Kuscheln mit Goldkante

von André Mumot

Berlin, 13. April 2014. Es gibt ihn schon früh, den Moment, an dem die zwei Welten aufeinander prallen, an dem man kurz die Luft anhält, auch hören kann, wie ein unterdrücktes Raunen durch die Reihen des Schillertheaters geht. Noch schwelgt und zuckt und glänzt die Staatskapelle im Bacchanal der Pariser Tannhäuser-Fassung, in der Sex- und Rauschmusik, die Wagner eigens fürs französische Publikum komponierte – und von jetzt auf gleich rutscht das gesetzte Opern-Establishment mitten hinein ins zeitgenössische Tanztheater. Es ist Peter Seiffert persönlich, altgedienter, stets zuverlässiger Heldentenor, Jahrgang 1954, der den Tannhäuser nach eigener Aussage schon 150 mal gesungen hat. Heute aber lässt er sich in die große Röhrenöffnung hineingleiten, die Sasha Waltz für den ersten Aufzug auf die Bühne gebaut hat und in der sich ihre Tänzer so aalen wie man sich eben aalt, wenn eine Orgie dargestellt werden soll.

Pyjama-Party mit Anfassen

Sie empfangen ihren Gast im weißen Pyjama, den korpulenten Knuddelbär-Ritter, der es gewohnt ist, mit beiden Beinen fest auf dem Boden zu stehen, während er singt. Doch schon bald kann man aufatmen: Der distinguierte ältere Herr ist nicht völlig verloren gegangen, es geht ihm gut, dem Herrn Seiffert, Berührungsängste im bisexuellen Ringelpiez mit Anfassen hat er keine, er hält sich tapfer im erotischen Ausdrucksgewimmel der von oben herab ständig nachrutschenden Körper. Auch seine Stimme hat er schnell gefunden, absolviert seine Leib-und-Magen-Partie mit glasklarer Kraft, nicht jugendlich – warum auch? –, aber machtvoll und mit einer silbrigen Klang- und Deklamations-Eindringlichkeit, vor der sich immer wieder nur der Hut ziehen lässt.

tannhauser 560 bernduhlih uGruppen-Kuscheln mit Schlüpper © Bernd Uhlig

Es scheint also erst einmal alles gut zu laufen in dieser vor lauter Publikumserwartung schier zerberstenden Berliner Premiere, von der sich nicht zuletzt die Macher selbst so viel versprechen. Es ist die große Stunde der Sasha Waltz, vor deren publicity-intensiver Hauptstadtflucht-Drohung sich mancher gefürchtet hat und die Daniel Barenboim nun intensiv in den Spielbetrieb der Staatsoper einzubinden gedenkt. Ihr gemeinsames Sacre du Printemps hat im letzten Jahr, wohl gerade weil es so traditionsbewusst überraschungslos ausgefallen ist, bereits für große Begeisterung gesorgt.

Schön anzuschauende Szene-Hipster

Im "Tannhäuser" sehen die Nymphen und Berauschten des Venusbergs nun aus wie auf der Warschauer Straße eingesammelte Szene-Hipster, man sieht Tätowierungen und Vollbärte und Männerdutte, aber alle lassen züchtig die Schlüpfer an, und schnell merkt man, dass es sich bei dieser angeblichen Orgie allenfalls um lifestyliges Gruppenkuscheln handelt, schmeichelhaft ausgeleuchtet und auffällig ungefährlich. Und um es schon vorwegzunehmen: So bleibt es auch während der ganzen Aufführung, die bald hineinführt in die gigantische Üppigkeit der Wartburg sowie schließlich zum Läuterungsende hin in wabernde, orangefarbene Kunstnebelmeer-Kulissen in feinster Caspar-David-Friedrich-Andächtigkeit.

Schön anzuschauen ist das, dient aber nur als Andeutungskulisse für das eigentliche Waltz-Projekt des Abends. Alle Beteiligten sollen in Bewegung gesetzt werden, sollen Teil sein einer präzise ausgeführten Groß-Choreografie: Barenboims Hornisten laufen deshalb musizierend mit über die Bühne, und die Tänzer teilen ihre Gesten mit dem (fabelhaften) Chor, treten elegant aus ihm heraus, umspielen ihn, tragen ihn manches Mal gar auf Händen. Auch die Solisten werden davon mitgerissen, lüpfen ihre Hüte und drehen in ihren nostalgischen Jagdkostümen und Herrenanzügen possierliche Freudens-Pirouetten. Und wenn Peter Matteis Wolfram traurig verliebt den Abendstern besingt (und dies mit der vollsten, der wärmsten und schließlich am lautesten gefeierten Stimme dieser Produktion) deutet er ein zartes Einsamkeitstänzchen an, die rührende, wiegende Umarmung eines Phantoms.

Trümmerfrauen-Broadway

Doch die professionellen Tänzerinnen und Tänzer fallen natürlich als agil anmutige Fremdkörper auf: Am Anfang des dritten Aufzugs vor allem, wenn sie als trauervolle Derwische wirbelnde Pilgergrüppchen bilden und schließlich in archaischer Büßertracht kahle Zweige über die Bühne tragen, nachdem sie im zweiten Aufzug, anlässlich des Sängerwettstreits, in beredten Liebesgesten schwelgen konnten. Viele kleine illustrative Kabinettstückchen entstehen dabei, hin und wieder kurz aufgelockert mit Schrittfolgen und Tanzfiguren, die eher an den Broadway erinnern als an Bayreuth. Auch Rock'n'Roll wird kurz angedeutet.

tannhauser1 560 bernduhlig u© Bernd Uhlig

In den 50er Jahren, das hat Sasha Waltz schon im Vorfeld erklärt, soll ihr Tannhäuser spielen, in der Gründungszeit des Schillertheaters; auch von Trümmerfrauen hat sie gesprochen. Doch man bekommt bloß ungebrochenen Gracia-Patricia-Glamour, der sich im zweiten Aufzug in eine nur schwer erträgliche Operettenseligkeit hineinsteigert. Das 50er-Jahre-Kostüm hat keine Aussage, es sieht nur gut aus – wie so ziemlich alles hier. Sasha Waltz, die das Inszenieren hilflos verweigert, wenn sie es mit intimen Gesangsmomenten zu tun bekommt, deutet nicht, sie reibt sich nicht an der Vorlage, nicht am Libretto, nicht am Konflikt zwischen Lustentfaltung und zerquält religiöser Keuschheitsfantasie. Sie analysiert nicht, sie zelebriert – jede musikalische Stimmung, jedes Pathos wird durch die szenische Schönheitswaschmaschine gedreht und kommt unverändert, nur mit zusätzlicher Goldkante verziert, daraus hervor.

Das Endergebnis ist in musikalischer Hinsicht, Barenboims Detailgenauigkeit und Intensitätssicherheit sei Dank, schlichtweg bravourös. Nur wer hier einen Zusammenprall des Etablierten und des Neuen gefürchtet hat, Bilder gar, die etwas mit Lust und Leid von echten Menschen (oder gar – oh Graus – der Gegenwart) zu tun haben, kann aufatmen: Alle Schlüpfer bleiben am Mann. Wer sich aber nach den Funken sehnte, die solch eine Kollision hätte hervorbringen müssen, bleibt enttäuscht und starrt am Ende fassungslos auf die scham- und gedankenlose Heiligtümelei, mit der die tote Elisabeth fürs große Finale in einen schrecklichen Lichtkegel gelegt wird. Zu schön, um wahr, zu schön, um wirklich etwas wert zu sein.

 

Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg
Große romantische Oper in drei Aufzügen, Text und Musik von Richard Wagner. Dresdner Fassung unter Einbeziehung des "Bacchanals" der Pariser Fassung (1861)
Musikalische Leitung: Daniel Barenboim, Regie und Choreographie: Sasha Waltz, Kostüme: Bernd Skodzig, Bühnenbild: Pia Maria Schriever und Sasha Waltz, Licht: David Finn; Chor: Martin Wright, Dramaturgie: Jens Schroth, Jochen Sandig.
Mit: René Pape, Peter Seiffert, Peter Mattei, Peter Sonn, Tobias Schabel, Florian Hoffmann, Jan Martiník, Marina Prudenskaya, Ann Petersen, Sónia Grané, Julia Mencke, Konstanze Löwe, Hannah Wighardt, Anna Charim. Tänzerinnen und Tänzer: Liza Alpízar Aguilar, Peggy Grelat-Dupont, Hwanhee Hwang, Maureen Lopez Lembo, Margaux Marielle-Tréhouart, Judith Sánchez Ruíz, Mata Sakka, Claudia de Serpa Soares, Davide Camplani, Gabriel Galindez Cruz, Joel Suárez Gómez, Stephan Laks, Nicola Mascia, Erik Niv, Virgis Puodziunas, Kevin Quinaou, Orlando Rodriguez, Antonios Vais. Staatsopernchor, Staatskapelle Berlin.
Dauer: 4 Stunden 40 Minuten, zwei Pausen

www.staatsoper-berlin.de

 

Kritikenrundschau

"Die als Choreografin weltweit stürmisch gefeierte Sasha Waltz lässt sich als Opernregisseurin kaum auf das ihr sichtbar unvertraute Gebiet der Personenführung ein, sondern würzt mit fabelhaften Tänzern das Geschehen", kommentiert Reinhard Brembeck in der Süddeutschen Zeitung (14.4.2014). "Immer ist dieser 'Tannhäuser' leicht in Bewegung, was das Rumstehtheater von Solisten und Chor belebt. Diese charmante Behelfslösung fügt sich wunderbar zu Barenboims Dirigieren, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Waltz zu den Knackpunkten der Geschichte keine Haltung hat, oder keine beziehen will."

"Kann man den religiös motivierten Begriff von Keuschheit im 'Tannhäuser' herunterrechnen auf die Anstandsregeln eines Tanztees in der Adenauer-Ära?", fragt Jan Brachmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (14.4.2014). Man frage sich am Ende, warum die Handlung aus dem Mittelalter in die fünfziger Jahre verlegt werde, eine Historisierung eine andere ersetze. Kurz: "Sasha Waltz hat sich mit einer Dekoration begnügt, über die sich niemand ärgern muss."

Schön sehe das aus, fern jeder Fragwürdigkeit, bar jeden Widerspruchspotenzials, so Ulrich Amling im Tagesspiegel (14.4.2014). "Oberammergau für Fortgeschrittene. Vom Tanz als durchgehendem Begleiter, Spiegel gar, kann hier keine Rede sein. Vom Willen zum großen Bild, in dem nichts lesbar ist, das aber in effektvoll gesetztem Licht, dagegen schon." Man traue dem Genre wenig zu, wolle man Waltz eine begnadete Opernregisseurin nennen.

Dieser Tannhäuser bleibe "Oper mit Tanz", so Kathrin Bettina Müller in der tageszeitung (14.4.2014). Die Reghie sei "dann doch sehr gelungen": "Im dritten Akt, der von der Trauer Elisabeths, die sich von Tannhäuser verraten fühlt und ihm dennoch verzeihen will, erzählt und vom Mitleiden Wolframs, der ein Freund der beiden ist und tief getroffen von ihrer Verzweiflung, schafft diese eine große Konzentration."

Entgeisterter reagiert Clemens Haustein in der Berliner Zeitung (14.4.2014): "Die Tänzerinnen und Tänzer agieren unverbunden neben den Sängern; sie kommentieren mit Bewegung, was der Musikdramatiker Wagner eigentlich schon mit seiner Musik kommentiert. Zum ausdrucksvollen Ganzen wird es an diesem Abend nicht kommen."

Georg-Friedrich Kühn schreibt auf www.nzz.ch (15.4.2014), der Website der Neuen Zürcher Zeitung, Waltz finde nicht den Schlüssel zu Wagners gar nicht tänzerischer Musik. Es gebe einige "hübsche Einfälle". Doch den Venusberg als eine Art Trichter dargestellt habe schon Peter Konwitschny einst in Dresden. Die Aktionen wiederholten sich, es gebe "Längen und viel Überflüssiges". Viel zu wenig sei mit den Sängern gearbeitet, kaum Vorgänge für sie und mit ihnen erfunden worden. Vielbeschäftigt seien dafür die Tänzer, aber "oft bloss zur Dekoration". So seien das "eigentliche Prunkstück dieser Produktion wieder einmal Daniel Barenboim und die Berliner Staatskapelle". Einen plausiblen "Tannhäuser" zu inszenieren, sei gewiss nicht leicht. "Für Sasha Waltz eine nicht lösbare Aufgabe."

 

Kommentare  
Tannhäuser, Berlin: I prefer not to
Wartburg? Knuddelbär-Ritter? Bisexueller Ringelpiez mit Anfassen? Ein distinguierter, älterer Herr, der eine Orgie mit jüngeren Menschen beiderlei Geschlechts veranstaltet? Ich möchte nicht dabei gewesen sein. Und wenn, dann nur voll bewusst und also voll frei-willig.
Tannhäuser, Berlin: neugierig
Schöner Text, macht neugierig auf die Inszenierung! Danke dafür!
Tannhäuser, Berlin: Augen zu und durch
Tanznachhilfe für Sänger durch Profitänzer –da haben die sich bestimmt sehr gefreut. Und der Kritiker braucht für eine ihn überzeugende Orgien-Darstellung offenbar Schlüpperaus wobei aber auch bisexueller Ringelpietz nur mit Anfassen wohl eher ungenügend orgiastisch wäre…??? – Dass unter so einem gut ausgeleuchteten Tannhäuser -Kitschprogramm ein Orchester zur Höchstform aufläuft, kann dem Hörer ja dann nur recht sein. Da gibt’s nur eines für Liebhaber handgemachter Musik in Echtzeit: Augen zu und durch. Echt bedauerlich, dass ich mir keine Opernkarte so richtig leisten kann, so einen handgemachten Tannhäuser, den ich mit dem Bus erreiche, hätte ich gern mal wieder gehört…
Tannhäuser, Berlin: Ähnlichkeit
Im Übrigen sieht der distinguierte, ältere Herr auf den Fotos ein bisschen aus wie Peter Stein. Kann das sein?

http://www.welt.de/kultur/theater/article109361644/Peter-Stein-ueber-Faust-Marathon-Eine-ganz-normale-Auffuehrung.html
Tannhäuser, Berlin: zwanghaft
Und warum bloß soll der Tannhäuser in den 50er Jahren spielen? Eine Begründung dafür hat Sasha Waltz nicht mitgeliefert? Und ausserdem, Trümmerfrauen und dann diese Kostüme? Wie geht das alles zusammen? Höchstens das etwas verklemmte und vielleicht genau deswegen viel zu enthemmt ausgelebte Triebleben des älteren Herrn kann ich mir vorstellen. Gerade keusche Christen müssen ja offenbar zwanghaft über das Verbotene hinausschießen.
Tannäuser, Berlin: noch eine Ähnlichkeit
Klaus Maria Brandauer würde auch passen:

http://www.badische-zeitung.de/stegen/klaus-maria-brandauer-kommt-als-ehrengast--48577715.html
Tannhäuser, Berlin: Bus?
@ itcouldbetrue: Warum ist Ihnen jetzt die Erwähnung eines Busses so wichtig?
Tannhäuser, Berlin: von wegen des Busses
Tannhäuser. Handgemacht in Echtzeit. Und dann auch noch problemlos und preiswert zu erreichen! - Das wärs doch eigentlich ... Sie müssen zugeben, dass man nach Bayreuth ja von Berlin nicht mit dem Bus kommt. Und die Karte einigermaßen unerschwinglich wäre... Wieso war Ihnen diese Frage so wichtig? Ich denk ich bin im falschen Film...
Tannhäuser, Berlin: nur quasseln
Schön, Inga, das müssen Sie auch nicht. Sie schreiben nicht, sie reden nicht, sie haben keine Ahnung und quasseln nur. Ihre Kommentare sind unseriös, geschmacklos und unerträglich.
Tannhäuser, Berlin: ein Auge
Wie toll, man kann hier posten und unterstellen und fragen und immer weiter nerven, man kann machen, was man will. Die Betreffenden/der Betreffende wird sich schon gemeint fühlen. Vielleicht redet dann ja auch noch eine/r. Denn was ich hier in der Bühne erkenne, ist weder ein Trichter noch ein Fernglas, sondern ein Auge: Pupille und Iris (sic!). Und bekanntlich geht es da für Gläubige um "das sehende Auge Gottes", wohingegen es für Nicht-Gläubige weniger um das nach aussen sehende Auge, als vielmehr um das in sich selbst hineinblickende/projizierende/innere Auge geht.

"Was müssen die Tiere von uns denken!" ( frei nach Meret Oppenheim)
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