Chaotisch und voller Hoffnung

von Bahar Çuhadar

Istanbul im Juni 2014. Die Türkei besitzt eine dynamische, hin und wieder chaotische, dennoch hoffnungsvolle Theaterlandschaft. Man kann sie grob in vier Bereiche unterteilen: Zum einen gibt es die Staatstheater, die 1949 gegründet wurden, aktuell in 21 Provinzen aktiv und dem türkischen Kultur- und Tourismusministerium unterstellt sind. Ferner haben mehrere Städte ihre Stadttheater, die an die Stadtverwaltungen gebunden sind und dessen ältestes sich in Istanbul befindet. Hinzu kommen die privat geführten Theater, die teilweise schon seit mehr als einem halben Jahrhundert bestehen und zu Institutionen wurden (Dostlar Tiyatrosu, Ankara Sanat Tiyatrosu, Kenter Tiyatrosu, Oyun Atölyesi, etc.). Darüber hinaus existieren die unabhängigen Theaterensembles, die – sowohl aus künstlerischer Perspektive als auch im Hinblick auf das Publikumsinteresse – nach den Gezi-Protesten eine Art Erwachen auslösten.

Privatisierung als Strafe

Die Staats- und Stadttheater werden von der öffentlichen Hand gefördert, ihre künstlerischen und technischen Mitarbeiter sind verbeamtet oder Angestellte. Doch seit zwei Jahren liegt der Schatten der Privatisierung über diesen Einrichtungen. Zu diesem Zeitpunkt begann der Kampf der Theater – deren Verhältnis zur Regierung in der türkischen Geschichte noch nie ein gutes war – mit der AKP-Regierung, Premierminister Recep Tayyip Erdoğan und einigen regierungsnahen Medien. Die Entwicklungen zwischen Februar und Mai 2012 waren auch erste Schritte zum TÜSAK-Gesetzesentwurf, der die Schließung der Staatstheater vorsieht.

Kurz zusammengefasst, wie sich der Konflikt zwischen den Theatermachern und der Regierung sowie dem Premierminister entwickelte: Am 14. Februar 2012 erschien in der konservativen Tageszeitung Zaman ein Artikel von Iskender Pala, der die Produktion des Istanbuler Stadttheaters "Alltägliche obszöne Geheimnisse" ("La Secreta Obscenidad De Cada Dia"), ein Stück des chilenischen Autors Marco Antonio De La Parra, als "unmoralisch" bezeichnete und kritisierte, dass "obszöne" Stücke mit staatlicher und städtischer Förderung produziert würden. Später veröffentlichte dieselbe Zeitung einen Artikel, der kritisierte, dass die Stadttheater keine einheimischen Stücke aufführen würden, die vom Leben der osmanischen Sultane erzählten.

proteste gegen-regierung april 2012 uProteste der 5.000 gegen Gesetzesvorhaben der Regierung Erdoğan im Istanbuler
Stadtteil Beyoğlu im April 2012
Anschließend stellte die Zeitung die Behauptung auf, die Zuschauerzahlen der Stadttheater würden gewaltig sinken. Nach mehreren Artikeln und Kolumnen dieser Art, die die künstlerische Produktion der städtischen Theater zur Zielscheibe machten, kam es zu einem weiteren Eklat. Duch eine plötzliche Gesetzesänderung wurde festgelegt, dass künstlerische Entscheidungen an die Verwaltung übertragen werden sollten. Daraufhin versammelten sich über 5.000 Theater- und Kinokünstler sowie Theaterstudenten auf dem Taksim-Platz zu einer bunten Protestaktion. "Ein freies Theater gegen die Angst" war der Slogan des Protestes, der sich gegen die eine "konservative Kunst" fordernde Regierung richtete.

Der Gegenangriff des Premierministers ließ nicht auf sich warten. Nach einer Woche kam die "Bombenmeldung": "Wir werden die Theater privatisieren", verkündete Premierminister Erdoğan: "Der Staat kann keine Theater unterstützen. Du bekommst dein Gehalt von der Stadt und wetterst auch noch gegen die Regierung, so einen Unsinn kann es nicht geben ...". Auf diese harsche und bestimmte Aussage des Premierministers folgten neue Protestaktionen der Künstler.

Für eine "konservative Kunst"

Die Diskussion, die vor zwei Jahren begann, mündete in dem Gesetzentwurf "Kunstinstitution der Türkei" (TÜSAK). Ziel dieses Gesetzesentwurfes, der von den Künstlern stark kritisiert wird, ist im Grunde genommen die Schließung der türkischen Staatstheater, Opern, Balletkompanien und Symphonieorchester. Es ist geplant, dass die Mitglieder von TÜSAK vom Ministerrat berufen werden. Sie sollen Projekte, die von Künstlern eingereicht werden, bewerten und entscheiden, ob diese Projekte vom Staat finanziert werden können.

Die größten Bedenken entstehen natürlich gegen den Plan, dass das Gremium ausschließlich aus Abgesandten der Regierung bestehen soll. Der Grund liegt auf der Hand: Dieses Gremium wird bei der Entscheidung Projekte bevorzugen, die der seit zwei Jahren auf der Tagesordnung stehenden Forderung nach "konservativer Kunst" entsprechen. Der Gesetzesentwurf stößt in der Kunstszene auf große Ablehnung, da er sowohl in der gesamten Türkei die staatliche Förderung von Theaterproduktionen beenden und viele Spielorte überflüssig machen wird, als auch die Unabhängigkeit der Kunst bedroht. Noch ist TÜSAK lediglich ein Entwurf, doch die Diskussionen dauern in Form von verschiedenen Versammlungen und Straßenprotesten an.

Der Geist von Gezi

Die Gezi-Proteste von 2013, die im Land einen lange nicht gesehenen Geist der Rebellion weckten, haben die Haltung des Premierministers gegenüber den Künstlern weiter verhärtet. Ein großer Teil bekannter und unbekannter, junger und alter Schauspieler war im Gezi-Park dabei. Während sie ihre Stimme erhoben, hielt der Premierminister Reden auf Massenversammlungen seiner Partei, in denen er die Künstler zur Zielscheibe machte. Der Premierminister richtete sich an die Künstler, die den Gezi-Aufstand unterstützten, rief "Schande über euch" und drohte damit, das Atatürk-Kulturzentrum "niederzureißen", obwohl es das wichtigste Haus des Staatstheaters und bereits seit 2008 wegen Renovierung geschlossen ist.

Gleichzeitig machten regierungsnahe Medien, der Premierminister und seine Kader das Stück "Mi Minör" (E-Moll) für die "Gezi-Vorfälle" verantwortlich, obwohl es schon lange vor den Protesten Premiere gefeiert hatte. Regie des Stückes von Meltem Arıkan führte der populäre Theater-, Kino- und TV-Schauspieler Memet Ali Alabora. "Mi Minör", in dem Alabora auch die Rolle des Präsidenten spielt, handelt von einem totalitären Regime in einem fiktiven Land. Im Stück können die Zuschauer ihre Reaktionen auf das diktatorische System zeigen, indem sie mit den Schauspielern interagieren. Es gab sogar Zuschauer, die als Reaktion auf den Präsidenten, der sich zum Diktator entwickelt, Schuhe geworfen haben!

Und so war dieses Stück, das auf seine Art dem Geist der Rebellion huldigte, aus Sicht der regierungsnahen Medien "die Gezi-Probe". Memet Ali Alabora beherrschte tagelang die Schlagzeilen der regierungsnahen Zeitungen. Alabora, der seine oppositionelle Haltung nicht verheimlichte und Vorsitzender der Schauspielergewerkschaft ist, wurde auch wegen seines Tweets "Es geht nicht nur um den Gezi-Park, mein Freund, hast du das noch nicht verstanden? Jetzt komm!", den er zu Beginn der Proteste schrieb, bedroht und zur Zielscheibe gemacht. Es wurde gegen ihn ermittelt mit der Beschuldigung, "einen bewaffneten Aufstand gegen die Regierung der Republik Türkei" geplant zu haben. Glücklicherweise wurden die Ermittlungen eingestellt. Aber wegen dieser Rufmord-Kampagne konnte ein erfolgreicher Schauspieler in seinem eigenen Land und seiner eigenen Stadt nicht mehr in der Öffentlichkeit auftreten, konnte seinen Beruf, seine Kunst nicht mehr ausüben.

ich bertolt brecht 560 u"Ben, Bertolt Brecht" ("Ich, Bertolt Brecht") von Bertolt Brecht / Genco Erkal im
Dostlar Tiyatrosu 2011, Genco Erkal rechts im Bild.

Bestrafung der Gezi-Unterstützer

Die Theaterschauspieler, die während der Gezi-Proteste aktiv waren, wurden vom Premierminister nicht nur einfach zurechtgewiesen. Sie wurden für ihre Auflehnung gegen Unterdrückung und die Einmischung in künstlerische Angelegenheiten bestraft, indem ihnen die Förderung durch das Ministerium für Kultur und Tourismus entzogen wurde. Dem "Dostlar Tiyatrosu" und seinem Leiter Genco Erkal, der schon von je her als politischer Künstler bekannt ist und Gezi öffentlich unterstützt hat, wurde genauso wie 15 weiteren alten und neuen Theatern in diesem Jahr keine Förderung gewährt.

Die Strafen haben damit aber nicht aufgehört. In einem Protokoll, das den öffentlich geförderten Theatern zugestellt wurde, fügte man einen Paragraphen hinzu, demzufolge die Förderung innerhalb von 15 Tagen zurückgezogen wird, sollte "festgestellt werden, dass Stücke aufgeführt werden, die nicht der allgemeinen Sittlichkeit entsprechen".

So befinden sich die Künstler und Theater in der Türkei, die von Natur aus oppositionell sind, vor allem in den letzten zwei Jahren nahezu ständig im Kampf. Durch politische Unterdrückung und die Anstrengungen bestimmter Medienorgane, sie zur Zielscheibe zu machen, werden sie ständig auf Trab gehalten.

Was genau haben die Künstler eigentlich während des Gezi-Aufstandes gemacht? Wie ich schon erwähnte, waren junge und alte Mitarbeiter öffentlich geförderter Theater sowie privat geführter Theater und unabhängiger Ensembles, also hunderte von Künstlern, in den Straßen, im Park, auf Demos. Spontan führten sie im Gezi-Park Stücke auf, arbeiteten mit Kindern in Workshops und produzierten viele Stücke zum Thema Gezi. Etwa zehn unabhängige Theaterensembles schrieben auf und spielten das nach, was während der Gezi-Tage auf den Straßen passierte. Nicht alles waren sehr gute Arbeiten, aber weil sie die Ereignisse aus der Sicht von Theatermachern für die Geschichtschreibung bewahren, sind sie auf jeden Fall bedeutsam.

Das Problem der Spielstätten...

Ob private, unabhängige oder öffentlich geförderte Theater – ein anderes aktuelles Problem der Theatermacher ist das Problem der Spielstätten. Der Istanbuler Stadtteil Beyoğlu, seit den ersten Jahren der Republik Zentrum von Kunst und Kultur, durchlebt seit einigen Jahren einen enormen Wandel. Die Istiklal-Straße, in der sich einst Theater und Kinos aneinanderreihten, entwickelte sich in den letzten Jahren zu einer touristischen Einkaufsstraße. Kleine und große Theater werden in diesem Zuge des Wandels geschlossen.

atatuerk kulturzentrum istanbul 560Das Atatürk Kulturzentrum (AKM) in Istanbul Unser größter Verlust jedoch ist das Atatürk-Kulturzentrum (AKM). Zwar steht das Gebäude noch, doch seit 2008 ist es wegen "Renovierung" geschlossen und der Hof dienst seit den Gezi-Protesten als eine Art Polizeistation. Das Gebäude am Taksim-Platz war, seit es 1969 eröffnet wurde, das Herzstück der Theater-, Konzert- und Balletszene,. Mittlerweile steht es vor einer ungewissen Zukunft. Der schlechte Zustand des Gebäudes mit seinem großen Saal mit 1307 Plätzen, dem Konzertsaal mit 502, dem Theatersaal mit 296, der Aziz-Nesin-Bühne mit 190 und dem Kinosaal mit 206 Plätzen ist eine der größten Wunden des türkischen Theaters. Auch die Taksim-Bühne, die jahrelang das Istanbuler Staatstheater beherbergte, wird seit 2007 nicht mehr als Theater genutzt, da das historische Gebäude zu einem Einkaufszentrum umgebaut werden soll. Und weitere Beispiele für geschlossene, abgerissene Gebäude könnten genannt werden, aus denen die Theater zwangsgeräumt wurden.

Neues Erwachen

Die gute Nachricht bei alledem: All diese negativen Entwicklungen haben dem türkischen Theater neues Leben eingehaucht. Vor etwa sechs Jahren erlebte man ein Erwachen in der alternativen, unabhängigen Theaterlandschaft. Heute entstehen neben den öffentlich geförderten und privat geführten Theatern in Dutzenden von unabhängigen Theaterensembles bemerkenswerte Produktionen.

Manche wurden bereits in den 90ern gegründet, haben aber erst vor fünf bis sechs Jahren mit den in England entstandenen In-yer-face-Stücken Aufmerksamkeit erregt. Diese Funken des "neuen Theaters" waren auch vorher schon zu sehen. In den 90ern gab es etwa zehn Ensembles, die progressive Stücke aufführten auf Bühnen, die sie aus eigenen Mitteln finanzierten. Doch momentan ist es die Generation der zwanzig- bis vierzigjährigen Theatermacher, die die "neue Theaterwelle" vorantreiben.

dot yellow moon 560Das DOT spielt "Sarı Ay'" ("Yellow Moon")

Das Theaterensemle DOT etwa wurde 2005 gegründet und inszenierte auf kleinen, selbst gestalteten Black-Box-Bühnen aufsehenerregende In-yer-face-Stücke (abgeleitet von der neuen britischen Dramatik der neunziger Jahre). Mit ihren mutigen Performances und einer innovativen Regie hat das DOT-Theater "den jungen Menschen den Weg geebnet". Junge, risikofreudige Theatermacher übersetzten zuerst verschiedene In-yer-face-Texte und inszenierten sie an höchst unterschiedlichen Orten. Sie legte ihre finanziellen Mittel und ihre Antriebskraft zusammen, und verwandelten alte Autowerkstätten, Schmieden und heruntergekommene Wohnungen in Beyoğlu in Black-Box-Theater. Die Vorreiter waren "Kumbaracı 50" und "garajistanbul"; in den Jahren danach folgten bald weitere. Fast jeden Monat hörten wir von neuen unabhängigen Ensembles und neu eröffneten Bühnen. Ikincikat, Tiyatro Hal, Mekan Artı, Şermola Performans – die Bühne des kurdischen Theaters Destar Theatre – Kadıköy Terminal Sahnesi sind die wichtigsten.

tuerkei 6 280 hoch"Öldün, Duydun mu?" ("Du bist tot,
hörst Du das?") von Yiğit Sertdemir im
Altıdan Sonra Tiyatro, 2013

Von Europa nach Asien

Zunächst konzentrierten sich diese Ensembles, dem Charakter des In-yer-face-Theaters treu bleibend, auf Themen wie häusliche Gewalt, Inzest, Probleme homosexueller und junger Menschen. Diese Ensembles, die als alternative, unabhängige Theater definiert werden, brachten mit der Zeit auch ihre eigenen Autoren hervor. Inzwischen haben sich auch die Themen der Stücke diversifiziert. Heute behandeln sie gesellschaftliche Themen vom Konservatismus bis zur Institution Familie; von der Kurdenfrage bis zur Staatsgewalt in den 90ern und politische Fragen von den Gezi Protesten bis hin zum Individuum in der rauen neoliberalen Welt. Selbst landesweit berühmte Schauspieler spielen in Inszenierungen dieser kleinen, unabhängigen Ensembles.

Während die Gentrifizierung in Istanbul vorangetrieben wird, alte Gebäude zwangsgeräumt werden, um sie zu Einkaufszentren und Hotels umzubauen, weichen die unabhängigen Theater in andere Stadtteile aus. In diesem Jahr haben vor allem in Kadıköy, auf der anatolischen Seite Istanbuls, mehrere Spielstätten eröffnet. Nicht nur die jungen unabhängigen Ensembles, sondern auch jene, die es geschafft haben, sich jung zu halten, erwecken das Interesse der Zuschauer. Eines davon ist das Theater Moda Sahnesi, das in einem vormals leer stehenden Kino in Kadıköy auftritt. An dieser Spielstätte, in der sich zwei Bühnen und ein Kino befinden, führen nicht nur Moda Sahnesi selbst zeitgenössische und klassische Stücke auf, hier gastieren auch andere unabhängige Ensembles.

Es stehen den Zuschauern, die in Istanbul ein Stück sehen wollen, also Dutzende von Möglichkeiten zur Auswahl. Und das Beste ist: Menschen, die bis vor fünf Jahren das Theater als langweilig empfanden, fragen heute: "Welches Stück sollen wir uns ansehen?" Wenn auch einige aus künstlerischer Sicht noch am Anfang stehen, verdienen sie für ihren Mut, für ihr Aufbegehren gegen politische und finanzielle Einschränkungen und ihre Anstrengungen Lob und Respekt.

Übersetzung aus dem Türkischen von Çiğdem Özdemir.

 

bahar cuhadar 100 uBahar Çuhadar, geboren 1980 in Eskişehir, Türkei, studierte Internationale Beziehungen in Istanbul und gehörte an der Universität einer kleinen Theatertruppe an. Nach ihrem Examen 2004 arbeitete sie als Korrespondentin für die Tageszeitung Dünya. Seit Juni 2006 arbeitet sie für die Istanbuler Tageszeitung Radikal, wo sie als Redakteurin die Wochenendbeilage verantwortet und wöchentliche Theaterkritiken verfasst. Bahar Çuhadar ist verheiratet und hat ein Kind.