Noch einmal: mit Gefühl!

von André Mumot

Berlin, 21. März 2014. Gegen Ende packt die Freundin des Schriftstellers ihre Sachen und geht. Man kann ihr das wirklich nicht übelnehmen, schon weil dieser Stückeschreiber, mit dem sich Nis-Momme Stockmann hier selbst porträtiert, ständig so aufgeblasen wie selbstverliebt von Freiheit redet, von der Liebe als "der unausstehlichsten Daseinsform von allen", als dem großen "strukturellen Gefängnis". Was unter anderem daran liegt, dass er gerade an einem Stück arbeitet, das von diesem Gefängnis handeln und "Die kosmische Oktave" heißen soll. Seine Freundin aber sagt zum Abschied – in schlichter, schöner Großartigkeit: "Du weißt gar nichts über Liebe. Und du solltest auch wirklich nicht darüber schreiben. Du solltest einfach mal die Fresse halten."

Großartig faselnde Ich-Erzählung

Ausgehend von Goethes eiskalten "Wahlverwandtschaften" hat sich das noch immer amtierende Boy-Wonder der deutschsprachigen Gegenwartsdramatik mit der grausamen Unberechenbarkeit von zwischenmenschlichen Beziehungen auseinandergesetzt und dafür eine aufmerksame Nabelschau betrieben. In einer ausführlichen, eigentlich undramatischen und essayistisch ausgepolsterten Ich-Erzählung lässt Stockmann die eigene Kindheit Revue passieren, in der alles auf jenen traumatischen Moment zusteuert, an dem seine Mutter die Familie und die Insel Föhr verlässt, um sich noch einmal zu verwirklichen, um noch einmal freier zu leben.

KosmischeOktave2 560 DavidBaltzer xHere they go again: Timo Weisschnur, Miguel Perez Inesta (Saxophon), Toni Jessen, Guillaume
Francois und Bettina Hoppe - ein Teil von Ulrich Rasches Chor-Brigade in den Berliner
Sophiensaelen © David Baltzer
Diesen Erinnerungen, die überquellen von großartig beobachteten Details und weitschweifiger Soziologen-Faselei, von Wahrheit und schlecht verheiltem Kummer, stellt sich Regisseur Ulrich Rasche in den Berliner Sophiensaelen mit der ihm eigenen Feierlichkeit: Vor nackter Wand und in traurig verwehten Kunstnebelschwaden schreiten seine Darsteller über gewaltige Laufbänder, treten deklamierend auf der Stelle, wechseln sich in strengem Rhythmus ab und werden dabei fast unablässig musikalisch umschmeichelt und angetrieben.

Zwischen Wahnsinn und Seelenschmelze

Ari Benjamin Meyers hat für diesen Anlass eine kompetent hypnotisierende Philip-Glass-Imitation komponiert, die Robert-Wilson-Schüler Rasche naturgemäß entgegenkommt: Ein pulsierender Teppich repetitiver Muster, aus dem immer wieder sehnsüchtige Cello-Kantilenen aufsteigen und zu dem der fabelhafte Tenor Guillaume Francois mal weich ausschwingende, mal peitschend abgehackte Vokalisen beisteuert.

KosmischeOktave1 hoch DavidBaltzer xChef-Tragödin im Berliner Off: Corinna Kirchhoff
in den Sophiensaelen  © David Baltzer
Das Ergebnis ist ein Drei-Stunden-Musik-und-Text-Theater zum Wahnsinnigwerden und Dahinschmelzen, ein Abend, den man entweder ergriffen und mitgerissen aufsaugt oder Haare raufend verlässt (was einige Premierenbesucher dann auch bereits vor der Pause tun). Ein geradezu unheimlich konsequentes Happening, das so geduldig ist mit seiner Vorlage, dass es fast zwangsläufig ungeduldig macht, das beweist, dass der Grat zwischen spröde und öde sehr schmal ist, und das sich, während es fasziniert und betört, auch immer wieder in seinem hohen Ton verfängt: Vor allem Corinna Kirchhoff gefällt sich während ihrer manieriert ausgestanzten Monologe allzu sehr im eigenen Tränenglitzern und fassungslosen Silbenzerdehnen.

Dabei ist das, was diesen doch sehr privaten Stockmann-Text eigentlich ausmacht, das unbarmherzig unpathetische Luft-Rauslassen aus dem eigenen Show-Zynismus, die lakonische (und bisweilen garstig-komische) Selbstbespiegelung eines Künstlers, der einsehen muss, dass er in seiner Kitschangst und den ewig wiederholten Abgeklärtheitsphrasen alle Lebensperspektiven verloren hat. Vor allem in einer Begegnung mit dem bodenständigen Bruder, die profund demonstriert, was Stockmann für flüssig-kluge und unprätentiös stimmige Dialoge schreiben kann, kommt das zum Ausdruck: "Du bist ein trauriges, selbstgerechtes narzisstisches Arschloch", stellt dieser Bruder sachlich fest, "– wie ich sie zu Tausenden sehe, wenn ich durch Berlin laufe. Ein Arschloch, das von nichts zu wenig und von dem meisten zu viel hat – vor allen Dingen aber von Ego und Zeit."

Gefühlsfanal zerbricht Panzer

Es scheint, als würde Ulrich Rasches melodramatisches Aufbauschungsverfahren, sein erhabener Gänsehaut- und Rührungs-Eifer, diesem rüden Desillusionierungston zuwider laufen. Tatsächlich aber geht es ihm und Stockmann am Ende um etwas anderes, um die Rehabilitation des ganz großen, des unverstellten Gefühls – ein Ziel, das sie mit staunenswerter Verve erreichen. Es ist die Musik, die es in ihrem streng ritualisierten Minimalismus schafft, zugleich abstrakt und emotionalisierend zu wirken, die schonungslos und unentrinnbar den intellektuellen Panzer durchbricht, die die Schönheit durchsetzt, ohne die Gedanken zu verkleben. "Die kosmische Oktave", die so viel Zeit darauf verwendet, im Zweckpessimismus gegen die bürgerlichen Beziehungsformen zu wettern, kulminiert so in einem von Schmerzen angefeuerten Gefühls-und-Treue-und-Wahrhaftigkeits-Fanal, das sich gewaschen hat – vor allem, weil es sich seiner ideellen Naivität nicht schämt.

Toni Jessen, der an diesem Abend besonders stark, besonders funkelnd und spitz und klar die Stockmann-Worte über die Rampe bringt, denkt jedenfalls gar nicht ans Fresse halten. Erregt und mit flammenden Augen schreitet er am Ende übers Laufband und schimpft darüber, wie wir immer "tiefer und tiefer sinken ins Ego und das als Fortschritt abfeiern", während die Musik anschwillt und anschwillt, lauter und lauter wird und noch die letzte Scham abwirft. "Lasst uns von Liebe sprechen", ruft er ins hypnotisierte Publikum hinein. "Lasst uns sie eine Sekunde ernst nehmen. Wenn es uns lächerlich macht: Bitte!"

 

Die kosmische Oktave
von Ulrich Rasche und Nis-Momme Stockmann
Regie und Bühne: Ulrich Rasche, Musik: Ari Benjamin Meyers, Kostüme: Sara Schwartz.
Mit: Corinna Kirchhoff, Toni Jessen, Bettina Hoppe, Kornelia Lüdorff, Dorothea Arnold, Timo Weisschnur, Dominik Paul Weber, sowie: Guillaume Francois (Tenor) und Mitgliedern des Zafraan Ensemble: Miguel Pérez Iñesta, Zoé Cartier, Thomsen "Slowey" Merkel.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.sophiensaele.com

 

Kritikenrundschau

Schwere Geschütze fährt Kai Luehrs-Kaiser vom rbb Kulturradio (22.3.2014) gegen Stockmanns Text auf, in dem er "flaches, trotz Rollenwechseln halbgares Pubertätsgestammel" findet sowie "Selbstverwirklichungspathos und Betroffenheits-Schlabber". Ein enormer, "sehr respektabler Schauspieleraufwand" wird dem Abend attestiert (selbst wenn Corinna Kirchhoff ins "Edith-Clever-Epigonentum" verfalle) sowie "eine gute, wenn auch pauschal abstrahierende Regie (irgendwo zwischen Robert Wilson, René Pollesch und Andreas Kriegenburg)". Rasche biete Auftritte von "durchaus furchterregender Virtuosität. Keine Mimik, keine Gestik, keine Interaktion. Sondern nur Sprache, als wäre man bis zum Hals eingegraben."

Das Stück könne man pubertär finden, so Patrick Wildermann im Tagesspiegel (25.3.2014). "Zumal, wenn am Ende das große Bekenntnis zum Gefühl gefordert wird. Aber der heilige Ernst dieser Inszenierung verfehlt seine Wirkung nicht." Die Musik treibe Stockmanns Text furios an und hebe ihn "in Sphären jenseits der Probleme mit Neoliberalismus und Libido". Corinna Kirchhoff Tragödiengrollen schramme zwar "die Lächerlichkeit, öffnet aber reizvolle Kontraste". Außerdem: Sprache könne Stockmann: Hinter viel Text wüte "seine Sehnsucht nach Haltung. Und die verdient ein genaues Hinhören."

Es sei "kein sonderlich sympathisches Selbstbild", das Stockmann in der "offensichtlich höchst biografisch" grundierten "Kosmischen Oktave" schonungslos offen lege, meint Till Briegleb anlässlich der Aufführungsserie auf Kampnagel Hamburg in der Süddeutschen Zeitung (13.10.2014). Stockmanns Alter Ego strotze "vor Zynismus, Kalkül und Überheblichkeit, ist blockiert in allen Formen, einfach Zuneigung auszudrücken, und nur gut darin, Verwandte und Geliebte mit gestelzt intellektuellen Wortwaffen niederzuhalten." Die "hohe Intelligenz und Ehrlichkeit dieses Stückes" lägen aber "in der Fähigkeit, dies mit Abstand klar zu beschreiben und dabei eine verschämte Geschichte der Verletzlichkeit bloßzulegen." Regisseur Ulrich Rasche habe daraus "einen langen strengen Psychoworkshop gemacht, der seine Erinnerungsbefreiung aus der Technik gewinnt, dass Menschen beim Gehen am Fließendsten denken."

mehr nachtkritiken