Trichter zur anderen Welt

von Andreas Wilink

Recklinghausen, 5. Juni 2014. In einem Gespräch, das Peter Staatsmann und Bettina Schültke als Herausgeber des Buchs Das Schweigen des Theaters – Der Regisseur Dimiter Gotscheff (2008) mit dem Regisseur aus Bulgarien geführt haben, berichtet er von einem Treffen mit Sepp Bierbichler, bei dem "Mitko" dem Schauspieler eine Geschichte erzählt habe, die er über Samuel Beckett gelesen hatte: "Als Beckett in der Résistance war, hatte er sich mit einem Freund zusammen versteckt, und sie waren im vierten oder fünften Stock, als die SS, die Gestapo die Treppen hochkam. Beide dachten, es ist aus. Und der Freund ist aus der vierten oder fünften Etage gesprungen, und seitdem hat Beckett kein Wort mehr politisch kommentiert."

Für Gotscheff stand Beckett im Schatten von Heiner Müller: "aus Zufall", wie er in Ivan Panteleevs dokumentarischem Film "Homo Ludens" vermutet. Er hat "Glückliche Tage" 1997 in Bochum und 2003 "Der Verwaiser" in Hamburg inszeniert, jeweils als Projekt annonciert, wie unter Vorbehalt, als gäbe es eine Art heiliger Scheu. Die der Tod nun verewigt. Die Begegnung mit dem Tod auf dem Theater war dem am 20. Oktober 2013 in Berlin gestorbenen Gotscheff, der wohl auch deshalb Tarkowskij und Bunuel, Goya und Bacon liebte, elementar – und er von "jedem Schauspieler begeistert, der diese Räume berührt", wie er in dem oben genannten Gespräch sagte.

Die absolute Vorstellung

Es bedarf dieses Prologs, um "Warten auf Godot" von Ivan Panteleev mit Samuel Finzi und Wolfram Koch, mit Andreas Döhler und Christian Grashof und gewidmet Dimiter Gotscheff – richtig – zu verstehen. Es ist eine autonome Aufführung, sie gehorcht ihren eigenen Regeln. Darüber hinaus ist sie noch etwas anderes: Wie bei einem Palimpsest liegt eine zweite Schrift unter der offen sicht- und lesbaren. Gleichwohl, sie steht für sich – und sie besteht.

Angefangen bei der Bühne von Mark Lammert, die ein Signal setzt. Mit Gebimmel fährt der Eiserne Vorhang hoch. Ein Scheinwerfer huscht über eine helle Stoffbahn, die sich bei Lichte besehen als rosa erweist. Und sich in reichen Falten zur Mitte hin zusammenzieht wie zum Nabel der Welt, zusammengezogen wird und verschwindet in einem Trichterschlund, darin zwei Männer stehen, die die Hülle und Fülle gerafft hatten.

godot1 560 arnodeclair uNabel zur Welt, Abgrund oder Todes-Vorraum? "Warten auf Godot" © Arno Declair

"Nichts zu machen", das erste Wort hat Estragon. Er und Wladimir starren aus dem Kraterloch, als seien sie auf einem fremden Planeten gelandet. Zudem lässt die Form der Senke an eine Sonde denken, einen Empfänger, der den unendlichen Welten des Alls mögliche Mitteilungen ablauscht. Hinter dem aufgebockten Karrée mit seinen von schwarzen Vorhängen begrenztem Spielfeld ist das Nichts. Der Mensch ist nur dort, wo er spielt – auf jenen Brettern, deren Muster an hingelagerte Grabplatten erinnert. Wir sind, suggerieren Lammert und Panteleev, im Sperrbezirk und Freiraum reinen Spiels.

Am Ende nackt

Nichts ist real – außer der Vorstellung. Die beiden halbfertigen Männer, im Anzug, aber ohne Strümpfe oder barfuß, mit Kragen, aber ohne Hemd, treten auf die Schräge. Zwei Habenichtse: weder Schuh noch Hut, weder Rübe noch Radieschen noch Nage-Knochen können sie vorweisen. Sie sind auf sich geworfen. Kein Requisit, an das sie sich halten könnten. So halten sie sich aneinander, in klammernder Umarmung, die ein großer Schatten verdoppelt.

Aus dem Abgrund, dem Ur-Loch, steigen auch Pozzo und Lucky. Ebenso entblößt von Utensilien: kein Strick, keine Peitsche, kein Koffer, rein gar nichts außer der gebauschten rosa Ballonseide. Pozzo ist bei Christian Grashof ein eleganter, geradezu zart besaiteter Gliedermann mit magischen Händen, Herr der alten Schule und sanfter Tyrann, Lucky bei Andreas Döhler ein semi-proletarischer Kerl, der seinen Denk-Exkurs an der Rampe, außerhalb des Spielfelds, absolviert, als gehörte der pseudo-intellektuelle Vortrag nicht zur wahren Kunst. Währenddessen steht der Wladimir (Didi) des Samuel Finzi auf einem Bein und gerät in Schieflage, indes Wolfram Koch als Estragon (Gogo) sich, wie des öfteren, ausruht. Auch schnippen sie mit den Fingern und knipsen Lucky aus und an.

Lust und Panik

Nun gut, es ist eine Qual und ein Witz, ein Sprechakt und Sprachmusik, ein Schrei nach Erlösung und Erbarmen. Ist der tägliche Kampf mit sich, dem anderen, der Erinnerung, der Panik vor und dem Wunsch nach Leerlauf und Löschtaste. Das ist schon die ganze Theologie und das Kreuz mit dem christlichen Erbe dieser "religiösen Geister ohne Religion" (Cioran).

Aber hier, bei Panteleev und seinen Akteuren, ist es zuvörderst Spiel, Entertainment, eine Zirkusattraktion, ein running gag im Lauf über die abschüssigen Trichter-Wandungen. Großer Auftritt: bei Pozzo und Lucky, vielleicht sogar bei Godot, der laut seines Boten einen weißen Bart tragen soll wie im Weihnachtsmärchen. Vor allem aber bei Didi und Gogo, den zwei Gefährten im imaginären Raum. Wenn Didi den abgenudelten Evergreen "Ein Hund kam in die Küche" vorträgt, geht der Eiserne noch mal runter: eine weitere Show-Nummer. Die Doppelbedeutung "Koch" ist dabei allemal einen Kalauer wert.

Zeit versiegeln

Finzi, dieser Hüter des Todes-Vorraums, der mit angewinkelten Armen spielt und die Fingerkuppen aneinander reibt, als wolle er den Sand zählen, der ihm und uns durch die Hände rinnt, und Koch, der direkter spielt und gerade heraus, sind Meister der Selbst-Nachstellung, sich jeder Wendung, jeder Drehung, jedes Stillstehens bewusst, Fantasten einer puren Gegenwart und doch Träger verborgener Geschichte.

Virtuosen der Verabredung und Spaßvögel, die sich ein Pingpong-Match, eine Golfpartie, ein Reit- und Schachturnier liefern, sich gegenseitig in ihre Kleider knöpfen, und dabei jederzeit Bescheidwisser sind im Jetzt der Ewigkeit. Versiegler der Zeit. Berührte, vom Geist Becketts und vom Geist des anderen großen Toten.

 

Warten auf Godot
von Samuel Beckett
Deutsch von Elmar Tophoven
Koproduktion Ruhrfestspiele Recklinghausen / Deutsches Theater Berlin
Regie: Ivan Panteleev, Bühne und Kostüme: Mark Lammert, Mitarbeit Bühne: Ulrich Belaschk, Mitarbeit Kostüme: Karin Rosemann, Licht: Robert Grauel, Sound-Design: Martin Person, Dramaturgie: Claus Caesar.
Mit: Andreas Döhler, Samuel Finzi, Christian Grashof, Wolfram Koch.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.ruhrfestspiele.de
www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Ivan Panteleevs Inszenierung zeige "puristisch allen Moden eine lange Nase" und entstaube "das Theater vom todlangweiligen Allzweckwaffengebrauch jeder Video- und Kräh-Maschinerie", schreibt Lars von der Gönna auf dem Online-Portal Der Westen (7.6.2014). Dafür schnüre sie "Samuel Becketts berühmte Endlosschleife üppig aus vielen Fäden komödiantischer Verführung." Panteleev aktiviere "Affenzucker, nicht Apokalypse. Melancholikern könnte etwas fehlen, Amüsierwillige werden dankbar registrieren, wie leichtfüßig man hier Becketts Grab betanzt."

Diese Inszenierung gehöre "zum Besten, was das Festival mit seinem doch recht durchwachsenen Programm in diesem Jahr zu bieten hat", meint Rolf Pfeiffer im Westfälischen Anzeiger (7.6.2014). Leichte Kost sei sie dennoch nicht. Die Regie führe "auf ebenso tragische wie burleske Weise vor, dass am vorgeblich absurden Theater Samuel Becketts kaum etwas absurd ist. Vielmehr leuchtet sie, dem exzellenten, präsenten Spiel der beiden Hauptdarsteller sei Dank, vor dem Hintergrund existentieller Geworfenheit die Abgründe und Untiefen des Zwischenmenschlichen unnachgiebig aus." Samuel Finzi und Wolfram Koch führten "eine Paardynamik vor, die Agonie nicht zulässt".

Vasco Boenisch schreibt in der Süddeutschen Zeitung (17.6.2014): Gotscheffs Großkomödianten-Duo Samuel Finzi und Wolfram Koch spielten, nach dem Tod Gotscheffs, "um eine Leerstelle herum". Da gehe es nicht ums "Ausdeuten", es gehe ums "Anspielen, Ausprobieren, Alternieren". Lange Zeit mache der Abend allerdings nicht mehr daraus als "Theater-Behauptungsroutine". Bei Beckett "geht es um das Nichts. Hier geht es um nichts". Christian Grashof mache aus dem Pozzo einen "sonor brabbelnden Großmimen mit Konsulatstuch". Andreas Döhlers Lucky dürfe für seinen Monolog mit "verschwitztem Furor" an die Rampe. Erst im zweiten Akt bekomme das Parlieren plötzlich "Dringlichkeit". Wut und Verletzungen zwischen Wladimir und Estragon brächen auf. "Grabesstille" im Saal, wenn von "Millionen anderen Toten" die Rede sei.

Panteleev bediene sich eines "hemmungslosen Komödiantentums, das schon Samuel Beckett selbst in der eigenhändigen Inszenierung seines Stücks am Berliner Schillertheater 1974 einsetzte.", schreibt Harald Jähner anlässlich der Berlin-Premiere der Inszenierung im Deutschen Theater in der Berliner Zeitung (1.10.2014). Die clowneske Inszenierung sei überaus respektvoll, indem sie präzis jenen Beckett’schen Witz herausarbeite, "der sich dem Wissen verdankt, dass wir nichts Besseres haben als ihn, ausgenommen vielleicht die wenigen Umarmungen, die unsere Seelen dulden".

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