Volk oder nicht Volk

von Esther Slevogt

Berlin, 1. Februar 2008. Zuerst also Thomas. Thomas ist einundfünfzig und Erhebungsbeauftragter. Er tritt vor das Publikum und macht kurz mit dem Prinzip des Abends bekannt, der sich vorgenommen hat, ein statistisches Abbild Berlins auf die Bühne zu bringen. Deshalb steht Thomas hier stellvertretend für genau 34.000 Berliner. Mal hundert macht dreimillionenvierhunderttausend.

Nach und nach kommen dann die restlichen 99 Prozent Berlin ins Bild, stellen sich jeweils einzeln vor und erklären, welche Gruppe sie in der Bevölkerungsstatistik repräsentieren. Jeder hat ein Requisit dabei, das ihn als Individuum markiert, ein Spielzeug, Kleidungsstück oder Haustier. Ganz selten gibt es auch eine kleine Geschichte dazu, zum Beispiel von Jürgen, der sich seit 35 Jahren mit dem gleichen Stück Seife wäscht. Dem gleichen wohlgemerkt, nicht demselben.

Echt inszeniert

Vorsichtshalber steht der Text auch noch gegenüber über dem ersten Rang auf einer Art Teleprompter. Falls jemand vor Schreck vergessen haben sollte, wer er ist, auf dass das sorgfältig choreografierte Gruppenbild durch solche Unwägbarkeiten nicht auseinanderfällt. Denn die hundert Menschen, die Rimini-Protokoll hier als Durchschnittsberliner auf die Bühne gebracht hat, sind wie immer bühnenunerfahrene Laien. Berliner mit Authentizitätsgarantie.

Doch auch Echtheit will inszeniert sein. Am Ende haben die hundert Berliner dann die grün ausgeschlagene Drehbühne hübsch mit ihren Körpern eingerahmt. U-Bahngeräusche untermalen die Szene. Gefilmt und auf kreisförmige Flächen neben der Bühne projiziert, sieht das Ganze schließlich wie eine animierte statistische Grafik aus.

"Hundert Prozent Berlin" heißt der Abend, wobei die Zahl hundert eigentlich aus einem anderen Kontext stammt. Vor hundert Jahren nämlich baute der berühmte Theaterarchitekt Oskar Kaufmann, der unter anderem auch die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und das Renaissance-Theater entwarf, das Hebbeltheater an der Stresemannstraße. Seit ein paar Jahren ist es dem Theaterkombinat HAU einverleibt, dem nun das Jubiläum ein guter Anlass war, mal wieder allerlei Prominenz ins Haus zu holen, wo ansonsten die Produktionen oft im Dreitage-Turnus durch den Spielplan jagen und sich so etwas wie ein Gedächtnis im Grunde gar nicht erst einstellen kann.

Ich nicht

So kam es, dass in der ersten Reihe samt seines First Husband der Regierende Bürgermeister saß, welcher kurz vorher noch selbst zwecks kurzer Festansprache auf der Bühne gestanden hatte, und nun vorgeführt bekam, was seine Berliner so denken. Die Repräsentationsberliner auf der Bühne nämlich wurden mit allerlei Fragen konfrontiert und konnten sich dann entsprechend unter den Schilder "Ich" bzw. "Ich nicht" gruppieren oder später auch mit farbigen Tafeln jeweils ein optisches Meinungsbild produzieren. Nach einiger Zeit wurde das Gruppenbild live von der Berliner Klezmerformation "Di Grine Kusine" mit heimatlichen Klängen untermalt.

Und so erfuhr dann der Bürgermeister (und der Rest des Publikums natürlich auch), dass seit 1989 nur sechs Prozent vom Westteil in den Ostteil der Stadt gezogen sind, in umgekehrter Richtung gar nur vier; wie viele in einer Partei oder Kirche organisiert sind, oder in Berlin begraben sein wollen. Es wurde nach Träumen und Ängsten gefragt, nach Hobbys und politischem Engagement. Und weil überdurchschnittlich viele in einem Chor sangen, wurde zwischendurch auch mal ein Kirchenlied angestimmt: "Komm, lindere meine Not/ sonst wünsch' ich mir den Tod". 

Vom Teleprompter ferngesteuert

Ganz davon angesehen, dass es von begrenztem theatralischen Schauwert ist, wenn sich eine Hundertschaft in wechselnden Konstellationen immer von rechts nach links bewegt, kam der Abend von und für echte Berliner und ihren echten Bürgermeister über das Anekdotische kaum hinaus. Auch beschlichen einen beim Zuschauen angesichts der Prominenz aus Politik und Kultur im Saal und der so genannten normalen Berliner, die da auf der Bühne, vom Teleprompter ferngesteuert, das "Volk" zu spielen hatten, doch etwas zwiespältige Gefühle, einer leicht feudalistisch gefärbten Veranstaltung beizuwohnen, wo die Herrschenden sich mal vorführen lassen, was das Volk so denkt und auch noch herzhaft darüber lachen dürfen. Eigentlich wäre nur logisch, wenn Rimini-Protokoll für diesen Abend den BZ-Kulturpreis bekommen würde.

So richtig schön wurde es erst, als dann nach 22.30 Uhr der Abend in Karaoke-Seligkeit versank. Der Bürgermeister war längst gegangen. Auf der Bühne saß nun das von Jan Dvorak dirigierte RIAS Jugendorchester. Matthias von Hartz, der sich dieses Karaoke-Spektakel ausgedacht hatte, und seine Moderatorin Susanne Sachsse holten die Zuschauer zum Schlagersingen mit Orchesterbegleitung auf die Bühne. Volk oder nicht Volk, war nun nicht mehr die Frage. Man musste nicht mal singen können, um hier frenetisch gefeiert zu werden.

 

100 Prozent Berlin
von Rimini Protokoll
Konzept, Idee, Realisation: Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel, Bühne: Mascha Mazur, Recherche und Dramaturgie: Cornelius Puschke, Live-Musik: Di Grine Kusine.
Mit hundert BerlinerInnen.

http://www.hebbel-theater.de

 

Kritikenrundschau

"Es ist öde und aufregend zugleich," konstatiert Petra Kohse in der Frankfurter Rundschau (4.2.2008) "Der Pfeifenraucher aus dem Osten, das Westkind mit dem Ballettröckchen, der Schwarze mit den Turnschuhen, die Asiatin mit dem Tempelorakel, das schwule Ehepaar. Sie formieren sich zum Kreis und bilden dann Ja- oder Nein-Gruppen zu Fragen wie: Wer ist glücklich? Wer fährt schwarz? Wer will mehr Geld von Berlin? (Viele. Aber der Regierende Bürgermeister in Reihe A schüttelt grinsend den Kopf...) – ein lebendes Schaubild, dem man bei der Meinungsbildung zusehen kann (...) Die da oben sind ehrlich und hebeln mit Fragen, auf deren Auswertung politisch sicher keinen Wert gelegt wird, die Statistik aus, indem sie sie betreiben."

Doris Meierhenrich
berichtet in der Berliner Zeitung (4.2.2008), dass Rimini Protokoll den "Streit zwischen Präsenz- und Repräsentationstheater" diesmal "ganz wörtlich" genommen haben: "Sie holten nach streng statistischem Proporz 100 Berliner auf die Bühne. (...) Und so standen die Hundert im Drehbühnenkreis und wurden im Hintergrund als lebendiger Inhalt einer Prozenttorte projiziert." Weil die Riminis aber "Alltagsforscher" seien, unterwanderten sie ihre statistische Strenge bald mit allerlei persönlichen Fragen". Und "dass dabei eher Willkür herrschte als Statistik, wurde sehr bald klar und hier nun war es eine Erlösung, dass sich ein Ganzes zerlegte in hundert Teile". Im übrigen weiß Meierhenrich den Beitrag von Matthias von Hartz zur 100-Jahr-Feier des Hebbel-Theaters sehr zu loben: Dessen "Orchesterkaraoke" sei herrlich "anarchisch loriothaftes Agitprop-Theater" gewesen.

In der FAS, der Sonntagszeitung der FAZ (3.2.2008), hätte Meike Hauck den Taxifahrer, der sie ins HAU fuhr und erzählte, "dass er Berlin gar nicht so gut kenne", am liebsten gleich mit ins Theater genommen. "Aber die BVG streikte, und er musste weiter." Det is eben Berlin. Dass sich die 100 Berlin-Repräsentanten bei jeder Frage dafür entscheiden mussten, ob sie sich hinter dem Schild "Ich" oder "Ich nicht" aufstellen, war "ein großes Gewusel" und "die Ergebnisse ... waren nur teilweise verblüffend. Nur eine Person traute sich zu, die Welt zu regieren, eine recht große Gruppe dagegen fand, Pädophilie solle mit der Todesstrafe bestraft werden." Leider sei die Frage nach der Todesstrafe auch die einzig provokante Frage gewesen, schreibt Hauck. Fazit: "Statistiken sind eben nur Statistiken" und "ein Stimmungsbild der durchschnittlichen Meinung zu brisanten und privaten Themen bot der gutlaunige Abend nicht."

"Menschen", heißt es von Patrick Wildermann im Tagesspiegel (3.2.2008), "wollen nie bloß Ziffern sein. Und werden trotzdem ständig in Torten- und Blockdiagramme gepresst". Mit diesem Umstand spiele Rimini Protokoll in "100 Prozent Berlin". Die Zahlen würden mit Gesicht auftreten, einhundert Berliner, die nach den Kriterien Geschlecht, Alter, Familienstand, Herkunft und Wohnbezirk die Stadt repräsentieren. Man staune an diesem Abend, was man über seine Mitbürger erfährt. "Wieviele schon mal ein Leben gerettet haben. Wie wenige schwarzfahren. Das Ganze hat den Charme eines ausgedehnten Wahrheit- oder Pflicht-Spiels, aber eben Charme. Was für ein formidables Geschenk: Die ganze Stadt auf der Bühne." Danach gab’s zur Feier des Tages Karaokeparty und Freigetränke, "und wer weiß, vielleicht hat irgendwer am Morgen die leeren Flaschen gezählt."

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