Das Rascheltheater

von Christoph Fellmann

Zürich, 15. März 2014. Erst wenn man mehrmals durch dieselbe Gegend wandere, sagt Ruedi Häusermann im Programmheft, dann werde sie einem vertraut. Die Gegend, das ist in seinem Fall die Literatur von Robert Walser, dem im Kleinen großen, 1956 gestorbenen Schweizer Schriftsteller. Anders als seine berühmteren Schweizer Kollegen betrieb Walser weder hellsichtige Gesellschaftsanalyse (wie Max Frisch) noch groteskes Welttheater (wie Friedrich Dürrenmatt). Lieber widmete er sich in seinen Romanen, vor allem aber in kurzen Prosastücken den wunderlichen Dingen des Alltags, dem Kratzen eines Bleistifts oder einem Wirtshausschild.

Der Dichter als Wanderer

Zum dritten Mal nach 1994 und 2004 widmet der Musiker und Theatermacher seinem liebsten Autoren nun bereits eine Inszenierung, und da ist sein komischer, ebenfalls an Walser angelehnter Unterhaltungsabend unter dem Titel "Kapelle Eidg. Moos" noch nicht mitgezählt. "Ich finde bei ihm Einsichten", so Häusermann über Walser, "die mir vertraut scheinen, die ich selbst aber nie so in Worte hätte fassen können."

Und tatsächlich, der Blick, den Häusermann auf das Theater wirft, gleicht dem des Robert Walser auf die Welt. Und wo der Schriftsteller einst staunend das Geraschel vernahm, das entsteht, "fuchtelt man mit Schuhen im Laub", so fuchtelt der Theatermacher auch im Zürcher Schauspielhaus mit allerhand Kulissen, Lichtmaschinen und Kabinettstückchen, auf dass der welke Stadttheaterbetrieb mit Robert Walser ins Rascheln kommt. Häusermann und seine drei Schauspieler erzählen eine dreitägige Wanderung, die Walser um 1920 unternahm, von seinem Wohnort in Biel nach Zürich-Hottingen, wo ihn der Lesezirkel zu einer Lesung eingeladen hatte. Dabei durchmisst der Abend mit Auszügen aus Walsers kurzer Prosa aber nicht nur drei Tage und knapp 120 Gehkilometer, sondern auch die Jahreszeiten sowie das Leben dieses Autors, der so gut zu Fuß war wie kein anderer.

robertwalser2 560 tonisuter ttfotografie uDie Walser-Wanderer: Herwig Ursin, Michael Neuenschwander, Klaus Brömmelmeier,
im Hintergrund: Sara Hubrich, Josa Gerhard, Christoph Hampe, Benedikt Bindewald
© Toni Suter / T+T Fotografie

Instrumente ruckeln wie von Geisterhand über die Bühne, und Michael Neuenschwander erzählt in einem grandiosen Text vom entsetzlich langen Montagvormittag eines Büroarbeiters (der Walser zeitweise war). So erfahren wir von einem Mann namens Helbling, einer Art Bartleby, bloß, dass seine Gesten der Verweigerung ungleich kleiner sind, pragmatischer, vielleicht auch schweizerischer: Helbling streicht sich halt den Schnauz glatt oder hält es geschlagene dreizehn Minuten auf der Toilette aus, um sich von der Arbeit fernzuhalten.

Irgendwann zieht ein Leichenzug für einen toten Bundesrat vorbei und es erklingt Blasmusik, dann ist der Vormittag schon fast überstanden. Notenständer kommen nun auf dem fußbetriebenen Laufband angefahren, und eine Wanderung führt mit Klaus Brömmelmeier bis nach Berlin, wo Walser seine drei großen Romane schrieb. Ein Landschaftsprospekt steht Kopf, Herwig Ursin lässt es regnen, und die Psyche des Schriftstellers beginnt sich zu kringeln wie seine Sprache.

Blick für die unbedeutenden Dinge

Es ist eine umständliche Sprache, die die Umstände umso präziser trifft: "Das Bedeutende zerrann, und ich widmete den unbedeutenden Dingen eine genaue Achtsamkeit und war sehr glücklich dabei", heißt es. Oder: "Ich liebe Sie also jedenfalls unbeschreiblich." Und ab und zu, zwischen kompliziertem Werben, mühseligem Schriftstellern und anschaulichem Wandern, da spielt Musik. Genauer, ein tiefergelegtes Streichquartett – ein Cello, zwei Bratschen und eine Geige – spielt die von Ruedi Häusermann komponierten Lieder. Das ist eine leise, undramatische Musik zwischen Neuer Musik und populärer Melodie. Sie trifft sehr schön den walserisch murmelnden Mansardenton und vergisst dabei weder das naive Staunen noch das milde Lächeln und auch nicht das stille sich Echauffieren.

Das steckt alles im richtigen Kleid und Kostüm, ist überhaupt sehr schmuck und kommt am Ende in der Vorlesung zu Hottingen zu einem runden Schluss. Und doch wirkt der Abend immer wieder etwas manieriert, wie ein Rezitativ von Walserismen zum Pizzicato der Regie. Das hat auch damit zu tun, dass sich Häusermann sehr routiniert zeigt in seinen Stilmitteln, und sehr verschossen in die Walserfolklore einer immer wieder gern gezeigten Wander- und Fresslust. Der Abend stellt sie noch einmal aus, die Schrullen dieses Autors, und erweist sich gerade darin als vollkommen überraschungslos. Prompt endet er am Lesepult in Hottingen da, wo mehr oder weniger alle Durchwanderungen dieses Autors und auch alle Schrullen enden: Klaus Brömmelmeier liest "Schneien". Was so gut passt, weil Robert Walser am 25. Dezember 1956 beim Spaziergang im Schnee einen Engel gemacht hat.


Robert Walser
von Ruedi Häusermann
Musik und Regie: Ruedi Häusermann, Bühne: Bettina Meyer, Kostüme: Barbara Maier, Licht: Frank Bittermann, Dramaturgie: Katja Hagedorn.
Mit: Klaus Brömmelmeier, Michael Neuenschwander, Herwig Ursin und einem Streichquartett (Sara Hubrich, Benedikt Bindewald, Josa Gerhard, Christoph Hampe).
Dauer: 1 Stunde und 50 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

"Pünktlich alle zehn Jahre überkommt den Musik- und Theaterfeinmotoriker Ruedi Häusermann das grosse Robert-Walser-Fieber. Dann muss er ausschwitzen, was dieses anhängliche Langzeitvirus in einem empfänglichen Menschen anrichten kann", beginnt Alfred Schlienger seine Kritik in der Neuen Zürcher Zeitung (17.3.2014). Und zum Ergebnis des aktuellen Fiebers schreibt Schlingre: In sparsamem Dekor entfalte sich "die hinreissende Eleganz von Walsers Umständlichkeiten, den feinstofflichen Alltagsbeobachtungen und den so anmutig bis übermütig gebrochenen Selbstbehauptungen in seinen Prosatexten". Es sei einer der Vorzüge des Abends, dass er keine Best-of-Strategie des Zitateklingelns verfolge, sondern ganz subjektiv eigenen Vorlieben folge, "der Sinnlichkeit und der Vergänglichkeit, dem Ernst und dem Spiel, der Natur und dem Wandern, der Selbstreflexion einer prekären Künstlerexistenz. Und natürlich der Musik". Die ganze Inszenierung werde wesentlich getragen, gestossen und gezogen von "melancholisch-schräger Streichmusik". Zu deren Risiken und Nebenwirkungen "fragen Sie aber am besten Ihren Apotheker oder eine Fachperson. Mein Nachbar ist friedlich eingeschlafen."

Häusermanns "Durchwanderung" habe "etwas erstaunlich Konkretes und Bildhaftes", schreibt Andreas Tobler im Tages-Anzeiger (17.3.2014). Erstaunlich, weil es in Häusermanns Theaterabenden eigentlich nicht um die Bebilderung von Texten und biografischen Episoden gehe, sondern um die "Eröffnung (…) einer Wahrnehmungswelt, in der unser Bewusstsein geschärft wird". Das funktioniert dem Rezensenten zufolge aber trotzdem: Durch die musikalische Rahmung und durch Häusermanns "kindlich-widerborstigen Witz" werde "unsere Wahrnehmung" der Walser-Texte "neu und anders" gereizt. Walsers "Unterricht in der Kunst, die Fröhlichkeit nicht einzubüssen" komme perfekt zur Geltung – "und muss ein Leben lang fortgesetzt werden".

"Bald sehr wunderbar" findet (nach etwas sperrigem Beginn) Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (22.3.2014) den Abend. Lautsprecher würden "an- und abgeschraubt, Instrumente vorgestellt und weggelegt, Versuche, die normierte Welt zu verstehen ad acta gelegt". Es geht dabei aus Sicht Tholls "um ein sehr individuelles Wahrnehmen von Welt, das auch Blödsinn nötig machen kann."

Kommentare  
Walser, Zürich: wenn es walsert und schneit
Es walsert und walser und walsert, und am Ende schneit es..... Aufführungen, die es im mentalen Denkraum schon gibt, müsste man eigentlich nicht nochmals machen
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