"Der Ungar hat sein Elend immer mit Humor gepfeffert"

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 14. März 2014. Das Festivalmotto auf großer Leinwand ließ die vier Diskutanten auf der Bühne des HAU1 klein erscheinen. "Leaving is not an option?" ("Gehen kommt nicht in Frage?") stand da, mit riesigem Fragezeichen. Aber dieses Fragezeichen hätte man bei dem, was der Regisseur Béla Pintér, der Intendant György Szabó vom Trafó (einer dem HAU äquivalenten Spielstätte in Budapest) und der Musiker und Universalkünstler Sickratman in der Moderation des Journalisten Márton Gergely dazu zu sagen hatten, auch weglassen können.

Die Auswanderungsfrage

Das Podiumsgespräch "Gehen oder Bleiben?", bei dem das Motto des von Aenne Quiñones kuratierten Festivals mit "aktuellen künstlerischen Positionen aus Ungarn" verhandelt werden sollte, stocherte zunächst in den Biografien der (zwischen Mitte 40 und Mitte 50 Jahre alten) Diskutanten. Béla Pintér kann gar nicht gehen, denn "ich mache ein ungarisches Theater". Sickratman kann auch nicht, denn "ich bin zu alt, ich kann mir nicht noch einmal woanders alles neu aufbauen."

György Szabó, der Theaterintendant, der als einziger nicht nur ideell an einen physischen Ort, nämlich sein Theater Trafó in Budapest, gebunden ist, ist auch der einzige, der sich schon einmal ernsthaft mit Auswanderungsgedanken getragen hat (nachdem er zwischenzeitig als Trafó-Leiter abgesetzt worden war), aber er hat nirgends einen Job auf dem Niveau seiner Arbeit in Ungarn gefunden.

Aus dem Gedankengut des "Ungarntums"

Das sind also die Argumente zwischen Gehen und Bleiben, und tatsächlich wirkten die vier Diskutanten eher verkatert als traumatisiert. Sickratman gab eine absurde Erhöhung des "Ungarntums" wieder, die er einem Gespräch unter Ultra-Rechten abgelauscht hat ("Wir haben die stärksten Gene, unsere Gene sind sogar stärker als die Neger-Gene") und erntete Lacher im Publikum, das wohl zu großen Teilen aus ungarischen Expats bestand. "Der Ungar hat sein Elend immer mit Humor gepfeffert", kommentierte der Musiker das kollektive Versagen, sich ernsthaft aufzuregen.

Vielleicht haut es ja auch nur in die Kerbe der "Megalomanie eines kleinen Volkes" (Sickratman), die ungarische Situation in den dräuenden Satz "Leaving is not an option?" zu gießen. Es gibt einen Exodus – mehrere Hunderttausend sollen Ungarn seit 2010 verlassen haben. Ja, "Gehen oder Bleiben" sei besonders und hauptsächlich bei den jungen Leuten "eine sehr wichtige Frage", bestätigte György Szabó, aber dabei gehe es eigentlich nicht um Politik. Sondern, das musste Szabó gar nicht aussprechen, um wirtschaftliche Gründe. Ungarn ist Griechenland, ist Spanien, Portugal?

hungari1 560 gergo nagy uMusik verbindet die Heimatlosen: "Hungari" von der HOPPart Compagnie © Gergõ Nagy

"Hungari" von der HOPPart Company sucht Ungarn vom Exil aus

Dieser Denkrichtung gab die Produktion "Hungari" von Árpád Kákonyi und Péter Kárpáti mit den fantastischen Musiktheaterschauspielern der HOPPart Company Nahrung, die vor dem Podiumsgespräch im Rahmen des Festivals als Deutschlandpremiere zu sehen war. Eine Collage aus Blogeinträgen und Chat-Gesprächen größtenteils junger Menschen, die aus Ungarn ausgewandert sind. Bei den Treffen im virtuellen Raum, der ins Theater übersetzt aussieht wie eine 0815-Wohnung irgendwo in der EU, wird aus einem nicht spezifisch ungarischen Expat-Alltag berichtet ("eigentlich alles gut, nur das Wetter ist furchtbar").

Die Heimat wird also im Netz gesucht – bei den Landsleuten (also denen, die auch die Muttersprache sprechen/schreiben). Aber es geht nicht um das Land der Herkunft, sondern betont küchenphilosophisch ums Leben und was es bedeutet. Die darunterliegende Frage "Was verbindet uns?", die man sich nicht zu verbalisieren traut, ist auf die musikalische Ebene verlagert, wo die Suche nach einem Grundsound immer wieder scheitert. Aber vergnügt und unterhaltsam. Und hoch-virtuos.

"Wir sind praktisch wie Beckett"

"Hungari" bringt in einigen Szenen auch das "melodramatische Verhältnis zur Vergangenheit" auf den Punkt, das György Szabó der ungarischen Jugend attestiert – wenn mit gekonnt erzählten dramatischen, blutigen Familien-Erinnerungen im nervösen Netz nach Aufmerksamkeit geheischt wird.

Von den vier Diskutanten findet Szabó die dramatischsten Worte und entlarvt sich und die anderen gerade dadurch als innere Emigranten (oder auf dem Weg dahin), wenn er erst über die gesamte ungarische Gesellschaft sagt: "Wir sind in einer großen Krise. Die Moral ist Staub. Jeder wartet auf den anderen, wir sind praktisch wie Beckett." Und dann: "Die Kunst generiert keine Debatte mehr."

Béla Pintér widerspricht, aber reflexhaft, fahrig und mit gerunzelter Stirn. Das Theater, so Pintér, sei dazu da, die Wahrheit objektiv darzulegen. Und diese Funktion erfülle es auch weiterhin. "Früher haben wir dafür Geld bekommen, die heutige Regierung versorgt uns mit Themen."


Auf dem Festival Leaving is not an option? am HAU Berlin gastieren verschiedene Inszenierungen, die nachtkritik.de bereits zuvor anderswo besprochen hat: Korijolánusz von Csaba Polgár, Dementia, or The Day of my Great Happiness von Kornél Mundruczó und Acts of the Pitbull von Péter Kárpáti.

 

Presseschau

"Im Grunde ist die Frage des Festivals (...) einseitig formuliert", schreibt Jan Tölva in einem Festivalrundblick in der Jungle World (20.3.2014). Es könne nicht nur um die Frage gehen, ob Gehen eine Möglichkeit ist. "Gehen gehört in unserer sich globalisierenden Welt ohnehin zum Alltag." Es müsse auch die Frage gestellt werden, ob denn überhaupt die Möglichkeit bestehe, zu bleiben. "Für diejenigen, die nach Lesart von Fidesz und Jobbik nicht zum Kern des Magyarentums gehören, weil sie Roma, Juden oder 'Kosmopoliten' sind, ist das wahrscheinlich sogar die wichtigere Frage." Sicher, gehen können sei ein Privileg. "Ohne Angst bleiben zu können aber auch."

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