Auf dem Gipfel des Wäschebergs

von Eva Biringer

Berlin, 14. Juni 2014. Viel ist jetzt wieder die Rede vom Sinn und Unsinn der Dramatikerförderung. Warum neu produzieren, wenn genug Altes da ist? Till Briegleb, Alleinjuror der diesjährigen Autorentheatertage am Deutschen Theater Berlin, überführt das Prinzip Nachhaltigkeit in den Theaterbetrieb. Anstatt wie in den vergangenen Jahren Schreibaufträge an Nachwuchsautoren zu vergeben, las sich Briegleb vorab durch die Stückauswahl seiner Vorgänger. Die von ihm als noch immer spielenswert erachteten Stücke, vier an der Zahl, wurden bei der Langen Nacht der Autoren als Werkstattinszenierungen gezeigt. Über die Dehnbarkeit des Begriffs Werkstattinszenierung: eine Annäherung in drei Schritten.

Spaß im Mehrgenerationenhaus

Eins: Die naheliegendste Art, einen bereits zur Uraufführung gebrachten Text ein weiteres Mal zu inszenieren, ist ganz im Sinne seines Schöpfers. Rolf Kemnitzers "Herzschrittmacherin" ist ein flotter Oma-Enkel-Schwoof, mit dem Spirit eines Roadmovies, das nicht von der Stelle kommt. Oma Magda ist gar nicht so senil, wie das Verscheuchen von imaginären Fliegen vermuten lässt, und Enkel Jochen wesentlich uncooler als seine Teenieuniform aus Hoodie und Sneakern. Michael Goldberg als Magda ruft die Fotos der letzten Marius-Müller-Westernhagen-Tournee in Erinnerung, beiden ist ein Hang zu Goldclips gemein. Timo Weisschnur als Jojo – hoppla – Jochen vollzieht den Wandel vom Berlin-Hänger zum Opa-Ersatz auch ohne Zuhilfenahme der Maske mit Opas Konterfei. Wer auch immer wen zum Klauen von Arztseife anstiftet, am Ende des Stücks gehen die beiden in Bonny und Clyde-Manier von der Bühne, abzüglich Sex selbstverständlich.

Eine Leinwand macht zwar noch keine Bühne, aber Stefan Bischofs Videoeinspieler zitieren gekonnt ein ganzes Omileben, Familienalbumfotos und Weltgeschehen inklusive (der junge Boris Becker sah ja so anders aus!). Regisseurin Jorinde Dröse hält sich mit waghalsigen Interpretationen zurück, lässt dem Stück seine Mehrgenerationenhausheiterkeit, das Kofferradio dudelt Cyndi Lauper und Zarah Leander und mehr ist aus dieser "Herzschrittmacherin" wahrscheinlich nicht rauszuholen.

Zwischenspiel: Die viel zu langen Pausen zwischen den einzelnen Inszenierungen werden leicht fröstelnd mit Gegrilltem durchgestanden.

Spinnerte Außenseiter

Zwei: Was anfangen mit einem Text, der schon bei der Vorablektüre von der Kritikerin für unaufführbar befunden wurde? Simon Werles "Weichselzopf" ist eine Quasi-Dystopie im Kriegszustand, ohne erkennbare Storyline, bevölkert von gewollt spinnerten Außenseitern – oder stehen die Panzer und Soldatenbesäufnisse für etwas anderes? Alles könnte für etwas anderes stehen, das ist das Problem (manche werden sagen: die Qualität) des "Weichselzopfes". Optische Qualität hat immerhin der verschnürte Altkleiderberg (Bühne und Kostüm: Sigi Colpe), der Christian Boltanskis Holocaustkleiderhaufen ins Gedächtnis ruft.

Was von einer Handlung übrigblieb: Problemkind Jale (Lisa Hrdina) ist schwanger vom Wildfang Juan (Elias Arens), vielleicht handelt es sich aber auch um eine Babykopfgeburt. Ihrer Ziehmutter Anna (Almut Zilcher auf dem Wäscheberg thronend wie ein Demonstrant auf einer Straßenbarrikade) missfällt Jales Männerwahl ebenso wie deren Frisur (der titelgebende Weichselzopf). Onkel Leo (ein fahriger Cornelius Schwalm) geht sockenlos durch die Welt.

attweichselzopf 560 arnodeclair hWäsche als Straßenbarrikade: "Weichselzopf" © Arno Declair

Für ihre Bearbeitung des rund zwanzig Jahre alten Stücks belässt Sonja Anders es bei einer szenischen Lesung auf der Hinterbühne des Deutschen Theaters, wobei der Text auf einer Leinwand hinter den Zuschauern abläuft, was zu ständigem Zuschauerköpfedrehen führt. Durch den Ablesevorgang fremdeln die Schauspieler mit ihren Rollen, was sich gut mit der Fremdartigkeit der Wischi-Waschi-Vorlage deckt, die wirkt, als wäre sie einem Seminar für konkrete Poesie entsprungen. "Warum hast Du ja gesagt?" – "Ich habe nicht nein gesagt." So kryptisch wie Jale und Juans Bedeutungs-Ping-Pong ist jede Kommunikation der Figuren im "Weichselzopf." Manchmal ist Schweigen die bessere Alternative.

Zwischenspiel: Erzieherische Maßnahmen haben zur Folge, dass jeder nur drei der vier Inszenierungen sehen kann, da zwei davon parallel stattfinden. In der Vorstellung des DT-Intendanten Ulrich Khuon regt das die (analoge!) Zuschauerkommunikation an. Es produziert wie immer das Gefühl, das Beste verpasst zu haben: ich glaube (und habe mir sagen lassen), Enrico Stolzenburgs Inszenierung von Andri Beyelers "The Killer in me is the Killer in you my love" sei geglückt.

Beinahe-Romanze

Drei: Denkbar auch, sich auf den Werkstattcharakter einer Werkstattinszenierung zu konzentrieren und gleichzeitig die Botschaft des Stücks in ihr Gegenteil zu verkehren. So geschehen mit "Protection", Anja Hillings Triptychon der gescheiterten Großstadtexistenzen. Ziemlich lange bleibt das Licht im Zuschauerraum angeschaltet, während das Bühnentrio (Sebastian Grünewald, Peter Moltzen, Anita Vulesica) darauf wartet, dass das "Bitte Ruhe"-Signal seine Farbe ändert. Hilling kann warten! Zum ersten und einzigen Mal wird so auf das Motto der diesjährigen Autorentheatertage "Innehalten" Bezug genommen. Warum nicht gemeinsam der Zeit beim Ablaufen nachhorchen?

attprotection 560 arnodeclair hGroßstadtexistenzen in Wildwestmontur: "Protection" © Arno Declair

Irgendwann schlüpfen die drei in Wildwestmontur (Kostüme: Linda Tiebel) dann doch in ihre Rollen, allerdings unter Vorbehalt. Mitten in der Geschichte der unglücklich liebenden Wohnsitzlosen Lucy und Ross gehen Bühnenteile zu Bruch (Juliane Grebin, die Königin des Provisoriums). Die Beinahe-Berghain-Romanze von Marc und Marco wird durch Fransösiiiiisch-Witzchen entschärft, die Vorderhauskönigin Nazife gerät zum Tennisluder. Das so provozierte Zuschauergiggeln schluckt alle Zwischentöne, da hilft auch die Musik von Friederike Bernhardt und der Violinistin Katharina Deissler nicht. All diese Schenkelklopfelemente tun "Protection", dem besten der vier Stücke der Langen Nacht der Autoren, nicht nur unrecht, sie rauben ihm seine Seele.

Bühnenfledderei

Wo Hilling an der Grenze des Erträglichen eine Vergewaltigung, einen Abschied für immer und ein Dahinsiechen auf offener Straße ausmalt, mit Worten so ätzend wie die Flüssigkeiten aus Lucys Mund, animiert Laberenz sein Ensemble zur Blödelei. Ähnlich verhielt es sich letztes Jahr an selber Stelle, als Laberenz Matthias Naumanns Schwäne des Kapitalimus mit demselben rüden Zugriff auf das Textmaterial inszenierte (habe ich mir sagen lassen: noch ein Produkt geglückter Zuschauerkommunikation). "Schade", murmelt Sebastian Grünewald, als das Ende von "Protection" in der Beliebigkeit des Abspanns untergeht. Schade, denkt die Kritikerin und fühlt ausnahmsweise mit jenen Traditionalisten, die sich über die Bühnenfledderei ihrer geliebten Klassiker aufregen.

Lange Nacht der Autoren 2014

Die Herzschrittmacherin
von Rolf Kemnitzer, erstmals Autorentheatertage Hannover 1998
Regie: Jorinde Dröse, Bühne und Kostüme: Camilla Daemen, Bühne und Video: Stefan Bischof, Dramaturgie: Juliane Koepp.
Mit: Michael Goldberg, Timo Weisschur.
Dauer: 1 Stunde

The Killer in you is the Killer in me my Love
von Andri Beyeler, erstmals Autorentheatertage Hamburg 2002
Regie: Enrico Stolzenburg, Bühne und Kostüme: Kristel Bergmann, Klanggestaltung: Kirsten Reese, Dramaturgie: Ulrich Beck.
Mit: Ursula Werner, Barbara Schnitzler, Jürgen Huth, Michael Gerber, Matthias Neukirch. Dauer: 1 Stunde

Der Weichselzopf
von Simon Werle, erstmals Autorentheatertage Hannover 1996
Einrichtung: Sonja Anders, Bühne und Kostüme: Sigi Colpe, Musik: Ingo Schröder, Dramaturgie: Jakob Schumann.
Mit: Lisa Hrdina, Elias Arens, Almut Zilcher, Cornelius Schwalm.
Dauer: 1 Stunde

Protection
von Anja Hilling, erstmals Autorentheatertage Hamburg 2005
Regie: Martin Laberenz, Bühne: Juliane Grebin, Kostüme: Linda Tiebel, Musik: Friederike Bernhardt, Violine: Katharina Deissler, Dramaturgie: Malin Nagel.
Mit: Sebastian Grünewald, Peter Moltzen, Anita Vulesica.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten

www.deutschestheater.de

 

Mehr lange Nächte der Autoren bei den Autorentheatertagen? Auf nachtkritik.de wurden auch die Ausgaben der Jahre 2013, 2012, 2011, 2010, 2009, 2008 und 2007 besprochen.

 

Kritikenrundschau

Brieglebs "Innehalten"-Konzept frage, "ob die Stücke es tatsächlich wert sind, wieder hervorgeholt zu werden", und Patrick Wildermann antwortet im Tagesspiegel (16.6.2014) im Falle der "Herzschrittmacherin" von Rolf Kemnitzer mit einem klaren Ja! Die Werkstattaufführung von Regisseurin Jorinde Dröse lasse "den grotesken Sprachwitz von Kemnitzer nur so funkeln." Andri Beyerlers Jugendstück "the killer in me is the killer in you my love" wirke ebensfalls "kein bisschen veraltet". Anja Hillings poetisches Drama "Protection" wiederum schramme "gelegentlich den Kitsch, ist aber allemal kraftvoller als Laberenz' Mätzchen-Theater." Vielleicht sei "dies die Lehre aus der Langen Nacht: Stücke, die stark genug sind, setzen sich schon ganz alleine durch."

In der Berliner Zeitung (15.6.2014) schreibt Dirk Pilz: Des Alleinjurors Till Brieglebs Ruf nach "Innehalten" sei der "Ruf von Reformatoren: zurück zu den Quellen, zurück zu den alten neuen Fragen. Warum gibt es und wofür wollen wir das Theater?" Das Problem sei: Gegenwartsdramatik wie -theater suchten "allzu oft die Wahrheit" und leugneten gleichzeitig "jeden umfassenden Wahrheitsanspruch". Dass sie sich in "Weltabschreibungen zu retten suchen, ohne der Welt eine Wahrheit entgegenzusetzen".

Den "immer höheren Verdünnungsgrad", in dem die Gegenwartsdramatik heute dargebracht werde, hätten die vier Aufführungen der "Langen Nacht der Autoren" "auf sehr komische, aber zugleich oft ziemlich stückeschreiberfeindliche Weise" belegt, schreiben Anke Dürr und Wolfgang Höbel auf Spiegel Online (16.6.2014). Aus Anja Hilling "Protection" etwa sei eine "musikselige, nette, aber sehr hirnlose Faschingsparty" geworden, und auch Jorinde Dröse mache aus Rolf Kemnitzers "Herzschrittmacherin" einen "einen harmlosen Ulk". Das Fazit der beiden Kritiker fällt ernüchternd aus: "'Alle wollen das Beste, und am Ende kommt das Schlechteste dabei heraus', hat Briegleb streng behauptet. An diesem Abend in Berlin ist es dagegen eher so: Fast alle wollten ein fettes Vergnügen. Und am Ende presste man selbst aus den dünnsten Texten eine Menge Theaterspaß heraus."

 

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