Amphitryon - Der Shorty zum Gastspiel der Zürcher Kleist-Inszenierung von Karin Henkel beim Theatertreffen 2014
Ich ist ein Anachronismus
von Nikolaus Merck
Berlin, 3. Mai 2014. "Wir leben in der Morgendämmerung eines neuen Zeitalters", sagte der oberste Berliner Festspieler Thomas Oberender zur Eröffnung des diesjährigen Theatertreffens, "und das alte Theater wird sein Leitmedium werden." Schon am zweiten Tag legt das Theater Spuren aus, die in die Zukunft führen. In "Amphitryon" von Heinrich von Kleist, inszeniert von Karin Henkel am Schauspielhaus Zürich (Nachtkritik), entdecken wir Schichten unserer Epoche.
Die Bühne: ein open space mit Ledersesseln zwischen hohen Häusern – New York, sagt die Lise, genau wie in New York. Backsteinmauern, hohe Fronten seitlich, Fenster. Durch eines fällt Licht, frontal auf eine Wand. Die Sosiase, dieses Mal nicht bloß zwei, der irdische Mensch und sein göttlich-ideal-brutales Gegenbild Merkur, sondern drei, vier, fünf, vom Sturmwind der Geschichte zur Tür hinein geweht, tragen Trench und Hut zur Zigarette. Film noir, schwarze Serie im Deutschen Theater.
"Ich schau Dir in die Augen, Kleines"? Nein, nur der Leim, der uns kleben macht an dieser Aufführung. Denn oben auf der Wand, wo der Lichtschein fällt durchs Fensterkreuz, bildet sich das Unheilszeichen ab, unter dem wir leben, das erleuchtete Fenster von Windows 8, Betriebssystem der sterbenden Demokratien. "Wer bin ich?", fragen Sosias und Amphitryon, Charis und Alkmene, aber weil heute niemand mehr gefeit ist vor der Enteignung seiner Identität durch höhere Mächte, vor der Vervielfältigung des Ich, seiner schichtenweisen, von fremdem Algorithmus und Raster gesteuerten Speicherung in den Serverfarmen der kalifornischen Gottheiten, fragen zuletzt auch Jupiter und Merkur: "Wer bin ich?" und "Wen hast Du mehr geliebt, mich oder den anderen?", der viele war an diesem Abend.
Komisches Schreckensbild mit Überraschungseffekt
Das Ich war gestern, die alten Götter stürzen aus dem Himmel, der sich hinter den Bühnenfenstern dreht, und zurück bleiben die auseinanderstrebenden Versionen einer Identität, die vollständig und für uns alle unerreichbar nurmehr bei den Geheimdiensten hinterlegt sind. "Ich bin ein Mensch, da komm ich her, da geh ich hin", beschwört Charis, die nur ein Viertel Charis war und Sosias ist und Merkur, jenen sicheren Grund der Selbstwahrnehmung, der sich längst in einen lautlos brüllenden Abgrund des Selbstverlustes verwandelt hat. Das alte Stück als Bild eines neuen Zustandes. Manchmal gelingt das noch im Theater hierzulande.
Am Ende, wenn trotz des Boulevards, den Karin Henkel immer wieder in dieses komische Bild des Schreckens hineinzwingt, Tragödie und Erstarrung drohen, wird die Inszenierung versöhnlich. Weil ein Schauspieler fehlt bei der happy-endesken identitären Zuordnung der sechs Rollen, wird der Merkur rasch aus der Kantine geholt. In Berlin, anders als im Zürcher Original, erscheinen gleich zwei Merkure mit Tablett und Bierbüchse und Kraut: der etatmäßige Überraschungsgast Christian Baumbach und als special Bockwurstesser Berlins Liebling Wolfram Koch. Applaus. Jubel. Und morgen, verspricht Karin Henkel hinterher, wird noch ganz jemand anderer erscheinen.
Hier geht's zur Nachtkritik der Zürcher Premiere von "Amphitryon und sein Doppelgänger" im September 2013.
Zur Theatertreffen-Festivalübersicht mit Nachtkritiken und Kritikenrunschauen zu allen Premieren sowie Shorties zu den TT-Gastspielen.
meldungen >
- 17. April 2024 Autor und Regisseur René Pollesch in Berlin beigesetzt
- 17. April 2024 London: Die Sieger der Olivier Awards 2024
- 17. April 2024 Dresden: Mäzen Bernhard von Loeffelholz verstorben
- 15. April 2024 Würzburg: Intendant Markus Trabusch geht
- 15. April 2024 Französischer Kulturorden für Elfriede Jelinek
- 13. April 2024 Braunschweig: LOT-Theater stellt Betrieb ein
- 13. April 2024 Theater Hagen: Neuer Intendant ernannt
- 12. April 2024 Landesbühnentage 2024 erstmals dezentral
neueste kommentare >
-
Wasserschäden durch Brandschutz Rechnung
-
Medienschau Dt-Defizit Mitarbeiterrücken
-
ja nichts ist ok, Berlin Danke, Fabian!
-
Medienschau Hallervorden Stereotyp und einseitig
-
Olivier Awards 2024 Wunsch
-
Wasserschäden durch Brandschutz Es dauert
-
Wasserschäden durch Brandschutz Fragen eines lesenden Laien
-
TheatreIST-Festival Türkei Toller Bericht
-
Rücktritt Würzburg Nachtrag
-
Leser*innenkritik Anne-Marie die Schönheit, Berlin
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
Aber nein, ich habs, es wird Sebastian Blomberg. Ist vermutlich nach 2x Zement ohnehin noch in der Stadt. Und da Koch damals im DT Merkur spielte, wäre heute sein Sosias (Blomberg) aus der gleichen Inszenierung dran.
Freue mich über Tatsachenbericht.
Hihi.
(Lieber Herr Zisch,
ganz genau, Sie verstehen ganz genau richtig.
Gruß
jnm)
danke, dass theater doch noch möglich ist.
danke, dass keine frauen in hautfarbenen lackanzügen auf der bühne waren.
danke, dass es modern war und trotzdem niemand im planschbecken text schreien musste.
danke, dass mir erlaubt war, das interesse der regisseurin am text zu erkennen - und auch noch verstehen zu dürfen!
danke für das vertrauen in den text.
danke für das vertrauen in das spiel.
danke, dass die regisseurin die schauspieler hat spielen lassen.
danke an die schauspieler.
danke für die gute unterhaltung, ohne albernheiten unter der gürtellinie.
vielleicht traue ich mich nun wieder öfter ins theater.
herzlichst,
ein überraschungsgast