... und ein bisschen an der Satzstellung schnipseln

von Wolfgang Behrens

Berlin, 9. Mai 2014. Die Frage, was einem Theatertreffen-Juror während seiner Jury-Tätigkeit wohl am schwersten fällt, ist nicht gerade eine, die einem auf den Nägeln brennt. Manchmal aber treffen einen unerwartet Antworten auf Fragen, die man nie gestellt hat. Der Jurorin Daniele Muscionico jedenfalls, der der Auftrag zufiel, im Magazin des Theatertreffens die Einladung an Frank Castorfs "Reise ans Ende der Nacht"-Inszenierung zu begründen, scheint ebendies außerordentlich schwer gefallen zu sein. Oder vielleicht gerade nicht? Es lohnt sich, etwas genauer hinzuschauen.

Dazu öffnen wir erst einmal das Programmheft zur Inszenierung, für das die Residenztheater-Dramaturgin Angela Obst verantwortlich zeichnet. Dort heißt es auf S. 2 unter der Überschrift "Zum Text": "Krawumm! Wie eine Bombe schlägt 1932 der Roman 'Voyage au bout de la nuit' in die literarische Welt ein und wirft Brand auf die Lesetische der Welt. Sartre und de Beauvoir, Gorki und Trotzki, Bataille und Benn, der junge Henry Miller und der alte Sigmund Freud, Thomas Mann und – ja, alle lesen den Debütroman des Bombenlegers Louis-Ferdinand Destouches alias Céline."

blog bild celineresitext 280 sle uResi-Original (Ausschnitt)Kein schlechter Anfang, mag sich Daniele Muscionico gedacht haben. Aber doch verbesserungsbedürftig! "Krawumm"? Nein, das muss weg. Und ein bisschen sollte man auch an der Satzstellung schnipseln. Ihre Jury-Begründung auf S. 22 des Magazins beginnt also mit folgenden Worten: "Wie eine Bombe schlägt 1932 der Roman 'Voyage au bout de la nuit' in die literarische Welt ein und erschüttert die Lesetische von Sartre und de Beauvoir, Gorki und Trotzki, Bataille und Benn, des jungen Henry Miller und des alten Sigmund Freud. Der Bombenleger: der Debütant Louis-Ferdinand Destouches alias Céline." Klingt gleich ganz anders, oder?

Im Text von Angela Obst heißt es später: "Er [die Hauptperson Baradamu] durchstreift die Ränder der Gesellschaft, die Bordelle, die Psychiatrien, die Mietshäuser der Armen, die Kriegsgräben und die Hütten der Kolonisten." Daniele Muscionico wird sich gedacht haben: "Durchstreift? Nein, er taumelt!" Und schrieb, dass Bardamu "entlang der Ränder der Gesellschaft taumelt: in Bordellen, psychiatrischen Kliniken, den Mietskasernen bei den Armen in Paris, in den Kriegsgräben und Hütten der Kolonialisten in Afrika, im Großstadtdschungel von New York." Bemerken Sie die feinen Unterschiede? (Übrigens kommt der Großstadtdschungel New York bei Angela Obst an anderer Stelle auch schon vor.)

Lesen wir weiter im Münchner Programmheft: "Ferdinand Bardamu steht allegorisch für den unbehausten, untröstlichen Menschen des 20. Jahrhunderts, seine Reiseroute für die Schmerzpunkte der Moderne, seine angsterfüllte Seele für die moralische Verkrüppelung eines kriegsversehrten Kollektivs." Und im Magazin des Theatertreffens setzt Muscionico ihren Text so fort: "Ferdinand Bardamu – Bibiana Beglau und Franz Pätzold in wunderbar überhitzter Spielweise – [was für ein eleganter Einschub! Anmerkung wb] steht allegorisch für den unbehausten, untröstlichen Menschen der Moderne, seine angstzerfetzte [genau: zerfetzt, nicht erfüllt! Anmerkung wb] Seele für die moralische Verkrüppelung eines kriegsversehrten Kollektivs." Die "faustische Figur in seiner Getriebenheit" von Angela Obst formt Miscionico im Kreativrausch in eine "faustische Figur und Getriebenen" um.

blog bild celine tttext 280 sle uTheatertreffen-Plagiat (Ausschnitt)Und schließlich musste noch der Schlusspointe von Angela Obsts Programmheft-Beitrag aufgeholfen werden. Darin lautet der letzte Satz (hier gekürzt wiedergegeben): "Célines Leben [...] ist polarisierend, doppelbödig und finster – wie seine Literatur." Bei Muscionico wird daraus: "Es [das meint Castorfs Theater. Anmerkung wb] ist polarisierend, doppelbödig und finster – wie Célines Literatur."

Man reibt sich die Augen, hatte man doch gedacht, dass in Post-Guttenberg-Zeiten der Kulturtechnik des Abschreibens mit etwas mehr Vorsicht begegnet würde. Weit gefehlt! Nun haben also auch die Berliner Festspiele einen – nennen wir es beim Wort: Plagiatsfall! Und das besonders Dürftige ist hier, dass eine Kritikerin, die auch noch in das hohe Amt einer Jurorin beim angesehensten deutschsprachigen Theaterfestival gelangt ist, einfach das Material einer Dramaturgie ausschlachtet, als sei diese der Zulieferbetrieb für Rezensenten. Muscionico würdigt die Inszenierung mit den Worten des produzierenden Theaters – weiter entfernt von kritischer Distanz kann man kaum sein.

Alle, die daran gewöhnt sind, sich Gedanken zu machen, bevor sie etwas hinschreiben, müssen durch eine solche Praxis beleidigt sein. Das, Frau Muscionico, ist keine Bagatelle!

 

Nachtrag, 9. Mai 2014, 18 Uhr

Mittlerweile liegt eine Reaktion der Berliner Festspiele sowie von Daniele Muscionico vor, die wir hier im Wortlaut wiedergeben:

Zum Blog-Beitrag bei nachtkritik.de

Die Berliner Festspiele bedauern zutiefst, dass die Begründung einer Jurorin im Programmheft des Theatertreffens sich in weiten Teilen des Textes im Programmheft des Münchner Residenztheaters bedient. Dieser Vorgang ist unzulässig und hätte nicht vorkommen dürfen. Unsere hauseigenen Kontrollinstanzen haben in diesem Fall nicht in der nötigen Konsequenz funktioniert. Die Unabhängigkeit der Juryauswahl ist von diesem Vorgang nicht berührt.

Statement der Jurorin Daniele Muscionico

Ich bedaure, dass ich in einem Moment von Gedankenlosigkeit den Fauxpas beging und mich der Sätze aus dem Programmheft bediente. Ich betrachte das nicht als meine Arbeitsgrundlage, sondern als Panne, die sich nicht wiederholen darf.

 

Nachtrag, 12. Mai 2014, Rücktritt von Daniele Muscionico

Aufgrund der durch Recherchen von nachtkritik.de aufgedeckten Plagiatsfälle ist Daniele Muscionico als Jurorin des Theatertreffens zurückgetreten. Weitere Informationen dazu finden Sie hier.

 

Unsere Theatertreffen-Festivalübersicht mit Nachtkritiken und Kritikenrundschauen zu allen Premieren, Shorties zu den TT-Gastspielen sowie Meldungen, Presseschauen, Diskussionsberichten.