Coup Fatal - Ein Team um Serge Kakudji und Alain Platel lässt bei den Wiener Festwochen Barockmusik auf afrikanische Dandys prallen
Lebensbejahender Appell
von Kai Krösche
Wien, 10. Juni 2014. Die poppig glitzernden, goldenen Vorhänge, die die Bühne des Burgtheaters an diesem Abend zieren, entpuppen sich beim näheren Hinsehen als Geflecht aus leeren Patronenhülsen: Eine widersprüchliche Schönheit lässt der kongolesische Künstler Freddy Tsimba da erblühen, die auf die fesselnde Ambivalenz des Abends verweist.
Sapeurs, einer Art kongolesischer Dandys, deren Mode zwar Reichtum und wohlhabenden Lebensstil atmet, jedoch vor allem in den Armenvierteln getragen wird – als kreativer Widerstand gegen die Trostlosigkeit der Armut. Auf ähnliche Weise funktioniert die Neuinterpretation barocker Musikstücke durch die vierzehn, wie Sapeurs gekleideten kongolesischen Musiker auf der Bühne. Mit einer Mischung aus traditionellen afrikanischen Instrumenten, E-Gitarren und tragbaren Synthesizern schaffen sie eine ungewöhnliche Symbiose aus klassischen abendländischen und afrikanischen Musiktraditionen: Die Hof- und Hochkultur des Barock-Adels prallt auf Gruppengesänge, Trommelklänge und repetitive Klangmuster, verschiebt Akzente – eine Neudeutung, die die europäischen Kompositionen nicht marginalisiert, sondern ihre Wirkung verstärkt.
Bei der belgisch-kongolesisch-österreichischen Koproduktion "Coup Fatal" trifft barocker Glanz auf den derMemento mori und carpe diem
"Coup Fatal", an dem neben dem kongolesischen Countertenor Serge Kakudji und dem belgischen Theaterschaffenden Paul Kerstens auch der ebenfalls aus Belgien stammende Regisseur und Choreograph Alain Platel mitarbeitete, funktioniert (und versteht sich) dabei vor allem als Konzert. Im Mittelpunkt steht die Musik, die Inszenierung bewegt sich um die Darbietung der einzelnen Stücke herum, beschränkt sich vor allem auf untermalende, selten für sich selbst (be-)stehende tänzerische Bewegungsabläufe. Diese inszenatorische Blässe tritt jedoch in den Hintergrund vor der Brillanz der musikalischen Interpretation – und vor der buchstäblich ansteckenden Vitalität und uninszenierten (oder jedenfalls uninszeniert wirkenden) Lebenslust, vor der die tanzenden, singenden und mit dem steifen Festwochenpublikum interagierenden Musiker auf der Bühne beim Musizieren vibrieren.
Hier kollidiert europäische Barockmusik mit zeitgenössischen und traditionellen afrikanischen Kompositionen und entwickelt so eine fesselnde, widersprüchliche Kraft. Sie vereint die beiden Pole barocker Weltanschauung: das Memento mori als Erinnerung an den Tod und die Endlichkeit aller Dinge sowie das Carpe diem als lebensbejahender Appell. Bewegend Kakudjis Interpretation von "Che farò senza Euridice" aus Christoph Willibald Glucks Oper "Orfeo ed Euridice", in der Orpheus den Verlust seiner Liebsten beklagt, und die abschließende Arie "Lascia ch'io pianga" aus Georg Friedrich Händels "Rinaldo".
Interpretiert von Musikern aus einem kriegs- und armutsgebeutelten Land, verweisen die barocken Klagelieder jenseits ihrer ursprünglichen Funktion auf das Elend einer Bevölkerung, deren Alltag Kriegsgräuel und Lebensfreude umfasst, Schmerz und Schönheit, Leid und Taumel. In ihrer schillernden Pracht bilden die barocken Klangwelten das utopische Gegengewicht zu einer tristen Wirklichkeit, erweitern und erhöhen sie – wie die leuchtenden Farben der Sapeurs-Anzüge.
Coup Fatal
von Serge Kakudji, Alain Platel, Fabrizio Cassol und Rodriguez Vangama
Konzept und Idee: Serge Kakudji, Paul Kerstens, Künstlerische Leitung: Alain Platel, Musikalische Leitung: Fabrizio Cassol, Rodriguez Vangama, Dirigent: Rodriguez Vangama, Bühne: Freddy Tsimba, Licht: Carlo Bourguignon, Sound: Max Stuurman, Kostüme: Dorine Demuynck.
Mit: Serge Kakudji (Countertenor) und Rodriguez Vangama, Costa Pinto, Angou Ingutu, Bouton Kalanda, Erick Ngoya, Silva Makengo, Tister Ikomo, Deb’s Bukaka, Cédrick Buya, Jean-Marie Matoko, 36 Seke, Russell Tshiebua, Bule Mpanya.
Koproduktion Wiener Festwochen, Théâtre National de Chaillot, Paris, Holland Festival, Amsterdam, Festival d’Avignon, Theater im Pfalzbau, Ludwigshafen, TornoDanza, Turin, Opéra de Lille
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.festwochen.at
Der Stücktitel ("Todesstoß") verweise auf Vergewaltigungen und Gewalt. Doch trotz aller ernsthaften Bezugnahme auf die Situation im Kongo, wolle "Coup Fatal" auch ein "vertanztes Konzert" sein, schreibt Ljubiša Tošić vom Standard (12.6.2014). "In ihrer Absicht, die ökonomische und soziale Zerrüttung des bürgerkriegsgeplagten Kongo diskret zu thematisieren", lande die Produktion alsbald "im Bereich der Übermalung der Verhältnisse durch Demonstration guter Laune als Form der Selbstbehauptung". Sobald die Musiker impulsiv loslegten, sei es "ums kritische Potenzial geschehen". "So gut musiziert wurde, so winzig wirkten indes die Früchte jener Idee, barockes Material (...) afropopmäßig verarbeiten zu lassen. Deren Rhythmisierung führte leider direkt in die Crossover-Hölle der Verharmlosung."
Wenn Serge Kakudji die Arie "Lascia ch'io pianga" singt, stehe keine Opern-Figur auf der Bühne, sondern "ein schwarzer Countertenor, der mit reinster, unverbrauchter Stimme das Leiden eines ganzen Kontinents empfindet." So beschreibt es Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (12.6.2014). Und doch sei es "ein lichter Abend, weil er auch den Stolz der Bewohner eines Landes feiert, in dem man schon stolz sein kann, wenn man den nächsten Tag überlebt". Der Kritiker ist "beeindruckt, mit welch kreativen Kraft die kongolesischen Musiker sich europäische Kunstmusik aneignen, ohne sich darin zu verlieren. Bei aller Beeinflussung bleiben die Sphären konsistent – ein fabelhaftes Gegenmittel gegen alle wohlfeilen Erscheinungen gefühliger Weltmusikschmiere." Man könne „Coup Fatal" zwar "als lustigen Afrikaabend empfinden. Doch dann hört man nicht auf den Gehalt der Arien" und empfinde "die Lebensfreude der afrikanischen Musik als naiv". Naiv allerdings sei hier nichts. "Die Musiker agieren selbstironisch" und führten dem europäischen Publikum "sehr charmant dessen Erwartungshaltung vor. Doch das Sterben und die Gewalt bleiben stets präsent."
Unter der Überschrift "Im Schatten der 'Neger'" (sic!) schreibt Lena Dražić in der Wiener Zeitung (12.6.2014), in "Coup Fatal" wolle "scheinbar eins nicht zum anderen passen". Doch bei der Mischung von afrikanischer Musik und pathetischer Händel-Vivaldi-Monteverdi-Arien finde lediglich "eine Spiegelung jenes Aneignungsprozesses statt, der uns in umgekehrter Richtung ganz normal vorkommt: Afrikanische Decken als Bettvorleger, (...) exotische Rhythmen zum Abtanzen - all das wirkt als Folge jahrhundertelanger Kolonisation ganz selbstverständlich, von unbekümmerten Wortkreationen wie den mittlerweile umbenannten 'Negerküssen' (...) ganz zu schweigen". "So, wie sich die Sapeurs den Stil exklusiver Courtiers aneignen", so machten sich die Musiker in "Coup Fatal" "die italienische Barockmusik zu eigen". Unter der "ausgelassen-bunten Oberfläche" verberge sich "eine sehr ernste Auseinandersetzung mit den Problemen, die den Alltag in dem zentralafrikanischen Staat prägen". Viele der Anspielungen dürften sich dem Wiener Publikum allerdings "nicht erschlossen haben. Trotzdem Standing Ovations: Für die fesselnde Show inklusive Publikumsbeteiligung, vielleicht aber auch für die Gelegenheit, das Vertraute mit anderen Augen zu sehen."
Auf Welt Online (16.6.2014) schreibt Stefan Musil: "Die Themen im Musiktheaterprogramm der diesjährigen Wiener Festwochen hatten es in sich." Mit ungewöhnlichen Produktionen hätten sie "starke Akzente in die Wiener Repertoiregemütlichkeit" gesetzt. Das gelte allerdings nicht für "Coup Fatal". Versprochen gewesen sei eine Produktion, "die die Lebensfreude barocker Arien in die Düsternis des von Krieg und Zerstörung gezeichneten" kongolesischen Alltags transferieren sollte. Was jedoch in der Theorie Spannendes versprochen habe, sei zum "lauen Happy-Afro-Soundkonzert" geronnen. "Jegliche Aussage" habe sich hinter dem "Dauer-Power-Getriebe" der "großartigen", auch singenden und tanzenden Musiker verflüchtigt.
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„Coup Fatal“ hatte im Juni 2014 bei den Wiener Festwochen Premiere und tourt nun über die Festivals, Mitte Oktober war es im Haus der Berliner Festspiele zu Gast. Der belgische Regisseur Alain Platel entwarf mit dem Countertenor Serge Kakudji und 13 Musikern ein Crossover aus Barock-Arien (v.a. von Gluck und Händel), die neben afrikanischen Trommelklängen stehen und auch noch durch E-Gitarren verzerrt werden.
Der Abend zeigt beispielhaft, was bei einem solchen Stilmix schief gehen kann: unverbunden stehen die verschiedenen Traditionen und Stile nebeneinander. Weder Fisch, noch Fleisch reiht sich ein Musikstück an das nächste. Von dem angekündigten theoretischen Überbau, dass der Abend auch die Lage in dem von Bürgerkrieg und Rohstoff-Ausbeutung geplagten Kongo thematisieren wird, sind in diesem hektischen Stilmix höchstens Spurenelemente zu erahnen.
Der Saal im Festspielhaus ist bei der Berliner Premiere nur zur Hälfte gefüllt, einer der drei geplanten Abende wurde kurzfristig abgesagt. Von denen, die sich nach Wilmersdorf aufgemacht haben, bejubeln dennoch einige die Musiker mit stehenden Ovationen. Immer wieder nahmen die Künstler schon während der Konzert-Performance Kontakt zum Publikum auf und tigerten durch die ersten Reihen: zwei Zuschauerinnen wurden zu einem Tanz auf der Bühne eingeladen.
So kam zwar Partystimmung auf, ein sehenswerter Abend wurde dennoch nicht daraus. Drastisch, aber leider nicht unberechtigt schrieb der Wiener „Standard“ schon nach der Uraufführung von der „Crossover-Hölle der Verharmlosung“.
http://kulturblog.e-politik.de/archives/26262-26262.html