gegenstände erspielen, sondern mit allen sprechen: mit dem Amtsarzt, bei dem die gebrauchten Kondome massenhaft auf dem Boden liegen, dem bulligen Soldaten, der so locker den Gewissenstest ausstellt, dem Grenzer, der das letzte Geld vor einem Schachbrett aus der Tasche zockt, der sexy Barfrau ins Gespräch kommen und nach ihrer Geschichte fragen und auch so in den Spielverlauf eingreifen. Ansonsten gilt: Ohne eigenes Tun passiert nichts. Soll nun die letzte Frau auf der Flucht den Grenzer heiraten oder sich weiter allein durchschlagen? Nur durch Aktivität geht es weiter – und am Ende hat es auch nur einer der Zuschauer in die Lörische Republik geschafft. Es war ausgerechnet derjenige, der am unegoistischsten seine Mitspieler mit Tipps versorgt hat. Shame on me. Auch die Barfrau hat es geschafft, als Sklavin des Grenzers muss sie sich knutschen lassen bis ans Ende ihrer Tage.

Eingriff ins Bewusstsein

Es dauert ein wenig, bis man sich als Zuschauer in diesen Mitmach-Modus begeben hat. Um vollständig in der Fiktion aufzugehen, wie es bei SIGNA so oft der Fall ist, ist "Right of Passage" leider zu kurz – auch will an keiner Stelle echte Bedrückung aufkommen, zu schrill gespielt und klamaukig verhalten sich die Performer in den fünf gestellten Szenen, zu kurz und gehetzt ist jedes Gespräch mit ihnen, und ich sitze ohnehin meist in der Fabrik fest. Was machina eX aber meisterhaft gelingt, ist ihr Eingriff ins Bewusstsein. Das Gefühl zu erzeugen, auf sich allein gestellt zu sein und keine Chance zu haben. Wie man als Flüchtling im ewigen Loop feststeckt, im gnadenlosen, immer schon verlorenen Kampf um ein besseres Leben, in das man nur durch Zufall geraten ist: das lässt dieser Abend auf beeindruckend anstrengende Weise am eigenen Körper erleben.

 

Right of Passage (UA)
Skript und Performance: Anna Fries, Laura Naumann, Produktion und künstlerische Leitung: Laura Schäffer, Technische Leitung: Jan Philip Steimel, Interaction Design: Robin Krause, Lasse Marburg, Sounddesign: Mathias Prinz, Bühne: Franziska Riedmiller, För Künkel, Kostüme: Daniela Bayer.
Performance: Florian Stamm, Antonia Tittel, Jan Jaroszek.
Dauer: 2 bis 3 Stunden, je nach Ankunftszeit, keine Pause

www.forum-freies-theater.de

 

Kritikenrundschau

Die Gruppe machina eX habe "so etwas wie ein politisches oder systemisches Planspiel entworfen, das sie den "Serious Games" zurechnet – kein pures Unterhaltungsspiel, aber eines, das unbedingt Unterhaltungselemente enthält", so Christine Enkeler in der Sendung "Fazit" vom Deutschlandradio Kultur (12.4.2014)."Right of Passage" ist aus ihrer Sicht "ein bis zu drei Stunden lang spannend bleibendes Spiel", das bei aller Fiktion nicht im luftleeren Raum hängen bleibt. Auch Requisiten und Kulissen seien liebevoll gestaltet, "die scherenschnittartigen Einzelelemente sehr variabel und kunstvoll miteinander verwoben und durch dieses Netz von Handlungs- und Dramaturgiemöglichkeiten zu einer echten Herausforderung gemacht."

Das "interaktive Performancespiel" versetze die Zuschauer in die bedrohliche Welt eines Auffanglagers, schreibt Reneé Wieder in der Rheinischen Post aus Düsseldorf (13.3.2014). "Kreativ und wunderbar skrupellos" experimentiere das Ensemble mit den "Schnittstellen zwischen Theater und Computerspielen – und mit Wegen, das Publikum maximal in den Theaterabend einzubinden". Der "spannende Abend" lenke die Aufmerksamkeit darauf, dass weltweit "politisch und religiös Verfolgte im Niemandsland von Grenzgebieten" festhingen ... ein "beklemmendes Lehrstück über Verfolgung, Heimatlosigkeit und das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit".

Auch Max Kirschner in der Westdeutschen Zeitung (13.3.2014) erlebte ein "anstrengendes Mitmach-Stück, das bewusst macht, welch Horror-Trip Asylanten erleben können". Das Spiel komme nur in Gang wenn die Zuschauert mitmachten, angetrieben allerdings würde es von Profi-Darstellern. Auf "Abschirmung getrimmt" der "Mann im Wächterhäuschen". "Putzmunter, Sonnenblumenkerne kauend, aufgekratzt aber eiskalt" wimmele er die Flüchtlinge ab, weiters träten auf "ein notgeiler Mediziner", ein "launisch brüllender Soldat".

Ein jeder Rezipient erlebe in "Right of Passage" einen anderen Abend, schreibt Maja Beckers in der Süddeutschen Zeitung (2.4.2014). Indem das Stück "sich an Mechanismen des Computerspiels orientiert", meistere es "die Herausforderung des Interaktionstheaters: die Balance zu finden zwischen Handlungsspielraum und Narration, jenen Punkt, an dem vorgegebene Strukturen maximal offen sind für subjektiven Input und zugleich bestehen bleiben."

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