In der Beschleunigungsspirale

von Sascha Westphal

Recklinghausen, 12. Juni 2014. Michel Decar hat einfach kein Glück mit den Uraufführungen seiner Stücke. So scheint es momentan zumindest. Schon vor einem halben Jahr konnte man in Bonn erleben, wie sich Markus Heinzelmann bei seiner Annäherung an Helmut Kohl läuft durch Bonn, diese wunderbar widerspenstige Historien-Groteske, die Decar zusammen mit Jakob Nolte geschrieben hat, in Inszenierungsverweigerung übte.

Nun hat Catja Baumann sich an seine ganz und gar atemlose Zeitgeist-Farce "Jenny Jannowitz", für die Decar in diesem Jahr den Kleist-Förderpreis erhalten hat, gewagt. Und wieder bleibt, das sei gleich gesagt, die Inszenierung unendlich weit hinter dem Potential dieses irrwitzigen Stücks zurück, das die Realität der modernen Arbeitswelt weiter und weiter zuspitzt, bis nichts mehr bleibt als der Wahnsinn einer Beschleunigung um der Beschleunigung willen.

Die Welt der Selbstausbeuter und Karriereoptimierer

Am Anfang schläft der gerade einmal 25-jährige IT-Spezialist Karlo Kollmar (Raphael Traub). Es ist der Schlaf der dauernd übermüdeten und überforderten Zeit- und Karriereoptimierer, der ewigen Selbstausbeuter. Raphael Traub liegt ruhig und friedlich auf einem der weißen Holzbretter, aus denen die Ausstatterin Linda Johnke eine multifunktionale Regal- und Setzkasten-Welt gezimmert hat. Wie die Menschen kann auch sie sich im Nu den Gegebenheiten und Notwendigkeiten anpassen.

jenny jannowitz 560 volkerbeinhorn uMüdigkeitsgesellschaft mit Pappschildkameraden: Andreas Bißmeier, Raphael
Traub (liegend), Rika Weniger, Martina Struppek und Tobias Beyer © Volker Beinhorn

Tobias Beyer, Andreas Bißmeier, Bea Brocks, Martina Struppek und Rika Weniger ergehen sich indessen in Lautmalerei und hantieren mit an Comic-Sprechblasen erinnernden Pappschildern herum, die sie als Nachttischlampe und Spiegel, als Kleiderhaken und Stuhllehne ausweisen. In Michel Decars Welt, in der ein echtes Innehalten unmöglich ist, sprechen die Dinge schon mal für die Menschen. Sie haben einfach mehr Zeit und auch den besseren Überblick.

Also erzählen die Einrichtungsgegenstände von Karlos Schlaf, der anscheinend einen ganzen Winter gedauert hat. Nur als er selbst versucht, zu erfahren, was eigentlich mit ihm geschehen ist, bekommt er nichts als ausweichende oder beschwichtigende Antworten. Sein Chef verkündet ihm, dass sie alle im Winter so viel geschafft haben, dass Karlo sich erstmal freinehmen kann. Seine Freundin erzählt ihm, dass sie doch erst vorgestern zusammen im Kino waren.

Metamorphosen

Die Zeit ist wahrhaft aus den Fugen in Decars sich regelrecht überschlagender Tragikomödie. Jahre vergehen wie Minuten. Orte und Menschen fließen in eins. So ändert sich in einem einzigen Dialog schrittweise der Name von Karlos Freundin. Aus Sibylle wird Sabylle, aus Sabylle Sabynne und aus Sabynne schließlich Sabine. In Catja Baumanns Inszenierung weisen Ringbuchseiten, die umgeschlagen werden, auf diese Veränderung hin, während Rika Weniger weiter die drängende, leicht beleidigte Freundin ist, die sich nur verschiedener Haarteile und einer Perücke entledigt. Die stete Verwandlung ist ein Gag und nicht mehr. Die dunkle Wahrheit, die in dieser Metamorphose liegt, geht verloren.

Mit einer ungeheueren Leichtigkeit fängt Michel Decar den Geschwindigkeitswahn der globalisierten Lebens- und Arbeitswelt ein. Die Dialoge haben ein Tempo, dass einem schwindelig werden kann. Und als ob das nicht schon reichen würde, finden verschiedene Gespräche auch noch parallel statt. Dann reden Andreas Bißmeier als einer von Karlos Chefs und Rika Weniger oder Tobias Beyer als sein bester Freund / Feind "Der Oliver" und seine von Martina Struppek gespielte "Mutter-Mutter" gleichzeitig auf ihn ein. Nichts passiert mehr sukzessive, alles geschieht nur noch in einem ewigen, letztlich zeit- und ortlos gewordenen Jetzt. Diese schon philosophische Dimension vergräbt Catja Baumann nach besten Kräften. Da sitzt dann der sichtlich überforderte Karlo, der bei Raphael Traub vor allem verhetzt dreinschauen muss und seine innere Panik fortwährend herauszappelt, einfach zwischen zwei aufdringlichen Witzfiguren, die fortwährend irgendwelche Allgemeinplätze absondern.

jenny jannowitz 560a volkerbeinhorn uBeim Pausenbier: Raphael Traub und Tobias Beyer © Volker Beinhorn

Decars Panoptikum sinnentleerter Mobilität wird zum klappernden Boulevard. Alleine Bea Brocks' Jenny Jannowitz, die Karlo immer wieder über den Weg läuft und versucht, ihn aus dem ewigen Kreislauf aus Arbeit und (Nicht-)Beziehungen zu ziehen, fällt etwas aus dem harmlosen Rahmen. Zwar muss auch Bea Brock ständig irgendetwas tun, etwa Zaubertricks andeuten, indem sie mal mit einem, mal mit zwei Stoffhasen herumfuchtelt. Trotzdem bleibt ein Rätsel. Sie lebt nach ihrer eigenen Zeit, das ist unverkennbar. Doch macht sie das nun zur Retterin oder, wie es Michel Decar im Titelzusatz andeutet, zum "Engel des Todes"? Catja Baumanns Antwort kommt in Form von Frank Sinatras "Come Fly With Me". Der Swing der Komödie übertönt den Blues der Tragödie.


Jenny Jannowitz. Oder: Der Engel des Todes (UA)
von Michel Decar
Regie: Catja Baumann; Bühne & Kostüme: Linda Johnke; Dramaturgie: Katrin Breschke.
Mit: Tobias Beyer, Andreas Bißmeier, Bea Brocks, Martina Struppek, Raphael Traub, Rika Weniger.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

Koproduktion der Ruhrfestspiele Recklinghausen mit dem Staatstheater Braunschweig

www.ruhrfestspiele.de
www.staatstheater-braunschweig.de

 


Kritikenrundschau

Michel Decar spitze das Lebensgefühl einer durchökonomisierten Zeit "ins Groteske" zu, schreibt Kai-Uwe Brinkmann in einer Kurzkritik für die Ruhrnachrichten (online 13.6.2014). Doch: "So ganz will der komödiantische Funke" in der Uraufführung "nicht überspringen, die Lawine kommt nicht wirklich in Fahrt, mitunter wirkt der Aberwitz bemüht. Trotzdem kräftiger Applaus."

Von einer "in sich runden und rhythmisch gut strukturierten Inszenierung" zum "kunstvoll komponierten Textwerk" von Michel Decar berichtet Christiane Enkeler für "Fazit" auf Deutschlandradio Kultur (12.6.2014). Decars Text bestehe "im Grunde genommen aus Mechanismen. Aus Verschiebung, Auslassung, Übersprung und Substitution. Eine absurde Traumlogik, wobei das Erwachen immer nur eines in den nächsten Traum hinein ist." Regisseurin Catja Baumann und "ihr spielfreudiges Ensemble" konzentrieren sich auf das "Rasen der Zeit" und – vermittels des Bühnenbildes – auf die "vielen Perspektivwechsel des Textes, die Dialoge, in denen jede Äußerung anders in den Raum gestellt als aufgenommen wird."

Decars Stück "erfasst in heiter-schnellen Sätzen und absurden Zeitsprüngen auch formal sehr gut die Tragik heutiger Bewusstseinszerfaserung", berichtet Dorothea Marcus für "Kultur heute" auf Deutschlandfunk (14.6.2014). Es "spielt souverän und rasant mit Zeitsprüngen und Ortswechseln, Jahre sind Minuten und Kontinente Zentimeter. Wir können nicht heraus aus der Hamsterrad-Hektik." In der Inszenierung werde das Stück "zu einer biederen Glitzer-Revue", seine philosophische Dimension gehe "im Geplapper" unter.

Decars Stück entwickle sich "mit seinen schlagfertigen Wortwechseln zu einer Boulevardkomödie der gehobenen Art", ja es habe gar kafkaskes Potenzial, schreibt Andreas Berger in der Braunschweiger Zeitung (11.10.2014). Decar surft "geschickt zwischen selbstironischer Zeitgeistanalyse und der Subversion des Absurden". Baumanns "zu comedyhafter Inszenierung" kann der Kritiker dagegen weniger abgewinnen, der "gut gespielte Spaß" bleibe "recht oberflächlich".

 

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