Zuviel Tratsch im Treppenhaus

von André Mumot

Berlin, 6. Juni 2014. Na, wenn das mal kein Schlusswort ist. Eng umschlungen tanzen die unsternbedrohten Liebenden über die Bühne, die deutsche Putzfrau und der zwanzig Jahre jüngere Gastarbeiter aus Marokko, und bevor endgültig das Licht ausgeht, sagt sie noch mit großer Überzeugungskraft: "Zusammen sind wir stark."

Das ist ein Satz, den man fast schon zur Parole des Maxim-Gorki-Theaters erklären könnte, das an diesem Abend mit "Angst essen Seele auf" eine bemerkenswerte erste Spielzeit unter neuer Leitung zum Abschluss bringt. Das mit dem Zusammen-Stark-Sein, das Neben- und Miteinander in Aufführungen und einem Ensemble, in dem die unterschiedlichsten Herkunfts- und Lebensgeschichten aufeinandertreffen, ist die vitale, beglückende Gorki-Utopie. Und so muss man sich auch nicht wundern, wenn es auf dem Programmzettel heißt: "Auf die letzte Szene des Drehbuchs wurde aus inszenierungsimmanenten Gründen verzichtet." Sieh an.

Alters- und Kulturunterschiede

Im Fassbinder-Film von 1974 ist es Brigitte Mira, die den Durchhalte-Satz sagt. Um sich selbst Mut zu machen, mit ihrer brüchigen Volkstrauertags-Stimme, aber wie aufs Stichwort bricht ihr Ali daraufhin zusammen. Und dann sitzt sie noch weinend an seinem Krankenbett, weil sie weiß, dass das Ehe-Experiment gescheitert ist, dass sie nicht aus ihrer Haut kann und er auch nicht, dass die Alters- und Kulturunterschiede ihnen keine Ruhe gönnen werden und die Leute um sie herum erst recht nicht. Denn, und das ist einer der wirklich großen Sätze der Vorlage: "Das kann keiner, ohne die anderen leben, keiner."

angstessenseeleauf 560 thomasaurin uZusammen stark: "Angst essen Seele auf" © Thomas Aurin

Aber die Zeiten sind ja wohl vorbei, findet man im Gorki und macht aus einem überaus unbequemen Film, der in kühlen, steifen Versuchsanordnungen Ausgrenzungssituationen aneinanderreiht, einen knuddelig verkuschelten Versöhnungsabend. Dafür ist Regisseur Hakan Savaş Mican natürlich der richtige Mann, hat er doch bereits mit Schwimmen lernen, einem der großen Hits des neuen Gorki, auf sehr schöne Weise bewiesen, dass wahrhaftiges Gefühl und klassische Romantik, angereichert mit guter Musik, zur idealen Publikumsverführung werden können. Und weil's so gut funktioniert hat, lässt er diesmal mit Daniel Kahn einen schalkhaften Bänkelsänger zur Untermalung auftreten, der an Klavier und Akkordeon deutschen Schlager, Klezmer, Russisches und Arabisches anstimmt und zwischendurch auch von Fassbinders Texten inspirierte Songs.

Echt, freundlich, selbstbewusst

Und während ein auf die Dauer ziemlich überflüssiger Ascheregen auf die sonst leere Bühne niedergeht, begegnen und verlieben sich zwei Menschen, denen man schon in den ersten Augenblicken mit Freuden verfällt. Ruth Reineckes aufgeräumte Emmi hat fast nichts gemein mit der ganz von schamhafter Bedürftigkeit bestimmten Brigitte-Mira-Figur. Schlank und rank, selbstbewusst und mit feinem Berliner Akzent kommt diese Frau in die Migrantenkneipe und bestellt sich "ein Cola". Fein ist sie und sehr echt, abgekämpft, aber nicht zu sehr, freundlich und lebensklug und wunderbar. Und später, wenn sie sich kaum weniger scheußlich verhält als alle anderen, fällt das kaum auf, weil sie einfach eine ganz reizende Person ist. Punkt.

angstessenseeleauf3 560 thomasaurin uEin Cola bitte, Ruth Reinecke als Emmi © Thomas Aurin

Ihr gegenüber hat Taner Şahintürk die heikle Aufgabe, Fassbinders Kunst-Deutsch ("Schwanz kaputt") mit Würde zu sprechen und den marokkanischen Akzent, im großen Gegensatz zum Film, wenigstens im Ansatz glaubhaft klingen zu lassen. Keine Rolle ist das eigentlich, eher eine Projektionsfläche, ein exotischer Katalysator für das Begehren und den Hass der anderen, was die Inszenierung dadurch auszuhebeln versucht, dass sie ihm einen erklärenden Prolog schenkt. Dabei spricht Taner Şahintürk ohne Akzent und blickt altersweise zurück auf die 70er Jahre, in denen sich die Handlung auch hier zuträgt.

Fassbinder meets Türkisch für Anfänger

Das Kostüm ist also historisch, die Haltung nicht unbedingt: Knallbunte Putzkittel bei den Kolleginnen und enge Hosen bei den Nachbarinnen, die von Dimitrij Schaad und Aram Tafreshian in ausgelassener Karikaturenfreude als verklemmte Schwule abgefeiert werden. Bardame Mareike Beykrich wiederum trägt Hotpants und stimmt mit kompetenter Wurschtigkeit in die harmlos fröhliche Spießbürgercomedy ein: Tratsch im Treppenhaus meets Türkisch für Anfänger.

Gewiss ist es ein Abend, der einem in Nullkommanichts ans Herz wachsen kann, schon weil alle Darsteller ihre Sache so gut machen. Doch etwas stimmt eben von Grund auf nicht mit dieser tragischen Liebesgeschichte, die eigens für unsere Zeit optimistisch umgebogen wird, sich aber weigert, etwas von unserer Zeit zu erzählen, und auch die vielversprechende Prolog-Perspektive im weiteren Verlauf nicht wieder aufnimmt. Stattdessen muss Taner Şahintürk gegen Ende in weinender Verzweiflung jede Menge Orangen aufbeißen, was zur gewiss melodramatischsten Obstensaftung der neueren Theatergeschichte führt.

Erhobenen Haupts

Fassbinders Figuren irren als ausgestanzte Schmerzensschablonen völlig hilflos durch ein Milieu, in dessen trostloser Schäbigkeit sie gefangen sind, in dem ihnen jede Fähigkeit zur Selbstbestimmung abgeht. Das muss man heute nicht mehr erzählen, zum Glück. Und es ist eine Freude, Ruth Reinecke und Taner Sahintürk mit erhobenem Kopf durch diese liebevolle Volkstheater-Inszenierung gehen zu sehen.

Allein: Der Treppenhaustratsch und die Engstirnigkeit der Kinder um sie herum erscheinen so läppisch, so unter ihrem Niveau, dass man zu keinem Zeitpunkt glaubt, dass sich die beiden auch nur einen Augenblick lang beirren lassen müssten. Sie sind zusammen. Und für alle Probleme – vielleicht sogar für die, die sie hier und heute hätten und von denen wir so gar nichts erfahren – sind sie ohnehin zu stark.

Angst essen Seele auf
von Rainer Werner Fassbinder
Regie: Hakan Savaş Mican, Bühne: Sylvia Rieger, Musik: Daniel Kahn, Kostüm: Pieter Bax, Licht: Carsten Sander, Dramaturgie: Irina Szodruch.
Mit: Taner Şahintürk, Ruth Reinecke, Mereike Beykirch, Dimitrij Schaad, Aram Tafreshian, Anastasia Gubareva, Sema Poyranz, Tamer Arslan, Daniel Kahn.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.gorki.de

 

Kritikenrundschau

Die Darbietung von Ruth Reinecke als Mira ist für Michael Laages auf Deutschlandradio Kultur, Sendung "Fazit" (6.6.2014), "schlicht großartig" und "unbestritten die Heldin dieser Menschlichkeitsbeschwörung“ in der Inszenierung von Hakan Savas Mican. Der Abend habe "Charme – nur verblüfft halt schon das Fehlen sämtlicher Hinweise darauf, wie viel sich geändert hat in vier Jahrzehnten" seit Entstehung des Films. Worin die Aktualität des Stoffs liegen könne, wisse Mican "nicht zu sagen". Auch müsse man – abgesehen von Ruth Reinecke – mit "viel darstellerischem Mittelmaß" leben.

Micans Inszenierung sei "über weite Strecken konzentriert und bis auf ein paar Albernheiten so absurd-komisch, wie es dem bitteren Humoristen Fassbinder entspricht", schreibt Patrick Wildermann im Tagesspiegel (8.6.2014). Mican glücke damit der würdige Abschluss einer Auftaktsaison, der man Respekt zollen müsse. Wildermann hebt zudem die Hauptdarsteller und den Musiker Daniel Kahn hervor, dessen lässiger Blues-Folk-Mix "gut gelaunt mit Ressentiments spielt".

Die Depression und die "erstickend-erstarrte Atmosphäre" von Fassbinders Film fand Michaela Schlagenwerth von der Berliner Zeitung (10.6.2014) in diesem Theaterabend nicht wieder. Hakan Savas Mican, der "sein großes Talent und sein Gespür für pointierte Geschichten schon bei seinen Anfängen im Ballhaus Naunynstraße unter Beweis gestellt hat", blicke "nicht zurück im Zorn", sondern lasse seinen Abend auf ein "Happy End" zulaufen. Taner Sahintürk spiele den Ali "wunderbar bulldoggig", Ruth Reineke sei anders als die "in Scham versunkene Frau", die Brigitte Mira im Film darstellte, "gut aussehend, charmant berlinernd, eine Dame", so die Kritikerin. "Was hier erzählt wird mit diesem seltsamen, ungleichen Paar, ist eine frische und lebendige Erfolgsgeschichte, die auch die Erfolgsgeschichte der ersten Spielzeit des neuen Maxim-Gorki-Theaters selber ist."

Fast zu schön um wahr zu sein, findet Christine Wahl auf Spiegel Online (9.6.2014) diese Aktualisierung des Fassbinder-Filmes als schmissige Typenkomödie mit Happy End. Als Vision des Maxim Gorki Theaters, "das nach einer bemerkenswerten ersten Spielzeit auch wirklich allen Grund zu Optimismus hat", funktioniert der Abend aus Sicht der Kritikerin durchaus. Wer damit gerechnet habe, dass das Theater Fassbinders Film "als Folie nimmt, um heutige Ausgrenzungsmechanismen, strukturelle Rassismen und Sarrazinismen zu untersuchen, wird enttäuscht."

"Fassbinders Parabel ist aus sich heraus viel zu stark und zu beredt, als dass ihr der Regisseur mit seinen zwar handwerklich soliden, inhaltlich indes äußerst weichgespülten Mitteln etwas Neues abgewinnen könnte", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (11.6.2014). Der Hauptdarsteller Taner Sahintürk wirke als deutscher Schauspieler türkischer Abstammung, anders als der Ali im Fassbinder-Film "nicht exotisch oder in seiner Andersartigkeit bedrohlich", sondern "wesentlich selbstbewusster, ja angepasster gezeichnet". Als "harmlos" erscheint der Abend der Kritikerin. "Man hält sich das Stück vom Leib, indem man es verständnislos-distanziert umarmt" und seine Konfklikte auf die "leichte migrantische Kabarettschulter" nimmt.

Kommentare  
Angst essen Seele auf, Berlin: Fata Morgana
"Läppisch und unter Niveau" hin oder her - mit den karikierten Fratzen, die die Protagonisten hier umgeben, sind die beiden dennoch auch allein und zurückgeworfen auf eine fast unwirkliche Beziehung, die vom ersten Moment an sehr viel aushalten und ersetzen muss. Ob sie am Ende in dieser Inszenierung wirklich wieder zusammenkommen, blieb für mich offen. Die Deus ex Machina Rückkehr von Emmi (sie kommt ja nicht einfach zurück, sondern taucht an anderer Stelle wieder auf) kann auch eine Fata Morgana des verzweifelten Ali sein (Mican spielt auch an anderen Stellen mit solchen Bildern). Bei Fassbinder geht's ja vor allem um Einsamkeit, die Sehnsucht danach sie zu überwinden und dem Leben mehr Sinn abzuringen. Dieses Thema verfehlt auch Mican, mit seinem fast märchenhafte Erzählstil (inklusive Bänkelsänger) nicht - allen kuscheligen Gefühlen von André Mumot zum Trotz. Ein starker Abend, ein Flashback auch, bei dem man mit einem lachenden und einem weinenden Auge darüber nachdenken kann, wie sich das alles bis heute entwickelt hat.
Angst essen Seele auf, Berlin: schwächste Arbeit
Da kann Herr Mumot schön schreiben, wie er will: es war die schwächste Arbeit der Saison am neuen Gorki.
Angst essen Seele auf, Berlin: die beißen nicht
Ja, von den Problemen, die man hier und heute 'hätte' erfährt man am Gorki nicht viel. Zu dieser fröhlichen Spielzeit ist zu sagen (besonders nachdem man Frau Langhoff und Frau Merkel so traut im Foyer sah): Die beißen nicht! Die wollen nur (mit)spielen.
Schade!
Angst essen Seele auf, Berlin: unsäglich
Fassbinder hätte kurz vor seinem 34. Todestag am 10. Juni wahrlich nicht durch diese unsägliche Inszenierung nachträglich "leichengefleddert" werden müssen …
Angst essen Seele auf, Berlin: keine Konflikte mehr?
Warum der Ascheregen? Und warum diese Art - mhmh - ich würde jetzt mal sagen: Multikultiseligkeit am Ende? Gibt's denn da heute wirklich keine Konflikte mehr zwischen Menschen, die sich eben nicht sofort in das Weltbild des jeweiligen Gegenübers einordnen können und wollen, weil sie das andere erstmal als radikal anders erleben und/oder so sein lassen wollen/müssen? Gibt es keine Missverständnisse, Unstimmigkeiten und Projektionen im Umfeld mehr? Kann ich mir kaum vorstellen, auch wenn es natürlich schön wäre.
Angst essen Seele auf, Berlin: gelungener Diskurs
Angst essen Seele auf ist, abgesehen von der ein oder anderen Überdeutlichkeit und vereinzelten ins Leere führenden Regieeinfällen, etwa dem unaufhörlichen Ascheregen, ein gelungener theatraler Diskurs über die Macht und Ohnmacht des Einzelnen, die Ausgrenzungsmechanismen der Gesellschaft – jeder Gesellschaft – vor allem aber auch über die Möglichkeit und Notwendigkeit, sich dem Wind entgegenzustellen, wo der eigene Lebensentwurf, das eigene Selbstbestimmungsrecht bedroht ist. Er hinterlässt Hoffnung, ohne die Schwierigkeit dieses Unterfangens zu leugnen. „Diese Sentimentalitätskacke hält doch kein Deutscher aus“, sagt Mareike Beykirch als Kneipenwirtin Barbara am Anfang. Angst essen Seele auf erzählt davon, was wir alles aushalten können und müssen – und um wie vieles reicher wir dadurch werden. Damit steht der Abend auch für den Anspruch des Theaters, auf dessen Bühne er stattfindet. Ein Anspruch, den es bereits nach dieser Spielzeit mehr als eingelöst hat.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2014/06/21/triumph-der-sentimentalitatskacke/
Angst essen Seele auf, Berlin: große Kinobilder
Die Rainer Werner Fassbinder-Adaption Angst essen Seele auf, die als letzte Premiere vor der Sommerpause im Juni am Gorki Premiere hatte, stand vor derselben Herausforderung wie Thomas Ostermeiers Bearbeitung von Die Ehe der Maria Braun an der Schaubühne: die Kinobilder und vor allem die Leistungen der beiden weiblichen Hauptdarstellerinnen, die den Filmen jeweils ihren unverwechselbaren Ton gaben und sie zu Klassikern werden ließen, sind als hohe Messlatte in den Köpfen des Publikums präsent. Hier ist es die bleierne Schwere der Brigitte Mira mit ihrer markanten "Volkstrauertags-Stimme", wie nachtkritik.de schrieb, die sich als Witwe mit einem Putzjob mehr schlecht als recht über Wasser hält. Jede Szene mit ihr spiegelte das große Thema des Films von 1974: ihren Schmerz über die starre kleinbürgerliche, fremdenfeindliche Moral, die ihr nicht mal ein kleines Glück gönnt. Im anderen Fall war es die Grandezza der Hanna Schygulla, die als Maria Braun vom Aufstieg in der Wirtschaftswunder-Republik träumt und erkennen muss, dass sie sich in Illusionen verrannt hat.

Ebenso wie Hanna Schygullas Fußspuren für Ursina Lardi an der Schaubühne zu groß waren, nimmt man auch Ruth Reinecke am Gorki die Rolle der von Brigitte Mira verkörperten Emmi Kurowski nicht recht ab. Als sie ihren Ali (Taner Şahintürk), einen marokkanischen "Gastarbeiter", wie es damals in den 70ern hieß, kennenlernt, gerät sie in eine Spirale aus Klatsch und Tratsch, Mobbing und Ausgrenzung. Doch was im Film eine beklemmende Studie über die gegenseitige soziale Kontrolle war, wird hier zum Sketch. Die Nachbarinnen, die ihr mit Sticheleien zusetzen, sind bei Aram Tafreshian und Dimitrij Schaad lustige, aber letztlich harmlose Karikaturen älterer, verklemmter Damen. Konsequenterweise ließ Regisseur Hakan Savaş Mican dann auch das depressiv-dramatische Ende des Films einfach weg.
http://e-politik.de/kulturblog/archives/665-fassbinders-ausgrenzungs-melodram-angst-essen-seele-auf-am-gorki.html
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