Der kränkelnde Dickdarm der Gesellschaft

von Tomo Mirko Pavlovic

Karlsruhe, 1. April 2007. Die Hoffnung stirbt zuallererst. Diese Hände aber auch! Sie sind jederzeit überall. Im wirren Haar. An pochenden Schläfen. Auf glitschigen Whiskyflaschen. Sie spielen ihr virtuoses schweißnasses Neurosenspiel, ein zappeliges Schau-hin-Spiel zu zehn Händen, unentwegt zitternd, schlagend, angreifend, als wollten sie von ihren heillos schwadronierenden Besitzerkörpern ablenken. Sie sind die stummen, von einem seltsamen Eigenleben beseelten Verräter, Verstärker und Vervielfacher einer Rhetorik des Vorwurfs in Eugene O'Neills Stück "Eines langen Tages Reise in die Nacht", das nun im Badischen Staatstheater in der Inszenierung von Donald Berkenhoff Premiere feierte.

Alles beginnt am Morgen und endet in der folgenden Nacht in einem kleinen Ort an der Küste. Irgendein verfluchter Tag im Leben der Familie Tyrone, die im Sommerhaus an ihrem American Dream verzweifelt. Wo man auch hinblickt: Angst, Versagen, und eine anfänglich aufgeräumte, breit gezogene, von Peter Schubert eingerichtete Bühne, die in einem etwas ungenauen 50er-Jahre-Stilmix aus Nierentisch, Lederfauteuil und Ikealampe eine warm erleuchtete biedere Wohnlandschaft für kuschelbedürftige Mittelschichten bereitstellt, samt, aufgepasst!, hockerlosem und als Abstell- und Abstützfläche missbrauchtem Klavier. Künstlerpech.

Jungfrauensehnsüchte und Morphium getränkte Hassgefühle

James Tyrone, der Vater und Patriarch, hat es mit seiner Schauspielerei zu maßvollem Ruhm und einigem Wohlstand gebracht, doch leben kann er ihn nicht, weshalb er, der materialistischen Mangelhypothese hörig, als typisches Aufsteigerkind irischer Einwanderer seinen Lebensabend mit dem sinnlosen Kauf von Ländereien vorbereitet und im Geiz erstickt. Stefan Viering gibt ihn, anders als ihn sich O'Neill in seinen ausufernden Regieanweisungen einst vorgestellt hat, nicht als alternden, charismatischen Beau, sondern nervt und beeindruckt gleichermaßen mit dem Charme eines vernuschelten spröden Ignoranten, der eher im Baumarkt an der Kasse als in den Herzen schüchtern kichernder Theater-Dämchen im Parkett zu finden ist.

James’ Söhne praktizieren ebenfalls in der künstlerischen Abteilung, allerdings mit geringem Erfolg. Der herumhurende Mittdreißiger Jamie dient sich mit väterlichem Vitamin B am Broadway an, der zehn Jahre jüngere blässliche Edmund hingegen poetisiert bisweilen nietzscheanisch morbid daher, was auch nicht durch die ausbrechende Tuberkulose zu entschuldigen ist. Thomas Gerber und Robert Besta mimen dieses Brüderpaar als den zu erwartenden aggressiven Gegenpol zum Vater, auf reichlich Körpereinsatz vertrauend. Zu allem Überfluss schwebt ab und an auch noch die Dame des Hauses über eine metallkalte Wendeltreppe ins triste Geschehen, Mary, das immer noch hübsche, aber von Jungfrauensehnsüchten und Morphium getränkten Hassgefühlen ferngesteuerte Muttertier und Ehepüppchen, das eigentlich keiner mehr braucht, weder die erwachsenen Söhne noch der Ego-Gatte und am wenigsten der Haushalt, der vom dummdreisten Hausmädchen Cathleen (clownesk: Teresa Trauth) besorgt wird. Ursula Grossenbacher hat den schwierigsten Part, weil sie zwischen ätherischen Anwandlungen, versuchter Selbstkontrolle und anklagendem Furienwahn changieren muss und sich in den ersten Akten des Öfteren verunsichert an den Text klammert. Unmotivierte Ausbrüche und Stimmungswechsel haben nichts Leidenschaftliches mehr, sondern offenbaren, wenn es heftig zugeht, Sprechblasentheater.

Der kränkelnde Dickdarm der Gesellschaft 

Überzeugender ist die Grossenbacher, wenn sie dem Hausmädchen ihre Träume anvertraut, in erotisiertem Tonfall auch noch die Klassenschranken vergisst und Cathleens rotbestrumpfte Zehen massiert. Überhaupt wirkt Marys Figur verloren, was auch an Stefan Vierings Verkörperung von James liegen mag. Für sich genommen erscheint der Biedermann plausibel, auch im gemeinsamen Spiel mit den Söhnen entwickelt sich eine plausible, heutig wirkende Kumpellogik, die sich sogar in der gleichen Kleidung spiegelt. Aber was um Himmelswillen kann diese Mary jemals in James gesehen haben? Kann sich eine Klosterschülerin und eingebildete Pianistin an einen Halbkünstler wegwerfen, der die Aura eines vor sich hinsprotzelnden Rasenmähers besitzt und sich beim Whisky weitaus besser auskennt als bei  "Schoppenhauer" oder "Buddelaire"? Eher nicht. Einiges erinnert an Arthur Miller und seinen chancenlosen Handlungsreisenden, verwischt wurden dafür alle Spuren von Strindberg, von dem O’Neill viel abgeguckt hat.

Die Regie konzentriert sich auf den kränkelnden Dickdarm der Gesellschaft, die scheiternde Mittelklasse-Familie, die sich innerlich zerfleischt und in Selbstliebe und Sehnsucht erstarrt wie eine Fliege in Bernstein. Doch die Ambivalenz des Dialogs und der unerbittlichen Selbstverklärungssuada leidet unter dem elektrisierten Körper, der vieles mit den nervösen Gliedern und vor allem den Händen, aber leider nicht mit den Worten sagen will. Die Härte, der Rhythmus fehlt. Und deswegen das nervöse Gezappel. Der hundertste Griff ins Haar. Der tausendste Grapscher nach dem Whiskyglas. Wenn Mary endlich im entstaubten Hochzeitskleid Drogen umwölkt die Wendeltreppe hinabsteigt, sieht sie ihre Buben in Erbrochenem liegen und findet es possierlich. Sie faltet noch ein letztes Mal die Hände zum Gebet, und es ist Ruh. Wie letztens bei Nachbars.

 

Eines langen Tages Reise in die Nacht
von Eugene O'Neill
Inszenierung: Donald Berkenhoff, Bühne: Peter Schubert
Mit: Stefan Viering, Thomas Gerber, Robert Besta, Teresa Trauth, Ursula Grossenbacher

www.staatstheater.karlsruhe.de

 

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