Magazinrundschau April 2014 - Selbstvergessenheit, ökonomischer Druck und Angst vor der eigenen Hochstaplerei
Es gibt unglaublich viel Geld in Deutschland
von Wolfgang Behrens
April 2014. Die Theatermagazine widmen ihre Schwerpunkte in diesem Monat der Angst und der Inklusion. Dass es auch einen Abstecher zur Stadttheaterdebatte gibt, versteht sich ja eigentlich von selbst.
Theater der Zeit
Im April liefert Theater der Zeit seinen bereits für März angekündigten Schwerpunkt zum Inklusionstheater, dem Theater mit Behinderten, nach. Neben anderen Beiträgern schreibt dort auch der Schauspieler Thomas Thieme, der beim Theatertreffen des vergangenen Jahres die behinderte Schauspielerin Julia Häusermann vom Zürcher Theater HORA für ihre Performance in Jérôme Bels "Disabled Theater" mit dem Alfred-Kerr-Darstellerpreis auszeichnete.
Thieme möchte seine Laudatio von damals nicht wiederholen, aber: "Worauf meine Laudatio nicht einging, nicht eingehen konnte, nicht eingehen wollte, ist die Frage: Warum nicht jemanden aus den neun Stadt- und Staatstheaterproduktionen?" Seine Antwort: "Ich habe niemand anderen gefunden, der so meinen Kriterien entsprach wie Julia Häusermann. Ich habe viel gesehen: vor allem viel Technik, die ja an staatlichen Schauspielschulen perfekt vermittelt wird (was auch nicht so wahnsinnig schwierig ist, ist doch die Technik des Schauspielens vom durchschnittlich Intelligenten ohne Probleme erlernbar)." Seele, Hingabe und Authentizität aber hat Thieme vermisst. Er sei gefragt worden, ob er die Selbstvergessenheit, von der er in der Laudatio gesprochen habe, "wichtiger fände als zielgerichtetes, 'gebautes' Spiel. Direkte Frage, direkte Antwort: Ja. (...) In der Selbstvergessenheit liegt die Kraft, im Grenzbereich des Kontrollverlustes liegen die richtigen theatralen Wirkungen, bei jedem Schauspieler der Welt."
Die Welt des Theaters verlässt der schreibende (und vor allem – Gott sei's gepfiffen – der denkende!) Schauspieler und Wirt Josef Bierbichler und wendet sich in einem Kommentar einem ungemein wichtigen Thema zu. Den Fall Edathy zum Anlass nehmend, bemerkt er missbilligend: "Pädophilie darf kein diskussionswertes Thema sein. Es darf nur eine Meinung geben: zur Schau gestellte Abscheu. (...) Das Thema Pädophilie ist ganz offensichtlich eins, das das demokratische System in einen Grenzbereich manövriert: Darüber darf nicht diskutiert werden." Bierbichler allerdings wagt es, von dem Faktum der etwa 300 000 pädophil veranlagten Menschen auszugehen, davon, dass deren Sexualität nicht einfach aus der Welt ist, und er stellt fest, dass es "nicht ins Repertoire der anständigen Menschen und damit auch nicht in das der Parteipolitiker" gehöre, die "Verzweiflung der pädophil veranlagten Menschen mitzudenken, wenn über sie der Stab gebrochen wird." Und damit sei "diese ungeheure Komplikation zwischen individueller Veranlagung und der Obhutspflicht der Gesellschaft" dann doch und sogar ganz gewiss, so Bierbichler, "ein Thema fürs Theater".
Theater heute
Die April-Ausgabe von Theater heute macht mit einem gewichtigen Podiumsgespräch auf, das im Rahmen der Jahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft in Mannheim zum Thema "Wie wollen wir arbeiten?" von Chefredakteur Franz Wille moderiert wurde. Barbara Mundel, die Intendantin des Theaters Freiburg, Marion Tiedtke von der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt, Rolf Bolwin vom Deutschen Bühnenverein und Matthias Lilienthal, einstmals HAU Berlin, künftig Intendant der Münchner Kammerspiele, derzeit bei Theater der Welt, stellten sich dabei mal wieder der Strukturdebatte, die sich zwischen freien Verträgen und Festanstellungen, zwischen Tarif- und Hausverträgen sowie gekürzten Etats aufspannt.
Es mangelt nicht an kämpferischen Bekundungen guten Willens – die alle sympathisch und mehr als berechtigt sind: "Wir tun alle so, als wäre der ökonomische Druck unausweichlich. Aber von wem kommt er denn? Es gibt unglaublich viel Geld in der Bundesrepublik, und es ist eine Frage, wie man damit umgeht." (Mundel) Oder: "(...) neben der Frage, was uns zusteht, gilt mindestens ebenso die Frage, wie unser kultureller Bereich wieder eine Relevanz gewinnt, die solche Forderungen rechtfertigt." (Lilienthal)
Interessanter, weil konkreter, sind manchmal die Zahlen: "Es ist richtig, (...) dass die Zahl der Stückverträge gestiegen ist, die Zahl der festen Engagements gefallen. Aber es gibt in den letzten vier Jahren auch wieder Gegenentwicklungen. Die Zahl der am Theater Beschäftigten ist in diesem Zeitraum um 800 gestiegen" (Bolwin). Man wüsste schon gerne, an welchen Theatern diese 800 untergekommen sind. Oder: "Wir haben jedes Jahr bundesweit 180 Schauspielabsolventen allein von den staatlichen Ausbildungsinstitutionen. Die offizielle Vermittlungsquote der Zentralen Arbeitsvermittlung beträgt 80 Prozent; dahinter verbergen sich ungefähr gleich verteilt sowohl Gastspiel- wie Festverträge. Vakanzen für Festengagement gibt es jährlich circa 60" (Tiedtke). 180 – 60 = 120. Das sind also diejenigen, die nicht ins Festengagement vermittelt werden. Angesichts dieser Lage hält es Matthias Lilienthal "für dringend geboten, dass eine Schauspielschule ihre Ausbildung auf den Beruf des Performers umstellt."
Apropos Zahlen: Man kann ja auch mal nach New York schauen, wo Stefanie Carp in der Performance-Szene einiges in Bewegung sieht – neue Festivals, neue Orte. "Die Fülle der gezeigten Arbeiten ist zumindest numerisch erstaunlich." Carp hat jedoch den Leiter der Performance-Spielstätte PS122, Vallejo Gantner, einmal beispielhaft nach seiner Finanzierung gefragt: "Wie hoch ist der Anteil von privatem Geld im PS122-Budget?" "90 Prozent. Wir haben 1,5 Mio. Dollar Jahresbudget und sind ein Team von acht Leuten. 10 bis 20 Prozent davon verdienen wir mit Kartenverkauf, 25 Prozent sind individuelle Unterstützung, 30 bis 35 Prozent aus Stiftungen und 15 Prozent sind Mieteinnahmen." Um mit Walter Kempowski zu sprechen: Uns geht's ja noch gold. Noch!
Die deutsche Bühne
Der April-Schwerpunkt der Deutschen Bühne widmet sich einer am Theater nahezu omnipräsenten, aber oft auch beschwiegenen Emotion: Angst. Wobei diese weit über das bekannte Lampenfieber hinausgeht. Chefredakteur Detlef Brandenburg erwähnt etwa in seiner Einleitung die Verunsicherung vieler Theaterkünstler bezüglich ihrer Kompetenz und Professionalität: "Mehrere prominente und arrivierte Regisseure oder Regisseurinnen haben uns in den Gesprächen zu diesem Schwerpunkt anvertraut, dass sie immer wieder Arbeitsphasen erleben, in denen sie sich selbst als Hochstapler wahrnehmen, die nichts können und die Ensembles und die Öffentlichkeit immer nur geblendet haben. Aber jetzt, im Scheitern dieser Produktion, an der sie gerade arbeiten, werde das endlich offenbar werden, und damit wird es aus sein mit ihnen und ihrer Karriere." (Ein Gefühl übrigens, das mich beim Verfassen von Nachtkritiken auch schon beschlichen hat.) An leitenden Positionen wird die Angst durch den Finanzdruck noch verstärkt: "Intendanten und Regisseure empfinden ihre Lage vielfach so, dass das Scheitern auch nur einer einzigen großen Produktion kaum noch finanzierbar ist."
Angst kann aber auch die Folge des eigentümlich autokratischen Systems unserer Stadt- und Staatstheater sein, die manchmal Fürstenhöfen zu gleichen scheinen. In einem von sprechenden Pseudonymen durchsetzten Beitrag berichtet "Helmwige Hobelspan" vom "Phobostheater in Zittern an der Furchte": Wer dort arbeite, sei "vorgewarnt worden. Der Ruf eilt dem Chef voraus. Oder aber, wer nicht gewarnt wurde, ist einfach hart gesotten. Cholerische Anfälle, Stimmungsschwankungen, scheinbar willkürliche Demütigungen sind mehr oder weniger auf der Tagesordnung. Nach spätestens drei Wochen hat man entweder gekündigt oder psychische Teflon-Eigenschaften entwickelt." Die Angst vorm Chef könne am Theater gar "eine andere Dimension haben als in vielen anderen Branchen. Hierarchien fühlen sich hier oft flach an. (...) Genau in dieser manchmal eben doch bloß vermeintlichen Brüderlichkeit liegt aber das Heimtückische." Es ist ein nicht eben beruhigender Gedanke, dass wohl jedem gleich mehrere Theater einfallen dürften, die mit Zittern an der Furchte gemeint sein könnten.
Schließen wollen wir für heute indes völlig angstfrei, nämlich mit dem wunderbaren Zitat des Monats, das das Team der Deutschen Bühne in der Frankfurter Neuen Presse aufgetrieben hat. Es stammt vom Regisseur Hans Neuenfels und lautet: "Wir sind sehr verschieden. Peymann ist seine eigene Institution, Stein seine eigene Vergangenheit. Ich bin meine Gegenwart."
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Wenn man einfach ein oder zwei wenn nicht gleich 5 Produktionen im Jahr weniger machen würde, könnte man die jungen Regisseure vielleicht so bezahlen, dass sie sich angemessen Vorbereiten können und nicht 5 Stücke die Spielzeit machen müssen.
Die Schauspieler hätten wieder Lust zu spielen und würden nicht mit 6 oder 7 Inszenierungen am Burnout entlangschrappen und die Dramaturgen hätten vielleicht auch mal wieder Zeit ihrem Job als Produktions-Dramaturgen nachzukommen und könnten die Konzepte der Regisseure auf ihre logische Folgerichtigkeit abklopfen, damit nicht Pausenlos halbgare Kompromisse eingegangen werden müssen.
Also einfache Frage, wer zwingt euch dazu?
Menschenverstand, Empathie, oder Führungskompetenz können es nicht sein.
Welche geheime Macht zwingt uns fünf schleckt sitzende Jacken beim Super-Sonderpreis-Diskont-Markt zu kaufen, anstatt eine gut sitzende Jacke zu finden.
Ist es da Überangebot an billigen Jacken?
Oder sind es die Leute, die sagen: "Der trägt noch immer die gleiche Jacke."
Ihre Talente als schwäbische/r Hausfrau/mann in allen Ehren. Aber sind wir jetzt nicht schon bei Geschmacksfragen? Und ist es ethisch Jacken und Hemden von Billigsbietern in einstürzenden Altbauten in Bangladesch fertigen zu lassen, oder Eier zu kaufen, die nicht von freilaufenden Hühner gelegt werden? Upcycling, der neue Trend, alte Hüte zu neuen Fahrrädern umbauen. Klingt ja sehr modisch der Laden den sie da umdekoriert haben. Diese inspirierten Collagen aus altem Müll - die reine Idee zu sehen. Lässt sich gut fotografieren sowas, lässt sich gut in der Presse platzieren bei den originellen Dingen. Aber man will man so etwas dann wirklich tragen?
Ich mag Ware mit Fair-Trade-Gütesiegel und gutes Design, ja das hat was, Design muss halt auch Avantgarde sein, es nützt nichts jetzt den Freischwinger als Kind unserer Zeit zu verkaufen.
Vor dem sie ja Angst haben.
Und zwar weil der ja nur den Guten und Gerechten und Zukunftorientierten und Fortschrittlichen und gesunden Jungen und den kulturell uptodate-Gebildeten und Missionssicheren unter den Bürgern in jeder Volksmeinung als angemessen gilt! Sie sind doch die Spießer, das haben sie schon lange begreifen dürfen!
Nun ist das so: Die Bürger mit der Herzinsuffizienz können zwar wegen der Progredienz ihrer Erkrankung schlecht laufen, aber die Volksmeinung wahrnehmen, die können sie schon noch. Also für sie: Spießer-Rolle. For ever… Wenn sie erstmal in den Laden reingehen, könnten sie auf den Geschmack kommen an den gut sitzenden Klamotten und daran, dass so viele Leute plötzlich darüber debattieren, ob die jetzt Alte Hüte oder Avantgarde sind. Oder was g e n a u an denen althergebracht gemacht ist und was g e n a u die Avantgarde an ihnen ausmacht. So im Detail. Genauigkeit bei der Sortierung von Wahrnehmung ist ja ohne Denken nicht zu bewerkstelligen und wenn erst mal freudig gedacht wird kann das ja ungeahnte Folgen haben für jeden Spießer! Sogar für die Spießer unter den Avantgardisten! Ohne jetzt hier ins Detail gehen zu wollen. Die Bürger träfen ja auch auf alle diese Leute, die gewohnheitsgemäß ständig in diese Art Läden rennen, damit sie vor sich selbst ständig sich bestätigen können wie up to date sie sind und wie fortschrittlich und zukunftgewandt und unbürgerlich und topfit. Und DAS stelle ich mir dann doch recht spannend vor. Und deshalb sage ich immer noch nicht, wie man das macht, vollkommen unterschiedliche, erstklassige Regisseure mit eigenen, durchaus avantgardistischen Handschriften oder Bestrebungen dazu zu bringen, so gleichzeitig individuell UND kollektiv zu arbeiten, dass die Avantgarde sichtbar wird. Weil die ja für den Laden oder einen anderen der meine frühkindlichen Dekokünste als Nebenspielplatz begreifen kann und zu nutzen weiß, nämlich ein Alleinstellungsmerkmal sind. Und da werde ich wie gesagt den Teufel tun, als das so frei und frank hier auszuplaudern und da lass ich mir auch gern Alter-Hut-Vorwürfe machen. Im Übrigen verweise ich in etwa auf den Troika-Gedanken bei den Programm-Machern unter dem Titel „Und das Pferd?“ grob umrissen beschrieben. Das Schwäbisch-Verinnerlichte daran wäre vermutlich, dass es nicht gleich die Kosten verdreifachen würde, den Laden zu leiten, seine Fenster zu dekorieren und drinnen die guten Fair-Trade-Klamotten anzubieten, die seiner Funktion auf Zeithöhe entspricht. – Und ob die bisherigen Gütesiegel da die Urteilskraft abdecken, weiß ich nicht zu beurteilen, vermute aber, dass die Gütesiegel eben auch von Zeit zu Zeit zu andern Standards sich aufschwingen müssen. Ich selbst sehe das wie schon gesagt – eher medizinisch. Da gibt’s keine Gütesiegel sondern nur ganz nüchterne Funktionsprüfungen und exakte Beschreibungen der jeweiligen Zeit-Abweichung von Salutogenese. Exakt heißt hier: organtypische Lageortung und Beschreibung von Gewebedichten, -oberflächenbeschaffenheiten, Anomalien usw., entwicklungspsychologische Tiefensichtung, biochemische Erhebung der physiologischen Funktionsabläufe, Feststellung von Erkrankungen, Anamnese von Krankheitsverläufen, Einschätzung von Heilungschancen, Empfehlung von therapeutischen Maßnahmen, Verordnung von möglicherweise auch ziemlich bitteren Pillen, zeitgenössischer ganzheitlicher, d.h. schul- und gleichzeitig naturmedizinischer Behandlungsansatz – Und zwar das alles gleichzeitig. Immer alles gleichzeitig. Immer schwäbische Hausfrau UND Onkel Doktor. Gleichzeitig. Und von den vielleicht auch nicht uninteressanten Rollen zwischen Hausfrau und Mediziner reden wir als unerheblichen Hobbykram erst gar nicht. Und es ist mir so ziemlich egal, ob sich jemand diese Jacke dann anziehen will oder nicht – bei mir sitzt die erstklassig und das zählt. Für mich jedenfalls. Und wer was in der Presse plazieren will oder meint plazieren zu müssen, das interessiert mich auch nicht. Die Presse leidet ja zu erheblichen Teilen schließlich auch an Herzinsuffizienz in fortgeschrittenem Stadium und also an der Schaufensterkrankheit. Nur sollen sich darum andere Mediziner kümmern… Immer wieder ein bissiges Vergnügen – ich weiß schon, warum Sie mich immer an jemanden so erinnern, dass ich Ihnen Dinge anvertraue, die ich sonst nur ihm anvertraut habe. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit habe ich Sie mit ihm, blind dem Internett vertrauend, kurz in eine Freischwinger-Nostalgie verfallen, verwechselt. Es war mir trotzdem eine Ehre-