Der Berg ruft: Revolution!

von Friederike Felbeck

Mülheim an der Ruhr, 29. April 2014. Was in ein Reclam Heft passt, geht auch in einen Schuhkarton. Der ist von innen rot angestrichen. Geweihe hängen an der Wand, Tische, Stühle und eine Kegelbahn. Über dem Tresen ein Flat Screen, der ein Alpenpanorama zeigt. Eine Art Peter Sellers mit starkem Schweizerischen Akzent, wie seine Mitspieler in Trachtenlook, führt in diesen "Wilhelm Tell" hinein: "Wir haben uns hier versammelt, um die schrecklichen Ereignisse, die zur Gründung der Schweiz führten, darzustellen."

wilhelmtell 560a andreaskoehring uIn roter Schuhschachtel, vor Hirschgeweih: Matthias Horn, Marco Leibnitz, Thomas Schweiberer, Boris Schwiebert. © Andreas Köhring

Alle Klischees wie Langsamkeit, Handlungsarmut und – neu hinzu gewonnen – Ausländerfeindlichkeit werden in improvisierten Texten durchdekliniert und das auf wenige Figuren reduzierte Personal des Schiller-Stückes vorgestellt. Der "böse Reichsvogt" Hermann Gessler, scharfzüngig und im nöligen österreichischen Dialekt gespielt von Wolf Gerlach, treibt im Gasthaus "Zum Rösti" mit schwarzem Umhang und Fasanenfeder im Hut sein Unwesen. Hier werden die Kegelbrüder aus Uri, Unterwalden und Schwyz wegen Wilderei, illegaler Einreise und Schwarzbrennerei belangt und gedemütigt. Dazwischen gibt's auf dem Fernseher skurrile Werbespots über die Schweiz zu sehen. "Bergvagabunden sind wir" singt das Quartett aus dem Ehepaar Stauffacher (den Wirtsleuten), Arnold von Melchtal und Walther Fürst. Wie ein Faktotum geistert der kernige Tell in Lederhosen mit Kleinfamilie durch die Szenerie, Mutter Tell führt eine lebensgroße Puppe als den gemeinsamen Sohn. Unter demselben Dach ist ein dubioser Ausländer abgestiegen, ein Deutscher namens Schubart, der von Marco Leibnitz mit fistelnder Stimme und fast durchsichtiger Schmalheit als Schiller-Paraphrase gegeben wird, die Szene beobachtet und sich Notizen macht.

Das Werden einer Revolution

"Wilhelm Tell" ist nach "Es brennt" (nach "Mario und der Zauberer" von Thomas Mann) und Schillers Kabale und Liebe bereits die dritte Arbeit des Choreografen und Regisseurs Jo Fabian für das Junge Theater an der Ruhr. Über eine Reader's-Digest-Version des Klassikers geht dieser durch viel Improvisation aufgeladene Sprechtheaterabend weit hinaus. Klug aneinander gefügt ist die Szenenfolge, die zwischen Slapstick und Schweiz-Folklore immer wieder in den Schiller'schen Originaltext hinein trudelt und sich dort ausbreitet. Dann wachsen die Szenen ins Dramatische (vor allem dank Gabriella Weber als Gertrud Stauffacher), die Dialoge sind glaubwürdig und geschliffen und entwickeln eine Magie und Dichte, die in diesem Ambiente überrascht und Schillers Stück im Zeitraffer durchwandert.

Der Abend funktioniert, obwohl er sich an Jugendliche ab der 8. Klasse richtet, alters- und spartenübergreifend – wirft er doch einen entschiedenen Blick auf das Werden einer Revolution, ohne dabei auf den Maidan oder Tahrir Platz schielen zu müssen. Indes fehlt ihm die rechte Explosivkraft, die anarchischen Momente kommen zu kurz und so fehlt ihm das letzte bisschen zum Durchzustarten. Das liegt vielleicht an der allzu genau ausgebreiteten Schweizer Folklore, die zwar viel Spaß macht und das junge Premierenpublikum unterhält. Aber wenn es ans Eide schwören geht, sind die ansonsten bedächtigen Schweizer Genossen genauso gefährlich wie ihre Besatzer – und Fabian lässt zu Dudelsack-Klängen vier Trommler energetisch und martialisch dazu aufschlagen.

Rücksichtslos philosophischer Zugriff

Der Höhepunkt des Abends ist gleichzeitig sein Dilemma: Will man diese "wahnsinnig berühmte Szene mit dem Apfel auf dem Kopf" wirklich zeigen? Und ist es korrekt, einen kleinen Jungen, nein: eine Holzpuppe, als Zielscheibe zu missbrauchen? Das Publikum soll abstimmen und entscheidet sich erwartungsgemäß für die actiongeladene Variante mit tödlichem Ausgang. "Schluss jetzt, Schuss jetzt!", kommandiert der Reichsvogt und zwingt Tell sogar zum Gewehr, denn "Mit der Armbrust kann's ja jeder!". Der Apfel fällt, der Reichsvogt wird von Tell erwürgt und die siegreichen Hirten formieren sich Fahne schwenkend mit ihren Waffen auf dem Berggipfel. Im Schlussbild schlagen sie noch einmal alle die Trommeln.

wilhelmtell 560 andreaskoehring uIm Trachtenlook vor Bergkulisse: Wolf Gerlach, Gabriella Weber, Thomas Schweiberer, Boris Schwiebert, Matthias Horn. © Andreas Köhring

Dieser leichtfüßige Abend erzählt die krude Story von "Wilhelm Tell" klar und nachvollziehbar und zeigt sie als Versuchsanordnung einer gewaltfreien Revolution. Fabians rücksichtslos-philosophischer Zugriff auf den Originaltext steht dabei in der langjährigen künstlerischen Tradition des Theaters an der Ruhr mit seinen tiefen Bohrungen nach heiklen Themen und schwer zugänglichen Stoffen. Dem Regisseur und seinem starken Schauspielensemble gelingt es, Lust auf mehr "Wilhelm Tell" zu machen und das entlegene Stück zu einer Erklärungshilfe für aktuelle Ereignisse heranzuziehen.

 

Wilhelm Tell
nach Friedrich Schiller
Regie und Bühne: Jo Fabian, Kostüm: Jo Fabian/Katharina Lautsch, Dramaturgie: Sven Schlötcke, Licht und Video: Jochen Jahncke, Musikalische Einrichtung: Lars Neugebauer, Puppenbau: Katharina Lautsch.
Mit: Wolf Gerlach, Thomas Schweiberer, Gabriella Weber, Denis Schmidt, Annegret Thiemann, Matthias Horn, Boris Schwiebert, Marco Leibnitz.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater-an-der-ruhr.de

 

Kritikenrundschau

"Jo Fabian ist es trefflich gelungen, den Stoff von Friedrich Schillers letztem vollendeten Drama (1804) restlos zu entstauben und daraus eine für junge Sehgewohnheiten frische Inszenierung zu machen", schreibt Margitta Ulbricht auf Der Westen, dem Internetportal der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (1.5.2014). Auf höchst ästhetische Art sei ein Sittengemälde mit deftigen Momenten entstanden. "Ein toller Abend voller witziger und spritziger Ideen, der nicht zuletzt dem spielfreudigen Ensemble zu verdanken ist."

"Insgesamt eine unterhaltsame und gelungene Entzauberung eines Klassikers", meint Steffen Tost in der NRZ (5.5.2014). Die Geschichte werde als Mythos entlarvt, den man hinterfragen muss. "Die originellen Einfälle sind das Kapital der Inszenierung von Jo Fabian." Die Streichungen am Ende findet Tost "klug und richtig". Jo Fabian nehme sein junges Publikum ernst. "Er bietet ihnen eine Fülle von Reizen, Anknüpfungs- punkte an ihre Welt, so dass sie der 90-minütigen Aufführung tatsächlich gebannt folgen."

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