Semiramis' Atemnot

von Ralph Gambihler

Leipzig, den 1. Februar 2008. Aber ja doch: Wir sind in einem Swimmingpool! Die Bühne ruft auf den ersten Blick jene Unterwasserfotos ins Gedächtnis, auf denen sich weiße Beine vor türkisem Hintergrund abstrampeln. Allerdings fehlen die Beine, ebenso die Badeleiter. Und auch sonst wird dem Betrachter der stilisierten Kulisse von Kathrin Frosch gleich wieder verwackelt, was sich sein Auge zusammenreimt. Im Off flattern zum Beispiel Vögel. Und das Wasser fehlt sowieso.

Eine Unbegreifliche zwischen den Elementen 

Wozu sollte es auch gut sein in dieser wuchtigen Tragödie, in der "Die Tochter der Luft" über die Menschen herrscht, eine Tyrannin wie Macbeth, eine Venusfalle wie Lulu, eine Unbegreifliche ohne Beispiel. Die normale Ordnung der Elemente jedenfalls scheint das Wesen dieser Frau nicht adäquat abzubilden. Der spanische Hofdichter Pedro Calderón de la Barca hat seine dämonische Figur dem Mythos der babylonischen Semiramis entlehnt (die mit den hängenden Gärten) und im Jahr 1653 auf die Bühnenwelt losgelassen. Nachgeborene Kollegen waren begeistert, Goethe etwa oder Hofmannsthal, der zwei Entwürfe für Neubearbeitungen hinterließ.

Ein Erfolg wurde das Stück aber nie. Zu barock, zu ausladend, zu anspielungsreich kommt es daher. Im Original sind es zwei abendfüllende Teile zu je fünf Akten. Hans Magnus Enzensbergers "Schauspiel nach Calderón", das 1992 veröffentlicht wurde, kann man insofern als einen späten Rettungsversuch begreifen. Wobei der Autor aber nicht einfach verschlankt, sondern im Grunde eine Neufassung geschrieben hat, die sich ganz auf die Figuren und ihre Konflikte konzentriert. Die Sprache mit ihren reimlos-diskreten, mal trochäischen, mal jambischen Versen klingt klassisch und doch auch emanzipiert.

Gefangen in einer Schiffschaukel hoch in der Luft

Am Schauspiel Leipzig, wo der langjährige Intendant Wolfgang Engel im Sommer seinen Posten an Sebastian Hartmann übergibt, ist die "Tochter der Luft" nun in einer bezwingenden Inszenierung zu erleben. Die vormalige Hausregisseurin Konstanze Lauterbach gibt einen halben Reißer: wuchtig, aber dennoch zauberisch, entrückt, dunkel. Ihre Neigung zu bildkräftiger Poetisierung und Veroperung, die schon manches Kritikergeheul verursachte, wirkt diesmal stimmig. Mehr vibrierend als psychologisierend erzählt Lauterbach eine Geschichte von Herrschaft und Begehren. Wenn es möglich ist, die Energien der bedingungslosen Machtausübung weit über die Grenzen des Erklärlichen hinaus auszudrücken, dann ist es hier gelungen.

Die schwächeren, weil überdramatisierten Szenen sind die im "Vorspiel". Die Handlung hechelt da zunächst auf das Bild einer traumatischen Gewalterfahrung zu. Die junge Semiramis, gespielt von Eva Müller, erscheint als elendes, wildes Menschenkind. Ein Fluch liegt über ihr; man hält sie in einer Art Schiffschaukel gefangen, oben über den Menschen und ihren Wassern aus Angst. Müllers Semiramis, in diesem Stadium noch eine Verwandte Kaspar Hausers, gurrt wie ein Vögelchen. Als sie von dem Feldherrn Menon befreit wird und zum ersten Mal den Boden berührt, tragen ihre zitternden Beine kaum. Atemnot quält sie. Sie braucht Luft, Luft, Luft.

Flatternde Phantasie über Macht und Begehren

Die zwanzig Jahre später angesiedelte Haupthandlung zeigt eine Verkehrung der Verhältnisse. Als Königin von Ninive und Babylon stülpt Semiramis den Hass nach außen, der in jungen Jahren in sie eindrang. Sie ist ganz Wille und Willkür: eine Tyrannin von Anfang an, die von der wunderbaren Ellen Hellwig als kühne und fragile Frau und kaum als Teufelsweib dargestellt wird. Den König hat Semiramis vergiftet. Ihren Sohn Nynias, der ihr äußerliches Spiegelbild und ihr inneres Gegenteil ist, hat sie weggesperrt. Als sich das Volk erhebt und den sanftmütigen Nynias auf dem Thron sehen will, dankt sie zum Schein ab, stiehlt sich aber erneut an die Macht, indem sie in die Gestalt ihres Sohnes schlüpft. Denn sie will "Sieg, Herrschaft, Ruhm und Glück". 

Sagen wir’s so: Es ist viel Shakespeare drin in diesem stellenweise ironisch gebrochenen Abend, vielleicht ein Hauch von Maeterlinck. Das unmittelbare Abbild einer Wirklichkeit findet man darin kaum. Es gibt zwar kleine Fingerzeige Richtung Balkankrieg. Am deutlichsten werden sie da, wo der junge Schauspieler Aleksandar Radenkovic, ein gebürtiger Serbe, in der Rolle des Feldherrn Menon einzelne Brocken und Sätze in seiner Muttersprache heraus bellt.

Es sind aber nur Einsprengsel, weit entfernt von aktualisierender Aufladung. Letztlich bleibt vieles in der Schwebe und alles wunderlich. Eine Fantasie über Macht und Begehren flattert durch das Bassin der Bühne, so echt und unfasslich wie die vielen Stoffe, die sich im Luftzug blähen, sobald die Technik die Ventilatoren einschaltet.


Die Tochter der Luft
Hans Magnus Enzensberger / Ein Schauspiel nach Calderón
Regie: Konstanze Lauterbach, Bühnenbild: Kathrin Frosch, Kostüme: Karen Simon. Mit: Ellen Hellwig, Eva Müller, Aleksandar Radenkovic, Tobias J. Lehmann, Torben Kessler, Stefan Kaminsky, Thomas Dehler, Silvia Weiskopf, Dieter Jaßlauk, Matthias Hummitzsch, Gilbert Miroph, Katharina Ley, Anne Hoffmann, Oliver Chomik, Michael Pietsch, Johannes Schmitz, Christoph Wünsch u.a.

www.schauspiel-leipzig.de

 

Kritikenrundschau

Für Andreas Hillger in der Mitteldeutschen Zeitung (4.2.2008) sind die eindrucksvollen Panoramen von Konstanze Lauterbachs radikal poetisierender Inszenierung dieser Calderón-Bearbeitung von Hans-Magnus Enzensberger ein fast kongenialer Schlussakkord für die Intendanz von Wolfgang Engel, der das Haus in der nächsten Spielzeit an Sebastian Hartmann übergibt. Lauterbach wage mit den gewaltigen Dimensionen, mit denen sie das Stück durch ihren bildstarken, gestischen Stil auflade, das Unmögliche. Und gewinne. Besonders der immer wieder durch ironische Einsprengsel oder kalte Gewalt gebrochene "hohe, erotische Ton" des Abends faszinierte den Rezensenten. Auch weil er in mancher Szene, die er fast schon an den Klippen des Kitsches zerschellen sah, die Regie erst in letzter Minute das Ruder herumreißen sieht. An dieser Achterbahn der Rezensentengefühle haben wohl auch die Schauspieler ihren Anteil, die Hillger hier aber auch  "seltsam müde und melancholisch" erlebt hat.

"Diese Inszenierung gesegnet mit schönen Momenten, überreich an Einfällen, hinreichend geheimnisvoll, bitter und komisch," schreibt Gisela Hoyer in der Leipziger Volkszeitung (4.2.2008), und bescheinigt dieser "wilden Tragödie" über eine zeitlos moderne Medea "höchst berückende Vagheit". Die Inszenierung sei "getragen von einer Botschaft, die bezwingt". Es gehe um Emanzipation, um menschliche Befreiung. Und zwar dem "ewigen Krieg gegen- und miteinander, der in der Liebe beginnt und nicht endet". Besonders hervorgehoben wird die "wunderbaren Ellen Hellwig, die eher zierlich und elegant als brutal jene Überlegenheit ausstrahlt, die aus verzweifelter Entschlossenheit wächst". Einzelne Schwächen und Überforderungen des Abends verzeiht die Kritikerin angesichts des sie augenscheinlich sehr bewegenden Gesamtergebnisses.

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