Caligula - In Stuttgart macht Krzysztof Garbaczewski Astrid Meyerfeldt zum nihilistischen Römer-Kaiser
Hol mir den Mond, du Pferd!
von Steffen Becker
Stuttgart, 15. März 2014. Caligula – ein Name mit starken Assoziationen. Der römische Kaiser machte sein Pferd zum Senator, gab sich unglaublichen sexuellen Ausschweifungen hin, war besonders blutrünstig. Ältere Bildungsbürger erinnern sich in diesem Zusammenhang gerne an den Skandal um den Intellektuellen-Porno mit Malcolm McDowell und Helen Mirren. Dieses Geschichtsbild musste in jüngerer Zeit korrigiert werden. Die Handlungen des "verrückten" Herrschers folgten einer Logik – das Pferd und der Sex mit Senatoren-Frauen demütigten die alte Oberschicht, die exzessive Gewalt sollte eine absolute Herrschaft festigen und das Volk unterhalten.
Albert Camus hat bereits Jahrzehnte zuvor – mit seinem 1938 geschriebenen "Caligula" – eine "Rehabilitation" vorgenommen. Sein Stück, das am Schauspiel Stuttgart vom polnischen Regisseur Krzysztof Garbaczewski inszeniert wird, zeigt den Herrscher als Menschen, der das Glück sucht in einer Existenz, die er als sinnlos erkennt. Mit einer wilden Folge von Gewalt- und Irrsinnstaten versucht er, die Absurdität des Daseins zu übertrumpfen und damit sein Ich gegenüber der Welt zu manifestieren. In Stuttgart wird diese Absurdität auch auf den Stil der Inszenierung in Anwendung gebracht, die von Begriffen wie "abgefahren, durchgeknallt, schräg" am besten beschrieben ist.
Schulterblick aufs Eigentliche
Das Publikum sitzt vor einer Doppel-Leinwand, auf der die Handlung ausgebreitet, geteilt, ineinander geschoben, durch wilde Kamerafahrten umhergeschossen und durch psychedelische Effekte verfremdet wird. Das Morden findet allerdings deutlich hörbar im Rücken statt, das "Studio" ist nur von einer mit philosophischen Graffitis gestalteten Kulissenwand abgetrennt. Aus der Verfremdung, dem Vermeiden offener Konfrontation auf der Bühne schöpft die als "Live-Film" angekündigte Inszenierung erst ihren Grusel: Zoom auf eine Blutlache, in der sich das Vorbeihuschen einer Person spiegelt, Spiegeltüren, deren Bewegung man auf der Leinwand sieht, werfen ihre Reflektionen in den Zuschauerraum. Szenen, die räumlich versetzt gespielt werden, legt die Regie im Film als farblich unterschiedene Ebenen übereinander. Dann wieder harte Ausblendung aller Effekte und Enthüllung des realen, nackten Blue-Screen-Hinterraums. Die zusätzliche Sinneswahrnehmung, die gleichzeitige Verortung des Geschehens im eigenen Rücken wenige Meter entfernt, steigern das Unbehagen, das die Figur Caligula ohnehin ausstrahlt. Stück und Setting mögen abstrakt sein, die Beklemmung hingegen ist konkret am Körper erlebbar – und wirkt als verspannter Nacken vom permanenten Schulterblick nach.
Wesentlichen Anteil an der Unruhe, die "Caligula" auslöst, hat die Besetzung der Titelrolle mit Astrid Meyerfeldt. Erster Gedanke: Okay, eine Frau als Mann-Monster, hoffen wir, dass sich die Originalität nicht darin erschöpft. Tut sie nicht, die Wahl ist ein Volltreffer. Meyerfeldts Caligula beginnt als coole Sau im cremefarbenen Sixties-Kleid, die sich beim Lippen nachziehen auf der Toilette den Mond ("das Unmögliche") wünscht – als wäre der Mond eine Louis-Vuitton-Tasche, die es noch nirgends zu kaufen gibt. Sie wechselt zur brutalen Wortverdreherin, die dem alten Mereia in bösartiger Logik nicht begangene Verbrechen nachweist und in ihrer Grausamkeit noch weniger von dieser Welt wirkt, als dass der alte Mann hier von einer jungen Katharina Knap gespielt wird, die zuvor einen Nietzsche-Rap in digitaler 90er-Techno-Kulisse hingelegt hat. Im Gespräch mit dem Dichter Scipio (Sandra Gerling als eine Art kühle Sci-Fi-Lady) zeigt Caligula sich als Melancholikerin. Im offenen Disput mit dem Patrizier Cherea (Sebastian Röhrle) benennt sie rational und knapp die Inkompatibilität ihrer Ansprüche an das Leben im Vergleich zu denen ihres Umfeldes ("Sicherheit und Logik passen nicht zusammen"). Ihre ältliche Geliebte (Johannes May) erschießt sie nach nervöser Auseinandersetzung über den eigenen Freiheitsbegriff.
Realität in der Zuspitzung
Diese Wechsel vollzieht Meyerfeldt mühelos. Virtuos transformiert sie die Surrealität des Stücks in ihr Spiel. Und überstrahlt damit vieles – die im Vergleich eher typenhaften Nebendarsteller, eine zum Teil überdrehte, im wahrsten Sinne des Wortes Schwindel-erregende und auf Trash ausgerichtete Videokunst und schlicht überflüssige aktuelle Straßenschlachtenbilder.
Treffsicherer erweist sich die Radikalität der Inszenierung in der Zuspitzung des Finales. Bei Camus wird Caligula sein Irrtum bewusst: dass kein Mensch sich allein zu retten vermag und dass die Freiheit nicht auf Kosten anderer verwirklicht werden kann. Er fordert seine eigene Ermordung. Bei Garbaczewski ist diese Schlussfolgerung weit weniger klar. Meyerfeldt verpackt ihre Mitspieler in Leichensäcke und wischt das Blut aus den Kulissen. Die Zerstörerin geht ab. Es ist einfach nur vorbei.
Caligula
von Albert Camus
Deutsch von Uli Aumüller
Regie / Bühne: Krzysztof Garbaczewski, Kostüme: Svenja Gassen, Video: Robert Mleczko, Musik: Monika Brodka, Mielczarek, Live Kamera: Tobias Dusche, Philip Roscher, Wandmalerei: Anat Ivgi, Dramaturgie: Anna Haas.
Mit: Astrid Meyerfeldt (Caligula), Paul Schröder (Helicon), Sandra Gerling (Scipio), Sebastian Röhrle (Cherea), Katharina Knap (Mereia), Johannes May (Student der Akademie für Darstellende Kunst Baden - Württemberg) (Caesonia).
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-stuttgart.de
"Unter der Intendanz von Armin Petras hat es in Stuttgart bisher kaum eine Bühnenarbeit gegeben, die das Publikum vor eine so gewaltige Herausforderung stellen dürfte wie dieser Camus", schreibt Roland Müller in der Stuttgarter Zeitung (17.3.2014). "Allerdings: eine Herausforderung der entschieden unguten Art, was zu einem kleineren Teil am Drama selbst, zu einem weitaus größeren Teil aber an der hippen, mit allen technischen Schikanen aufgerüsteten Inszenierung liegt." "Vergafft in ihre durch und durch filmische Form", lasse sie dem ohnehin schwierigen Inhalt des französischen Autors und Philosophen keine Chance. "Was Camus den Lesern und Zuschauern handlungsarm, aber wortreich sagen will, kommt im Nord unter die Räder des totalen Kinos." Garbaczewski kläre das Rätsel des Übermenschen Caligula keineswegs auf – "und ja, fast gewinnt man den Eindruck, er arbeite zusammen mit seiner Dramaturgin an einer gezielten Strategie der Desinformation, um das menschgewordene Philosophenmysterium noch weiter zu verrätseln."
Die Verhandlung von Albert Camus' "Caligula" "hinter dem Rücken des auf der Bühne sitzenden Publikums verhandelt und (…) in den Gängen des Theaters" findet Nicole Golombek in den Stuttgarter Nachrichten (17.3.2014) "keine billige Reaktion auf Caligulas Satz vom Misstrauen gegenüber der Schauspielkunst, sondern der Versuch einer Reaktion auf den diktatorischen Irrsinn Caligulas". Deshalb verbinde der Regisseur die antike Situation des Ausgeliefertseins des Volkes mit der heutigen medialen Allüberwachung – "weshalb man Fußgänger in Einkaufsstraßen sieht und die Kamera gelegentlich ins Publikum hält". Der Aufwand lohne "absolut". "Zwar hätte man das hervorragende Ensemble auch gern leibhaftig gesehen, doch an diesem Abend gibt es halt kaum ein echtes Spiel im falschen Terrorleben." Die Verweigerung authentischen Spielens münde in "eine interessante Verräumlichung des Höhlengleichnisses" (…) – "immer nur die medialen Schatten und Abbilder zu zeigen, jegliche Ursprünglichkeit verneinend". Das erschöpfe sich in seiner Originalität recht schnell. Lohnenswert sei ein Blick auf diese Schattenwelt aber unbedingt.
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Es kann sein, dass der Regisseur Krzysztof Garbaczewski seiner Inszenierung das Höhlengleichnis aus Platons Politeia zugrunde gelegt hat. Dieses Gleichnis und die Art und Weise der Umsetzung haben leider mit der Intention Albert Camus und einer daraus abgeleiteten Medienkritik nichts gemeinsam. In der Politeia lässt Platon seinen Lehrer Sokrates das Höhlengleichnis erzählen: Die Menschen sind in einer Höhle so gefesselt, dass sie immer nur die Höhlenwand sehen können und nicht den Höhleneingang, durch den das Licht fällt. Sie sehen auf der Höhlenwand immer nur die Schatten, nie das Wahre. Erst, wenn die Menschen von den Fesseln befreit bzw. gelöst sind, haben sie Zugang zum Licht, zum Wahren.
Soweit Platons Medienkritik. Doch leben wir wirklich in einer wie auch immer gearteten Höhle und erleben mittelbar nur das Unwahre (Theater, Kino, Fernsehen, Internet usw.)? Erleben wir außerhalb dieser Höhle das Wahre – unmittelbare?
Ich empfehle hierzu den Aufsatz »HÖHLENEINGÄNGE, Zur Kritik des platonischen Höhlengleichnisses als Metapher der Medienkritik, Rafael Capurro,1999)
Der erkenntnistheoretische Gewinn ist bei einer guten Theateraufführung genauso gegeben und braucht nicht ein solches Konstrukt, das inhaltlich nicht trifft und formal sich schnell in seiner »Genialität« erschöpft. Wie wäre es, wenn der Regisseur jedem Zuschauer noch einen Spiegel in die Hand drückt, damit man durch diesen das Geschehen auf der Leinwand verfolgen kann. Dadurch würde die Wirklichkeit ja noch mehr gebrochen und der erkenntnistheoretische Gewinn wäre noch größer.
Medienkritik ist legitim. Werkinterpretation auch. Die allermeisten Zuschauer in Stuttgart bleiben ja ohnehin bis zum Schluss sitzen (zumindest an den beiden Tagen, an denen ich die Aufführung erlebt habe), verpassen nicht das Ende. Das Ende nämlich nimmt Caligulas letzte Worte „Noch lebe ich!“ sehr wörtlich. Caligula muss weiterleben mit der Schuld seiner Verbrechen. Das heisst: auch die grösstmögliche Verzweiflung über die Beliebigkeit einer Existenz legitimiert nicht die schweren Verbrechen. Andererseits wäre die Ermordung des Caligula ihrerseits ja wieder eine verabscheuungswürdige Bluttat gewesen. Ob der spätere Camus mit der Interpretation seines Jugendwerkes in Stuttgart wohl einverstanden gewesen wäre?