Ich rufe meine Brüder - Das schwedische Eröffnungsstück der Biennale Wiesbaden 2014
Ich rufe Inspektor Clouseau
von Shirin Sojitrawalla
Wiesbaden, 19. Juni 2014.Was sich eben noch kraftvoll, unbedingt, rasant und witzig las, wirkt auf der Bühne nur noch lauwarm und na ja: Theateralltag und zum Auftakt der 12. und letzten Theaterbiennale Neue Stücke aus Europa in Wiesbaden trotzdem ein bisschen schade. Aber nur ein bisschen, denn zumindest spricht in diesem Falle vieles für das Stück, wie es sich für ein Autorenfestival gehört.
Auswirkungen der Explosion auf den Kopf des Autors
Der Schriftsteller Jonas Hassen Khemiri, Sohn einer Schwedin und eines Tunesiers, erzählt in seinem 2012 in Malmö uraufgeführten Stück "Ich rufe meine Brüder" (Deutschsprachige Erstaufführung in St. Pölten) von gesellschaftlicher Paranoia und individueller Selbstzensur, vom Leben der anderen und dem Überwachungsstaat im eigenen Kopf. Selbst- und Fremdwahrnehmung stückelt er dabei geschickt aneinander, so dass man schnell nicht mehr weiß, wer hier Bomber und wer Opfer ist. Dabei räkelt sich das Stück auf mehreren Ebenen der Realität, verbindet Erinnerungen mit dem Jenseits und Telefonate mit Gott und der Welt. Hintergrund ist eine in Stockholm 2010 tatsächlich gezündete Autobombe und die Auswirkungen dieser Explosion auf den Kopf des Autors.
Im Stück wird daraus der Kopf von Amor, seines Zeichens liebenswürdiger Student mit was man so Migrationshintergrund schimpft. Es ist eine einfache Geschichte, die auf der Grenze zwischen Geradheit und Winkelzug balanciert und nicht zuletzt von ihrem gedankenverlorenen jugendlichen Überschwang lebt. Den Jugendstückcharakter des Dramas betont die 1977 in Iran geborene Regisseurin Farnaz Arbabi, die im Herbst die künstlerische Leitung des Kinder- und Jugendtheaters Unga Klara in Stockholm übernimmt.
Auf der Bühne strahlt ein Gerüst in Signalrot, obenauf vier von Scheinwerfern umrandete Bildtafeln, auf denen mal die Uhrzeit, mal Augenaufschläge oder das Periodensystem erscheinen. Das Bühnenbild verströmt Autokinotristesse, riecht trostlos, schick und nach achtziger Jahren. Der extra-smarte Amor, gespielt von Kehmiris jüngerem Bruder Hamadi, steht in Jeans, Chucks und Hoody an der Rampe, die schwarzen Haare lässig hochgebunden. In Ich-Form erzählt er uns, was geschah am Tag, als die Bombe hochging. Drei andere Schauspieler verkörpern mit ausladenden Gesten mal diesen, mal jene und sitzen ansonsten im Hintergrund an einem Tisch. Shima Niavarani spielt unter anderem Amors Cousine und begeistert anfangs mit ihrer umwerfend komödiantischen Präsenz, doch schon bald erschöpft sich der Humor der kabarettistisch angelegten Szenen in mächtig augenrollendem Lustig-Lustig, das seinen Nährwert bloß noch aus der Übertreibung gewinnt.
Niedlich und doof
Yoga, Erleuchtung und Tierschutz verkommen so zur selben Lachnummer wie die Bespitzelung der Bevölkerung, sei sie nun ein Hirngespinst oder nicht: Hier treten zwei der Akteure allen Ernstes (oder eben gerade nicht) in Trenchcoat und Inspektor-Clouseau-Schlapphut in Erscheinung. Das ist irgendwo niedlich und irgendwie ziemlich doof. Viel besser gelingen Sequenzen, in denen der Humor des Stücks auf den Gossenton der Figuren trifft. Und auch jene, in denen sich die Angst in Amors wachen Blick schmuggelt und sich die Ungewissheit der Akteure mit der des Publikums vereint.
Langweilen muss sich an diesem Abend, der sich an ein junges Publikum richtet, keiner, inspiriert fühlen wird sich auch niemand. Das Stück mag eine rasante Spielvorlage liefern, doch Arbabi fällt dazu wenig ein. Ihre Darsteller markieren zwar originelle Typen und transportieren die unterschiedlichen Temperaturen des Stücks, ihre Inszenierung aber setzt dem Drama zu wenig hinzu. Das indes gibt uns die Gelegenheit, mal eine der vielen Übersetzer(innen) ins Licht zu rücken, ohne die ein Festival, das alle Inszenierungen in den Originalsprachen zeigt und für diejenigen, die es nötig haben, simultan übersetzen lässt, nicht funktioniert. In diesem Falle rettete Jana Hallberg das lässige schwedische Stimmengewirr des Stückes ins Deutsche und flüsterte uns das Ganze an diesem ersten Festivalabend obendrein noch betont gelassen ins Ohr.
Jag ringer mina Bröder (Ich rufe meine Brüder)
von Jonas Hassen Khemiri, deutsch von Jana Hallberg
Produktion des schwedischen Kulturhuset Stadsteatern Stockholm
Regie: Farnaz Arbabi, Ausstattung: Jenny Kronberg, Licht: Johan Sundén, Musik: Foad Arbabi.
Mit: Hamadi Khemiri, Pablo Leiva Wenger, Shima Niavarani, Bahar Pars.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.newplays.de
Die Biennale Neue Stücke aus Europa läuft vom 19. bis zum 29. Juni 2014. Zum Programm.
Das "Herumstehen" sei die "ganz große Schwäche des Stücks", das in den Augen von Gerd Klee vom Wiesbadener Kurier (21.6.2014) "didaktisches Theater der allerfeinsten Sorte" biete. Das heißt: "Das Publikum bekommt eine Geschichte von der Bühnenkante erzählt, gespielt wird – wenn überhaupt – wenig." Im Ganzen ein "schwacher Auftakt" für die Biennale.
Regisseurin Farnaz Arbabi "leitet aus den Erinnerungsfetzen der Hauptfigur das Sittenbild einer tief verunsicherten Multikulti-Gesellschaft ab", schreibt Stefan Benz im Darmstädter Echo (21.6.2014). Dabei wirke das Innenleben der Hauptfigure allerdings "wie eine Nummernrevue vom Jahrmarkt". Denn: "Die Stockholmer Inszenierung entschärft Khemiris Stoff mit Typenkomik."
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