Berückende Agonie des Alltags

von Frauke Hartmann

Hamburg, 26. Januar 2008. Manchmal nimmt das Leben einen nicht ernst. Ein Kind stirbt. Und Gewalt breitet sich aus wie Wellen von einem Stein, der ins Wasser gefallen ist. Eine allumfassende Bewegung der Oberfläche, des Sichtbaren, entsteht. Unwillkürlich überträgt sich die Gewalt auf das Schicksal derer, die beteiligt sind. Bis auch wir im Publikum Beteiligte sind.

Tod und Verstrickung

Das Kind ist vor ein Auto gelaufen, das eine aufgeregte Polizistin steuert, die einen Attentäter in einem anderen Auto zu verfolgen glaubt, der aber nur ein koksender Autodieb im Geschwindigkeitsrausch ist. Die Polizistin ist befreundet mit Karoline, die nach einer Krebsoperation keine Brüste mehr hat und die Geliebte des Vaters des Kindes ist. Der Autodieb ist der Lebensgefährte eines arbeitslosen Ex-Mitangestellten des Vaters. Und seine Ehefrau, die Mutter des Kindes, die ihre alzheimerkranke Schwiegermutter pflegt, begibt sich irgendwann in die Arme des einzigen Augenzeugen, eines Fremden, der den Tod ihres Achtjährigen mit angesehen hat und aus dem Krieg kommt. Aus welchem, erfahren wir nicht. Irgendwo ist immer Krieg.

Dea Lohers neues Stück "Das letzte Feuer", eine Auftragsproduktion des Thalia Theaters, erlebte gestern Abend seine Uraufführung unter der Regie von Andreas Kriegenburg. Und lieferte einen neuen Beweis für die traumwandlerisch funktionierende kongeniale Zusammenarbeit der beiden.

Kongeniales Theaterpaar

Loher ist eine Meisterin der Sprache. Das Stück besteht, wie fast immer bei ihr, nicht aus Handlung, sondern aus einer in Dialogen verpackten und sich langsam enthüllenden kollektiven Erzählung. Von dem Fremden erfahren wir, dass er sich über 24 Stunden in einem Pensionszimmer die Nägel gefeilt hat, schreiend, blutend, bis kein Fleisch mehr auf den Knochen war. Ein Bild, vor dem man nicht wie im Kino die Augen verschließen kann.

Diese Bilder im Kopf füllt Kriegenburg mit Fleisch und Blut. Zum Schmerz in Lohers Sprache erfindet er das Kino dazu. Mit den Bildern, die wir alle kennen, mit den abgenutzten Wohnungen, den Menschen in Unterwäsche, wie sie alleine sind, bügeln, aufräumen, an Selbstmord denken und sich verletzen, auf der Suche nach Wärme die Heizung umklammern.

Das aus ihrer Mitte gerissene Kind zeigt allen Weiterlebenden ihre Sehnsucht, zeigt, dass ihnen etwas fehlt, dass sie krank, verletzt, beschädigt sind. Und paradoxerweise ist es ausgerechnet die Alzheimerkranke, Katharina Matz in Höchstform, die sich als einzige an das Kind erinnert. Sie alle sind Nichtversteher, die Mitwisser werden wollen. Und dass sie nur ihre eigene Suche nach Sinn und Schuld und nur den eigenen Schmerz zur Verfügung haben, macht sie authentisch, wenn sie in aller Unzulänglichkeit die Geschichte zusammentragen. Und doch ist das ein großer Trost. Der einzige vielleicht, den Loher zu bieten hat.

Von Tür zu Tür: So ist das Leben

Das Bühnenbild von Anne Ehrlich besteht aus heruntergekommenen kleinbürgerlichen Räumen, die sich wie auf einem Karussell drehen und durch Türen miteinander verbunden sind. Ein Hamsterrad, bestehend aus Bad, Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer, Garderobe, Abstellraum, Hausflur, alle gefüllt mit hässlich beigefarbenen und braunen Möbeln, leeren Flaschen, Kleidungsstücken auf Bügeln, schmutziger Wäsche. Die Agonie des Alltags.

"Wir kehren die Scherben auf und fügen sie zusammen", sagen die Bewohner in ihren gebeugten Haltungen, später ist vom Glasscherbenviertel, der Einsamkeit im Abseits die Rede.

Kriegenburg lässt seine Schauspieler, denen Andrea Schaad mit ihren altertümlichen und spießigen Kostümen und ungepflegten Frisuren eine Aura des Gestrigen verpasst hat, auf seiner Drehbühne gegen die Drehbewegung laufen, um im Blickfeld zu bleiben, oder mit ihr abtreten, wenn sie stehen bleiben. Dieser Kniff gibt der Inszenierung ein hohes Tempo und eine Präzision, in der die großartigen Schauspieler etwa zwei Stunden laufen und daher improvisieren müssen. So ist das Leben, wenn man es nicht, wie Kriegenburg, manchmal anhält. Man geht von Tür zu Tür, durchschreitet nutzlose Räume und kommt nie irgendwo an.

Dazu, ebenso als Endlosschleife, die Musik von Laurent Simonetti, der Herzschlag des Stücks in einem verhaltenen Rhythmus, hin und wieder ein Kontrabass-Ton, kleine Melodielinien, ferner Gesang.

Am Ende dieses großen Abends ziehen die Leidtragenden der Erzählung Bilanz: zwei Tote, einer im Knast, zwei in der Klapsmühle, ein Verschwundener. Nur die Brustamputierte hat’s geschafft und ein Spezialgeschäft für erotische Prothesen eröffnet.

 

Das letzte Feuer, UA
von Dea Loher
Regie: Andreas Kriegenburg, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Andrea Schraad, Musik: Laurent Simonetti. Mit: Sandra Flubacher, Lisa Hagmeister, Hans Löw, Katharina Matz, Markwart Müller-Elmau, Jörg Pose, Natali Selig. Matthieu Svetchine, Angelika Thomas, Susanne Wolff.

www.thalia-theater.de

 

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Kritikenrundschau

Christine Dössel nennt Dea Loher in der Süddeutschen Zeitung (29.1.2008) die "Mater dolorosa unter den deutschsprachigen Dramatikern". Das Leid, das sie in ihren Dramen jeweils aufhäufe, überfordere selbst "harte Realisten". Aber so "feinnervig", wie sie es dann gestalte, hätte es auch eine gewisse poetische Natürlichkeit. Der Trost liege jeweils in der "Gemeinschaft der Leidtragenden. Auch "Das letzte Feuer" erzähle von einem "kollektiven 'Wir'" und sei "sehr versiert geschrieben, poetisch, lakonisch und traurig-komisch zugleich". Die permanente Drehbewegung, in der Andreas Kriegenburg und Anne Ehrlich dies dann allerdings am Thalia Theater zeigen, sei eine "mechanisch-elegische, waidwund zelebrierte Schmerzens-Rotation". Auch Simonettis hypnotische Musik schlage einem "erst aufs Gemüt, dann zunehmend auf die Nerven". Schauspielerisch hat es ihr gefallen, indes: "Ein wenig mehr Komik aber – und, nennen wir´s: Einkehr – hätten dem Unglück nicht geschadet."

In der Frankfurter Rundschau (28.1.2008) wagt Peter Michalzik einen großen Vergleich: Lese man zum ersten Mal Kafkas "Urteil", so stehe man "erst einmal mit offenem Mund da, erschüttert, verunsichert, erregt. Etwas davon hat auch das neue Stück von Dea Loher". "Das letzte Feuer" stelle "hartnäckig, gnadenlos, unersättlich die Frage ..., was es ist, das zwischen diesen – oder den – Menschen eine Verbindung herstellt. Was macht Gefühle, Verständnis, Vertrauen? Lange wurde diese Frage nicht mehr so intensiv gestellt." Es gebe in dem Stück "die witzige Seite des Nichts. Auf der anderen Seite liegen die einsame Verzweiflung und die endlose Traurigkeit. Auch weil sie nebeneinander bestehen", sei "Das letzte Feuer" "ein großer Text." Die stetig sich drehende Bühne, die Andreas Kriegenburg und Anne Ehrlich für ihre Uraufführung verwendet haben, sei "monoton bis zum Hypnoseschlaf und funktioniert trotzdem. Nachdem man es gesehen hat, lässt sich keine überzeugendere Umsetzung vorstellen." Zumal die Schauspieler allesamt konzentriert spielten und "mit Loher unnachgiebig in diesen Figuren" herumbohrten.

Dea Loher erschaffe in ihren Stücken "eine bilderreiche Trostlosigkeit", meint Katrin Ullmann im Tagesspiegel (28.1.2008). Und auch "Das letzte Feuer" sei "berührend, traurig und doch voller leisem, feinem Humor". Die immerzu sich drehende Drehbühne der Uraufführung aber hat Katrin Ullmann missfallen: "Dass diese spielerisch gemeinte Idee ... eher verspannte Auf- und Abtritte, eine schlechte Akustik und jede Menge Timing-Probleme mit sich führen würde", habe Regisseur Kriegenburg offensichtlich nicht bedacht. Dem Bühnengedrehe falle "auch Kriegenburgs übliche theatrale Bilderwelt zum Opfer. Er inszeniert Lohers Text zwar angenehm unpathetisch, doch gleichermaßen technisch. Kaum eine so ausgearbeitete Szene, dass sie über die Parkettreihen hinaus verständlich wäre. Inhalt, Sprache und Stimmung bleiben auf der Strecke."

Matthias Heine stellt in der Welt (28.1.2008) fest, dass es Dea Loher "nicht um Realismus zu tun" sei: "Deshalb reden ihrer Abgestürzten auch in einer hochtönenden poetischen Sprache, die klar macht, dass sie ... vor allem im Reich der Kunst leben." Mit seiner Drehbühne verwische Regisseur Kriegenburg "die Anflüge von Milieu-Realismus" sogar noch mehr. Über die Qualität des Stücks ist sich Heine trotzdem nicht ganz sicher: "Man mag zweifeln, ob Lohers Stück wirklich die Sterne erreicht, nach denen es greift." Aber: "Unbestreitbar ist, dass die Schauspieler es spielen, als wäre es schon jetzt eine große Tragödie der Weltliteratur." Und dann folgt noch die wunderbare Liebeserklärung an eine Schauspielerin: "Wahrhaft riesengroß ... ist die Leistung von Susanne Wolff, die ausgerechnet aus der unwahrscheinlichsten Figur den allerlebendigsten Menschen macht: Ihre brustamputierte Lehrerin strahlt so mysteriös schön, wie man es nie geahnt hätte, als man bei der Stücklektüre noch über diese allzu ausgedachte Gestalt die Nase rümpfte."

Simone Kaempf findet in der taz (29.1.2008), dass Dea Lohers "sprachgewaltiges" Stück den Vergleich mit dem Film "Babel" "nicht zu scheuen braucht". Auch Anne Ehrlichs Drehbühneist für sie kein Grund, sich zu beklagen. "Manchmal möchte man sie anhalten und die Bilder einfrieren, die von schöner leiser Trauer sind." Trotzdem: "Kriegenburg schafft es zwar, den Raum mit Gefühlen zu füllen und ihn wieder zu leeren, aber die glaubhafte Wendung ins schaurige Drama nimmt die Inszenierung nicht. In der Wohnung mit den abgeschlagenen Kacheln, vergilbten Tapeten und veraltetem Mobiliar erzählt sie mehr von sozialen Problemen, von Armut, Ausgrenzung und Blindheit den nächsten Menschen gegenüber. Und sie schaut mit liebevollem Blick auf die Wiederholungen des Alltags: das tägliche Aufstehen, Anziehen, Kaffeekochen, in dem auch tröstende Kraft stecken kann, immerhin."

Einen "erbarmungslosen Ringelreihen von Verzweiflung, Verlust, Krankheit, Schuld und Tod", nennt Christian Stöcker auf Spiegel online (27.1.2008) Lohers Stück. Kriegenburgs Urauffführung sei ein "schwindelerregender Traumatanz" und eine "vitale Demonstration dessen, was das Theater heute noch kann". Dabei sei die "Ansammlung Leidender, die Dea Loher zusammen in dieses Rennen ohne Ziel schickt, grotesk." Trotz der "permanenten Bewegung" geschehe auf der Bühne "fast nichts". In "einem stetigen Strom der Worte wird die Geschichte von einem zum anderen weitergereicht, mehr Prosa als Dialog".

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