Ein schlechter Tag für eine Leiche

von Felizitas Ammann

Zürich, 27. Januar 2008. Der Tag hätte so schön sein können. Und vor allem: so kurz. Karin Schlüter hatte ihr Ende perfekt inszeniert: Sie schnitt das Telefonkabel durch, zog ein feuerrotes Kleid an, schluckte Pillen und bestellte den heimlich angebeteten Miroslav, seines Zeichens Fruchtsaftlieferant, auf drei Uhr, damit er die schöne Leiche fände.

Natürlich kommt alles anders und schuld daran ist das Leben in seiner trivialsten Form. Es beginnt mit einem Wasserrohrbruch und einem falsch zugestellten Paket – und alsbald kreuzt die halbe Nachbarschaft im Treppenhaus auf und mit ihr fast alle erdenklichen Nöte und Sorgen der Gegenwart.

Es kommt einiges zusammen in "Mein junges idiotisches Herz", dem zweiten Stück von Anja Hilling: Herzinsuffizienz, Vergewaltigung, Bulimie, Albträume, Einsamkeit und viel Erinnerung an bessere Tage. Dass dabei kein rührseliger Sozialkitsch herauskommt, das liegt nicht zuletzt daran, dass die "Nachwuchsautorin 2005" (laut Theater heute-Kritikerumfrage) ihren Figuren eine gehörige Portion Selbstironie verliehen hat. Die verhinderte schöne Leiche Schlüter scheint die Absurdität ihrer Situation manchmal fast zu genießen.

Zwischen Drama und schwarzer Komödie
Trotz allerhand Zufällen und bestens getimten Zusammentreffen ist "Mein junges idiotisches Herz" kein well-made play. Dazu ist es zu verschroben. Die Zwiegespräche zielen häufig aneinander vorbei, und es gibt sowieso viel mehr Monologe. Viele Szenen werden mehr erzählt als gespielt, häufig auch beides nacheinander. Und die Charaktere sind wohl typisiert, dabei aber sehr doppelbödig angelegt. Wenn einer sein Herz öffnet, dann meist nicht, ohne die absurde Ironie seiner Situation zu erkennen.

Daraus entsteht der unwägbare, widersprüchliche Zustand zwischen Beichten und Vertuschen, Heulen und Reflektieren, zwischen Drama und schwarzer Komödie. Und genau hier setzt die Inszenierung von Jan Stephan Schmieding, Regieassistent am Zürcher Schauspielhaus, an. Schmieding arbeitet nahe am Text. Er lässt die Leute reden, ohne große Szenen, ohne Zwischenspiele. Die Spannung entsteht aus der Mischung von abrupten Wechseln und zarten Zwischentönen. Das ergibt einen feinen Theaterabend, nie zu abgedreht – aber auch nie vorhersehbar.

In Marlene Baldaufs Bühne, einem Labyrinth aus nebeneinander liegenden Räumen, hocken die Mieter zu dicht aufeinander. Zwar versucht man sich in dieser kleinen Schicksalsgemeinschaft etwas auf Distanz zu halten, und doch stolpert man sich dauernd im Leben herum. Auch die Körper sprechen eine zweideutige Sprache, kommen sich viel zu schnell viel zu nah, mal sehnend zärtlich, häufig aggressiv.

Klamauk mit Brechen und Brüchen
Das Ensemble findet sich gut in diese Zwischentöne ein. Herausragend ist Katharina von Bock in der Rolle der Karin Schlüter: hinreißend melodramatisch, hysterisch aufgelöst und staubtrocken sarkastisch zugleich. Eben noch eine pathetisch Sterbende, muss sie schon bald die Tabletten wieder erbrechen. Und während sie sich wütend "ins Leben zurück kotzt", steht Fruchtsaftlieferant Miroslav (Tomas Flachs Nòbrega) in der Tür, der leider ganz und gar nicht auf kotzende Frauen steht, seit seine Freundin an Bulimie leidet.

Herrlich vieldeutig ist Ludwig Boettger als Hausmeister Zarter, der mit dem Foto seiner Ex-Frau plaudert und ihr von seinem Lover vorschwärmt, der ihn aber auch gerade verlassen zu haben scheint. André Meyer gibt den prolligen Postboten und Stones-Fan Ludger Hase klamaukig obercool – mit Brüchen. Nur die Geschichte vom Vergewaltigungsopfer Paula Lachmär, die seit der Tat nicht mehr spricht und täglich Gulasch kocht, wirkt etwas eindimensional und klischiert. Das vermag auch das engagierte Spiel von Miriam Wagner nicht ganz aufzubrechen.

Doch schon taucht Nachbar Sandmann (Michael Ransburg) auf, mit aufgeklebtem Schnauzer und gemusterter Strickjacke wie eine Hommage an Helge Schneider anzusehen, und berichtet von seinen ziemlich freud’schen, feuchten, sich täglich wiederholenden Träumen. Eine abgedrehte Sache ist das und ganz nach dem Geschmack der furiosen Frau Schlüter, die immer noch in ihrem glamourösen Kleid herum steht und mault über den Tag, der so schön hätte sein können und so kurz. Doch das Leben macht was es will, es geht seinen gewohnten banalen Gang. Nur nicht für den Postboten, der liegt nämlich tot im Keller.

Mein junges idiotisches Herz
von Anja Hilling
Schweizer Erstaufführung
Regie: Jan Stephan Schmieding, Bühne: Marlene Baldauf, Kostüme: Karin Jud.
Mit: Katharina von Bock, André Meyer, Ludwig Boettger, Michael Ransburg, Miriam Wagner, Tomas Flachs Nòbrega.

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

"Ein kleiner Meisterstreich" sei Anja Hillings Stück über kaputte Existenzen in einem Mietshaus, schreibt Tobias Hoffmann in der Neuen Zürcher Zeitung (29.1.2008). Kleine Übereifrigkeiten eingeschlossen, sei es "packend", wie sie aus "einer knappen, mit unzähligen Punkten segmentierten Sprache heraus" ein "komplexes Zeit- Raum und Beziehungsgewebe" geschaffen und "Sichtbares und Unsichtbares, Sinnliches und Metaphorisches" inszeniert habe. "Für einen Regisseur, so scheint es, bleibt da nicht viel zu tun." Entsprechend aufgesetzt erscheint dem Kritiker, was Jan Stephan Schmieding und Marlene Baldauf trotzdem versuchen. Baldauf, die Bühnenbildnerin, hätte ein "Spiegelkabinett ohne Spiegel" geschaffen und die Abgeschottetheit der Mieter so in einen "unablässigen Austausch" verkehrt, den die Darsteller unter Schmiedings Regie als notorische "Selbstdarsteller" betrieben. "Gelassenheit und Sparsamkeit der Mittel" hätten dem Text besser getan: "Zu viel Animation verdeckt seine Natur – und macht es beliebig."

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