Magazinrundschau Juni 2014 – Was Theater alles sein kann: pädagogisch wertvoll, politisch reaktionsschnell oder schnöde Marktware

Die zugänglichste aller Künste

Die zugänglichste aller Künste

von Wolfgang Behrens

25. Juni 2014. In diesem Monat laden uns die Theatermagazine zu Abstechern von Dinslaken bis nach Ungarn ein. Und wir blicken mit den Augen einer Lehrerin auf niedersächsische Aufführungen von Kafkas "Verwandlung" – ist ja schließlich Abitur-relevant ...

 

cover tdz6-14 140Theater der Zeit

Der Schwerpunkt des Juni-Heftes von Theater der Zeit entführt uns in die dunkel lockende Welt der Landesbühnen, die von den Theatern der Metropolen aus etwa so weit entfernt scheint wie der Fußballplatz des SV Haselbachtal vom Maracanã-Stadion in Rio. Die rasenden Reporter von Theater der Zeit sind bis nach Dinslaken, Radebeul, Tübingen und Wilhelmshaven gereist, um ihre Themensetzung mit anschaulichem Material zu unterfüttern. Die Einführung in das Thema hingegen liefert Kay Metzger, der nicht nur Landestheater-Intendant in Detmold ist, sondern zugleich der Vorsitzende der Landesbühnengruppe des Deutschen Bühnenvereins.

Metzger schreibt: "Aus der Schmuddelecke sind die Landesbühnen längst heraus, ihr Selbstverständnis hat sich gewandelt. Es sind moderne Theaterunternehmen mit qualifizierten Ensembles, konturenreichen Spielplänen und ambitionierten Inszenierungen. Theaterverständnis und ästhetische Ansätze werden den Gastspielbedingungen [die im Landestheaterbetrieb konstitutiv sind] nicht bedingungslos untergeordnet, sondern am Gastspielort offensiv behauptet." Metzger erwähnt auch, wie fragil das Modell der auf mehrere Schultern (Sitzgemeinden, Länder, Landkreise, Mitgliedsgemeinden) verteilten Finanzierung sein kann, "wenn ein Partner seine Zuwendungen kürzt oder ganz aus dem Verbund aussteigt. Rasch wird eine Kettenreaktion ausgelöst, die eine Bühne in die Schieflage bringt, wie jüngst in Radebeul und aktuell in Eisleben."

Kaum je gehört haben dürften wohl die meisten von den Theatermärkten, die im Rahmen der Halbjahrestagungen der Inthega (Interessengemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen e.V.) stattfinden. "Für jeden neuen Intendanten einer Landesbühne", so Metzger, "löst die Visite dieses Theatermarktes eine erste, heftige Sinnkrise aus. Zwischen Tingeltangel, Showart, Comedy, semiprofessionellem Entertainment zu Dumpingpreisen und traditionsreichen Tourneetheatern bieten die Landesbühnen tapfer ihre Spielpläne feil. Kunst wird hier zur schnöden Ware, um die manchmal schamlos gefeilscht wird. [...] Man bekommt die Angst der Veranstalter vor leeren Stuhlreihen, unzufriedenen Zuschauern, sinkenden Abonnementzahlen und rigorosen Kämmerern zu spüren." Viel wäre wohl auch für Kulturjournalisten und Kritiker auf solchen Märkten zu lernen.

Kurz noch ein Blick in unsere heimliche TdZ-Lieblingsrubrik, in "Linzers Eck". Martin Linzer resümiert darin die vergangene Berliner Spielzeit und findet, dass es am spannendsten am Maxim Gorki Theater zugegangen sei, das sich als "theatralisch-postmigrantischer Tempel" präsentiere; auch eine "Fangruppe" habe sich etabliert – "die bejubelt bei den Premieren noch den größten Schwachsinn." Doch Linzer bleibt gewogen: "die Bude ist voll, das Ensemble hat Potenzial, man muss sich langsam etablieren, ausprobieren, Erfahrungen sammeln, man lasse ihnen Zeit, uns zu erfreuen, zu überraschen, auch zu ärgern ..."

 

cover th6-14 140Theater heute

In der Juni-Ausgabe von Theater heute gibt der Dramatiker und Regisseur Falk Richter Auskunft über sein "schwules Aufklärungsstück" (als solches bezeichnet es sein Gesprächspartner Franz Wille) Small Town Boy, das dem Heft als vollständiger Stückabdruck beiliegt. Und auch dabei geht es um die erste Spielzeit unter neuer Leitung am Berliner Gorki Theater, an dem Richter sein Stück selbst uraufgeführt hat. Für ihn stellt das Gorki "ein exemplarisches Berliner Stadttheater" dar: "So wie dort Lebensverhältnisse untersucht werden, die nicht 'biodeutsch' sind, wollte ich über Menschen schreiben, die nicht heteronormativ leben. Wie wird das dargestellt, wie kann man darüber sprechen?"

Dass in der Darstellung einer Abweichung von (zumeist fragwürdigen) Normen, die eine Gesellschaft (auf welche untergründige Weise auch immer) vereinbart hat, häufig auch die Gefahr einer erneuten Außenseiter-Markierung lauert – wie ja nicht zuletzt aus der Blackfacing-Debatte bekannt –, ist Falk Richter bewusst. "Um Klischees zu brechen und zu entlarven, muss man diese erst mal in ihren Umrissen sichtbar machen, um sie dann – und auf der Bühne ist das ja möglich – ironisch, überhöht gebrochen oder widersprüchlich in der Re-Inszenierung auszuhebeln. Vielleicht ist das aber auch der Stand des Diskurses am Gorki in der ersten Spielzeit: das Abarbeiten von Zuschreibungen, vorgeschriebenen Rollenbildern und Klischees. Ich könnte mir vorstellen, dass das in der zweiten oder dritten Spielzeit nicht mehr so im Vordergrund steht." Wir nehmen es gerne auf uns, das in den kommenden Jahren zu überprüfen!

In ihrem Bericht aus Ungarn vertritt Andrea Tompa die These, dass dort "in den vergangen Jahren und vor allem jetzt, im Wahljahr, das politische Theater präsenter denn je" sei. "Das politische Klima im Land verwandelt die Theater Budapests zum einzigartigen (und auch nahezu einzigen) Forum, in dem die wichtigen politischen Fragen gestellt werden und eine absurde Politik kritisiert wird." In einer Situation, in der Hörfunk, Zeitungen und Fernsehen schon lange aufgehört hätten, ein Forum für abweichende Meinungen zu bieten, hätten die Theater – "nur einige natürlich" – begriffen, "dass sie öffentliche Orte sind, dazu die reaktionsschnellste aller Künste und die zugänglichste für jedermann." Hört! Hört! Theater als zugänglichste Kunst! Muss es immer erst zu politischen Verwerfungen kommen, ehe das Theater dieses Potentials innewird?

Tompas Beispiele für politisches Theater in Ungarn sind u.a. eine anspielungsreiche, "in die absurde ungarische Gegenwart" übertragene "Revisor"-Inszenierung von Viktor Bodó am Vig Theater; eine "Hamlet"-Inszenierung von László Bagossy am Örkény Theater, in der ein Fußballstadion als Bühnenraum des neuen Herrschers Claudius für "Populismus, Megalomanie, den persönlichen Ehrgeiz und die Macht des Führers" stehe, aber auch für "passive Menschen, die nach Aggression gieren"; und das Tanztheaterstück "The Clearing" nach Helen Edmundson, in dem der Choreograph Csaba Horváth zeige, "wie der menschliche Körper Teil der Politik wird, wie sich der Körper der Macht aussetzt, bis selbst die Liebe, das tiefste menschliche Gefühl, verschwindet."

 

cover db6-14 140Die deutsche Bühne

Eine ungewöhnliche kritische Annäherung an fünf verschiedene Bühnenbearbeitungen von Franz Kafkas Erzählung "Die Verwandlung", die in Niedersachsen zur Deutsch-Pflichtlektüre des Zentralabiturs gehört, versucht Die deutsche Bühne in ihrer Juni-Ausgabe: Der Kritiker Jens Fischer und die Hannoveraner Lehrerin Claudia Borchers führen über die Aufführungen einen Dialog. Dabei wird die Kluft zwischen einem theaterästhetisch immanenten und einem auf Orientierung bedachten pädagogischen Blick durchaus deutlich.

Claudia Borchers artikuliert ihren Eindruck der "Nachrangigkeit des künstlerischen Interesses gegenüber dem wirtschaftlichen. Man biedert sich der garantiert kommenden, zahlenden Klientel an, hat aber selbst kein Interesse an den Abi-Stoffen. Die Schüler werden aber nicht mehr freiwillig zurückkommen, wenn sie gesehen haben, dass ein Text aus Arroganz nur ironisch gebrochen auf die Bühne gebracht wird, die Inszenierung sich über allzu viel lustig macht, alles immer besser weiß." Jens Fischer fragt nach: "Wo war das?" "In Krystyn Tuschhoffs Oldenburger Inszenierung." Darauf Fischer: "Ich fand, das war die beste Arbeit. Dieser Versuch, die Aneignung eines Lesetextes zur Aufführungsästhetik werden zu lassen. Die Szene: Leseprobe im Käfer-Museum. Der Text: Objekt der Erforschung durch die Darsteller. Der Text wird nicht diskreditiert, sondern untersucht." Borchers wiederum: "Ich fand das verwirrend. Auch Schüler brauchen nicht lauter Ansätze und lose Enden, sondern einen roten Faden, klare Rollenzuschreibungen." Aha. Wobei dieses "Aha" natürlich wieder arrogant ist ...

Der Schwerpunkt der Juni-Ausgabe gilt übrigens der Tanzmusik, also der Musik zu Ballett und Tanztheater. Und außerdem findet sich in dem Heft noch ein Kommentar von Anne Fritsch, in dem sie ihrem Unmut über die neuere Entwicklung des Münchner Festivals Radikal jung, dem "Festival junger Regisseure", Ausdruck gibt: "Als Christian Stückl es vor zehn Jahren ins Leben rief, war das eine geniale Idee. [...] Viele inzwischen etablierte Regisseure wie David Bösch oder Laurent Chétouane waren am Anfang ihrer Karriere hier eingeladen. Leider war den Juroren das Erkunden der deutschsprachigen Theaterszene irgendwann nicht mehr genug. Sie wollten mehr, wollten internationaler werden. Und das Festival wurde zunehmend willkürlicher." Hätte man früher darauf hoffen können, "auf diesem Festival einen echten Überblick über spannende Entwicklungen und neue Talente zu bekommen, so geht dieser zunehmend verloren." Ein funktionierendes System werde so der Beliebigkeit preisgegeben, eine Produktion aus Israel stehe dann neben einer aus Frankreich und einer aus Moldawien. "Es scheint so, als zähle das möglichst Exotische immer mehr – und gute Regiearbeiten immer weniger." Na ja, der Publikumspreis ging dieses Jahr jedenfalls ins exotische Frankreich an Julien Gosselin – für eine Inszenierung, die sehr wohl im Ruf steht, eine gute Regiearbeit zu sein.

 

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