faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete - Ewald Palmetshofers Krisengebietsreise mit Goethe am Rheinischen Landestheater Neuss
Für Schwarzbrotliebhaber
von Martin Krumbholz
Neuss, den 25. April 2014. "Ich bin der Geist, der stets verneint, und das zu Recht..." So steht es zu Beginn auf dem Gazevorhang zu lesen, hinter dem drei Schauspielerinnen den Prolog zu Ewald Palmetshofers "faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete" sprechen. In dem 2010 entstandenen Stück mit dem schönen Titel, das ein zentrales Motiv aus Goethes "Faust" nimmt und herausvergrößert: das maßlose Begehren nach Glück in einer fatal begrenzten Welt – in diesem modernen Faust-Stück für sechs Personen ist Mephisto ein Teil Fausts: der verneinende Teil. Faust, der einsame DJ hinter seinem Laptop, ist die Spießer in seinem Milieu leid und sucht sein Glück in Afrika, in "Krisengebieten". Seine Partnerin, das zur Grete vergrößerte Gretchen, geht dabei samt ihrem Kind zuschanden, verreckt in einem Wald. In ihrem eigenen, ihrem heimischen Krisengebiet.
Das Geschwätz der Spießer
Aber weder Faust noch Mephisto noch Grete lässt Palmetshofer auftreten. Die handelnden Personen sind die besagten Spießer, drei junge Paare in einem Haus, Paul und Ines, Fritz und Anne, Robert und Tanja. Sie treffen sich zu Grillpartys, "Bring what you eat", schwätzen belangloses Zeug und versuchen, Außenstehende oder Neuankömmlinge zu "integrieren". Ihr Geschwätz dreht der Autor in seinen Sprachkaskaden um und um und findet dabei viel gut Gemeintes und wenig Seele. Doch er begnügt sich nicht mit dem Spott auf Kitsch und Phrasen. Seine Kunstsprache birgt utopische Momente, sperrige Monologe, die den verzerrten Dialog-Pingpong sprengen und ihren Gegenstand untersuchen, wenn auch nicht beherrschen.
Bettina Jahnke, die inszenierende Intendantin des Landestheaters Neuss, verzichtet jenseits der Sprache auf eine zweite, szenische Ebene. Die sechs Schauspieler stehen auf der leeren Bühne, jeder an einem Mikrofon, das mal benutzt wird, mal nicht. Im Hintergrund eine überlebensgroße Frauenfigur mit Fötus im aufgeschnittenen Bauch: ein anatomisches Menetekel.
Paul hat die Daumen in der Hosentasche. Ines singt "Zieh den Kreis nicht zu eng" – sie hat eine katholische Jungscharvergangenheit. (Im katholischen Neuss ergeben sich hier die schönsten Ankopplungsmöglichkeiten.) Fritz und Anne haben ein Baby und ein Babyphon, sonst könnten sie nicht unbesorgt grillen; und schließlich "fallen die Feste, wie man sie feiert". Robert und Tanja sind ein bisschen zickig. Robert will einen verunglückten Satz mit einem weiteren gutmachen, und Tanja belehrt ihn, das sei nicht wie in der Mathematik, "aus zwei blöden Sprüchen wird kein guter".
Sprechoper als Schwerarbeit
So schnurrt das Ganze ab: eine virtuose Sprechoper. Ran ans Mikrofon, weg vom Mikrofon. Spielbein, Standbein. Die riesige Frauenfigur dahinter reglos. Ein Song von Massive Attack trennt die Szenen voneinander ab. Der Zuschauer kann auch mal die Augen schließen und sich auf den ja nicht unkomplizierten Text konzentrieren – verpassen wird er wenig.
Vermutlich kann man dieses karge Bemühen redliche Schwerarbeit am aktuellen deutschsprachigen Drama nennen. Körniges Schwarzbrot für die Abstecherorte in der niederrheinischen Provinz. Aber 90 Minuten ziehen sich ganz schön in die Länge, wenn dem Auge nichts geboten wird. Es ist wohl doch ein Missverständnis, zu meinen, Palmetshofer hätte seinen Text von vornherein als Hörspiel konzipiert. Im Gegenteil: Gerade die Kunstfertigkeit der Sprache verlangt nach einer zweiten, einer szenischen Ebene, die die Sprechakte konterkariert, überbietet, aufhebt, ergänzt, was auch immer.
Dabei heißt das Neusser Spielzeitmotto: "Spielen!" Gespielt wird an diesem Abend nicht – sondern ein Text wird ehrfurchtsvoll zelebriert. Auch das ist gut gemeint und eher seelenlos realisiert.
faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete
von Ewald Palmetshofer
Regie: Bettina Jahnke, Ausstattung: Martin Dolnik, Dramaturgie: Alexandra Engelmann.
Mit: Johann Schiefer, Linda Riebau, Georg Strohbach, Ulrike Knobloch, Pablo Guaneme Pinilla, Shari Asha Crosson.
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause
www.rlt-neuss.de
Ewald Palmetshofers faust hat hunger... wurde von nachtkritik.de nach der Uraufführung durch Felicitas Brucker am Schauspielhaus Wien (2009) auch in Mannheim (2009, R: Dieter Boyer) und in Graz (2011, R: Anna-Sophie Mahler) besprochen.
"Ein hochkonzentrierter Theaterabend, der dem Zuschauer einiges abverlangt, schreibt Helga Bittner in der Neuß-Grevenbroicher Zeitung (28.4.2014). Aber ein lohnender, so die Kritikerin. Denn die Kunstsprache des Autors mit Monologen aus Halbsätzen, Ein-Wort-Gedanken sei eine echte Herausforderung für jeden Regisseur und seine Schauspieler. Regisseurin Bettina Jahnke "meistert sie, indem sie das Stück wie eine (Sprach-)Symphonie angeht. Mit rhythmischer Gestaltung, in deren Dienst sie ihre Schauspieler stellt, ohne Ausweichmöglichkeiten. Schiefer, Riebau, Strohbach, Pinella und Crosson machen allein mit Mimik, Stimme und minimaler Gestik die Figuren lebendig. Nachhaltig beeindruckend und prägnant."
Eindruck hat die Inszenierung bei Inge Hüsgen von der Westdeutschen Zeitung (28.4.2014) hinterlassen. Behutsam hate Bettina Jahnke den schwierigen Stoff auf die Bühne gebracht. Es gebe "scharf sezierte" Beobachtungen, die sich aus Kritikerinnensicht zu entdecken lohnen.
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wer Sprache, Körperhaltung und Licht so brilliant inszeniert, schafft beim Zuschauer Bilder im Kopf und so die zweite, szenische Ebene. Wir haben die virtuose "Sprechoper" sehr genossen!