Brüllen erlaubt

von Nikolaus Merck

Berlin, 2. Februar 2008. Am Anfang erlischt im Deutschen Theater das Notlicht. "Notlicht aus" durchzusetzen, schaffen nur ganz große Regisseure. Ein Versprechen. "Die Wildente" heißt das Stück und ist von Ibsen. Der Papierform nach. Aber weil Regisseur Michael Thalheimer sich des klassisch-modernen Enthüllungsstoffes – Abteilung "Verderbtheit der bürgerlichen Familie und der Einfluss schlechter Gene" – bemächtigt hat, steht nur Ibsen drauf, ist jedoch Mühlstein drin.

Die Mühlsteine, unsichtbar die Bühnenmenschen niederzwingend, gehören zu Thalheimers Erkennungszeichen. Wie Olaf Altmanns abstrakte Bilder-Bühnen, diesmal: die steil schräg gestellte Drehscheibe auf der die Ibsen-Menschen köstlich ausgezirkelte Berggänge vollführen. Wie die Stimmungsmache von Bert Wredes musikalischen Zwischenspielen, diesmal klingen sie wieder nach der alten Sehnsucht Kino, Kino, Kino.

An den Mühlsteinen sollt ihr sie erkennen

Und dann eben die Mühlsteine, die schicksalsschwer lasten. Manche schleppen das überschwere Gewicht schon herein, wenn sie das erste Mal die Bühne betreten. Wie der alte Ekdahl von Ingo Huth. Schicksal hat zugeschlagen, der Mann ein Bankrotteur, Stein um den Hals, da knicken die Knie und die Schultern hängen.

Andere kriegen den Mühlstein im Off umgehängt. Wie Ingo Hülsmann, der den Hjalmar Ekdahl spielt, nicht gerade ein helles Licht, aber gutartig, nur halt unfähig, faul und bequem. Der geht spazieren mit seinem Jugendfreund Gregers, den Sven Lehmann in Lederjacke mit schwitzigen, hinterm Rücken verschränkten Händen hinbaut, leicht vornüber gebeugt und allzeit bereit, ein Löwe des Staatstheaters, sein heiseres Lehmann-Brüllen hören zu lassen. So was nennt das Feuilleton zur Zeit: "glaubwürdig" einen Menschen spielen, da kann man drüber streiten.

Schlechte Welt, einzelne Figuren

Dieser Gregers jedenfalls hat sich verschworen, seinen Mitmenschen die Augen zu öffnen. Über ihre Lebenslügen. Er begreift diese Verbreitung unwillkommener Nachrichten als seine "Lebensaufgabe". Da muss auch Freund Hjalmar dran glauben. Der kommt vom Spaziergang mit Gregers zurück als gebrochener Mann.

Seine Tochter Hedwig, hat er erfahren, ist gar nicht seine Tochter, sondern die vom Grubenbesitzer Werle, Gregers verhasstem Papa, zugleich Hjalmars Mäzen. Wieder andererseits aber derjenige, für den Hjalmars Vater einst in den Knast ging. Deshalb der Mühlstein, den der alte Ekdahl schon in den Theaterabend hineinschleppt. Sozusagen.

Alles total verknubbelt bei Ibsen, was dem Regisseur entgegen kommt. Denn bei Thalheimer ist die Welt schlöööööcht. Obwohl wir das weniger sehen können als vermuten. Weil: Welt gibt es bei ihm so wenig wie Gesellschaft. Nur einzelne Figuren, freigestellt vor delikat beleuchtetem Hintergrund. Und in zumeist unfrohe Farben gekleidet.

Konzepte in Kostümen

Die Bühne, die Kostüme, die Körperhaltungen – daraus besteht Thalheimers Theaterkosmos. Weshalb seine Schauspieler auch niemals Glaubwürdigkeits-Menschen spielen, sondern Konzepte. Beweisführungen ihres Regisseurs. Unfähig. Blöde. Unzulänglich. Niedrig. Produzenten einer hausgemachten, götterlosen Tragik. Ohne Hoffnung.

Außerhalb dieser Dunkelheit gibt es nur: Unschuld. Und in der "Wildente" geht es darum, diese Unschuld zu vernichten. Ihr den Mühlstein umzuhängen auf offener Bühne. Die Unschuld heißt Hedwig und ist Hjalmars Tochter. Die ihren Vater liebt. Der sie wiederliebt, weshalb Vater, Tochter und Mutter einmal sehr schön als alpine Dreierkombination eingehakt die Schräge bäuchlings hinabrutschen.

Dann kommt Gregers. Um den Mühlstein auszubalancieren, stellt Ingo Hülsmann die Füße weit auseinander, knickt in den Knien ein, lässt Arme baumeln, die Schultern zeigen zum Nabel, Augen blinken leicht irre. Der ganze Mann brüllt. Dann brüllt die Zilcher als seine Frau Gina – ein klein wenig lugt Gotscheff'sches da in die Aufführung hinein. Und schließlich brüllt, darüber könnte eine Welt in Tränen ausbrechen, die Tochter. Verstoßen, verlassen, allein. Der Po hängt durch, die Schultern wollen fast am Boden schleifen, ein einzig’ Bild des Jammers.

Lieber tot als in dieser Mahlwerk-Welt

Das ist die Neuerung in Michael Thalheimers essentialistischem Theater. Wenn früher die Welt in den Abgrund rutschte, der in der Menschenseele sich auftut, durften die Protagonisten nur starren, schweigen und brüten. Jetzt dürfen sie brüllen. Wie am Spieß.

Immerhin bekommen bei Thalheimer-Aufführungen immer diejenigen Figurenspieler den größten Applaus, die den Mühlstein auf offener Bühne erleiden mussten. Das ist diesmal Henrike Jörissen, deren Hedwig sich lieber erschießt, als in dieser Welt weiter über den Rand der langsam wie ein Schicksalsmahlwerk kreisenden Drehbühne zu hängen.

 

Die Wildente
von Henrik Ibsen. Deutsch von Heiner Gimmler
Regie: Michael Thalheimer, Bühne: Olaf Altmann, Kostüme: Barbara Drosihn, Musik: Bert Wrede. Mit: Henrike Jörissen, Barbara Schnitzler, Almut Zilcher, Ingo Hülsmann, Jürgen Huth, Horst Lebinsky, Sven Lehmann, Peter Pagel.

www.deutschestheater.de


Kritikenrundschau

Verärgert verreißt Christopher Schmidt die Inszenierung in der Süddeutschen Zeitung (4.2.2008). Michael Thalheimer habe "eine schmale Methode" gefunden, nach der er nun "jedes beliebige Stück der dramatischen Weltliteratur in neunzig gefälligen Minuten" erzähle, sei es von Goethe, Lessing, Tschechow oder Ibsen. "Michael Thalheimer bannt sie alle, Band für Band, in seine Sonderedition, den handsignierten Michael-Thalheimer-Schmuckschuber. Ein Fall von Corporate Theater." Im vorliegenden Fall verschweige er die Vorgeschichte und beschränke sich auf das "Drama des untergejubelten Kindes. Pünktlich um 21 Uhr zerfetzt der Schuss die Luft, mit dem dieses Kind sich das Leben nimmt. Neunzig Minuten zuvor hing es bereits wie eine Jagdtrophäe tot über den Köpfen derer, die es auf dem Gewissen haben. Thalheimer verschweigt also die halbe Geschichte, aber das Erkenntnisinteresse seiner Inszenierung ist so gering ausgeprägt, dass man rätselt, weshalb es diese Hälfte ist und nicht die andere."

Ganz anders sieht es Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (4.2.2008), der diese "wahrhaft große Aufführung" unter die Haut gegangen ist. Aus ihrer Sicht ist es Thalheimer gelungen, das Stück "ohne alle Umwegsentimentalität" "überragend leicht, intelligent und unangestrengt gegenwärtig" zu inszenieren. Und zwar obwohl Ibsens Wildente "mit ihrer Symbollast und ihrer pathetisch konstruierten Geschichte mittlerweile halbwegs entrückt wirkt", weshalb sie es gerade richtig findet, das Drama auf seinen Grundkonflikt zu reduzieren. "Wenn sich zum Beispiel Gregers und Hjalmar nach langer Zeit plötzlich begegnen, könnte man ihren Dialog wohl selbst ohne Deutschkenntnisse begreifen, derart beredt ist er schon durch die brillant gesetzte Wortmelodie und die adäquate, eloquent beherrschte Körpersprache. Thalheimers meisterliche Formkunst treibt das gesamte Ensemble zu stilistisch fundierter Bravour."

In der Welt (4.2.2008) spricht Matthias Heine angesichts manch allzu dick auftragender Szene zwar von gelegentlichem Genervtsein. Insgesamt kann er der Inszenierung aber doch einiges abgewinnen, weil es Thalheimer aus seiner Sicht gelingt, "solche lautstarken Szenen in ein ganz leises umso ausdruckstärkeres Pianissimo herunterzuspielen." Hier beeindruckt ihn besonders, wie Sven Lehmann als Werle "seinen besserwisserischeren Tugendterror nüchtern durch wie ein Robespierre" durchzieht, "der in der bürgerlichen Stube die Gewohnheitslügen köpft." Doch die eigentliche Sensation des Abends ist für ihn die Bühne von Olaf Altmann. "Nur ein gewaltiger schräger Kreis, auf dem die Familie Ekdal genauso leicht ins Rutschen gerät wie eine achtlos auf dem Boden abgelegte Pistole. Wenn die Bühne sich dreht und Figuren wie Gina am Rande des Kreises entlanggehen, sieht das von hinten beleuchtet aus wie das Schattenspiel eines Wegs in den Untergang."

Dass Olaf Altmanns Bühnenbild mal wieder die Hauptrolle spielt, findet in der Berliner Zeitung (4.2.2008) auch Ulrich Seidler. "Es steht in seiner Konsequenz für Thalheimers Ansatz, der jedes Stück aus allen Kontexten reißt, auf den kleinsten Nenner verallgemeinert und nicht viel mehr als eine dramaturgische Funktionskurve darstellt: Spannung - Entspannung - frenetischer Applaus." Dabei kritisiert Seidel besonders das Kalkül, mit der hier allein durch die Herstellung von Pathos Bedeutung simuliert wird. "Die gesamte Drehbühne ist von einem portalhohen Zylinder eingenommen, der aber schräg bis zur Grundfläche abgeschnittenen wurde. Wenn er kreist, schließt oder öffnet der Mantel den Bühnenraum auf das Eleganteste. Erst sieht man eine Wand, die sich wie bei einer Spirale in die Tiefe senkt, und irgendwann kippt die schräge Spielfläche und damit die dritte Dimension ins Bild. Das ist für einen Moment schöner als Riesenradfahren. Und man kann hineininterpretieren, was man will."

Im Berliner Tagesspiegel (4.2.2008) bescheinigt Rüdiger Schaper Thalheimer den Inszenierungsstil eines Serientäters und sieht in dessen jüngster Tat ein gutes Exempel, "warum das Thalheimer-Theater so populär ist. Was es so attraktiv macht. Und manchmal auch so unausstehlich." Einerseits nämlich leuchtet Schaper Thalheimers Zugriff durchaus ein. Denn aus seiner Sicht ist dieses Ibsen-Stück "ein norwegischer Zuchtklon, ein Besserwisserdrama, triefend vor Moral", dessen aufdringliche Offensichtlichkeit Thalheimer noch verstärken würde. Doch die zaunpfahlhafte Art, wie auch Thalheimer hier seine "Indizien streut, Charaktere zerlegt, sein dramaturgisches Präzisionsuhrwerk in Gang setzt" macht ihn für Schaper zum "Ibsen unter den Regisseuren", weshalb "Die Wildente" für ihn zum Nullsummenspiel wird. Thalheimer habe "die Bühnenweltliteratur fest und sicher im Griff. Genau das ist das Problem." Und Olaf Altmanns Bühnebild lasse sich vielleicht auch noch mal für "Peer Gynt" recyceln.

Kommentare  
Wildente: Thalheimer hat's im Griff
Ich empfehle dringend, neben der hiesigen die Kritik von R. Schaper im Tagesspiegel zu lesen. Dieser hat sich nicht nur darauf beschränkt, das thalheimersche Theater abstrakt, angereichert mit ein paar belanglosen Inhaltsangaben zum konkreten Stück, zu rezensieren. Sondern er war so ehrlich und hat Ausdruck verliehen, worum es vielen Kritikern, offenbar auch Herrn Merck, geht: " Er hat die Bühnenweltliteratur fest und sicher im Griff. Genau das ist das Problem. Man will zur Abwechslung mal sehen, wie der Dompteur von seinen Wildtieren gefressen wird, " schreibt Schaper und ist so ehrlich, sich einzugestehen, dass auch dieses Mal der Dompteur nicht gefressen wurde. Schade auch. Das Publikum hat gejubelt, die Bühne war gewaltig und Frau Jörissen hinreissend. Vielleicht klappt es beim nächsten Mal, Herr Merck. Ich freue mich schon. MfG vom Ulf.
Wildente, Deutsches Theater Berlin: Brauchen wir Lebenslügen?
Es ist immer wieder beeindruckend, wie bei Thalheimer und seinem Bühnenbildner Olaf Altmann das Zusammenspiel der Künste funktioniert. Die zylinderförmig abfallende Drehbühne gibt hier die korrespondierende Basis für die sich darauf abspielende tragische Familienkonstellation. Thalheimer deutet Ibsens "Wildente" psychologisch feinfühlig und präzise aus - durch das demonstrativ-groteske Herausstellen der Verwicklungen innerhalb des klassischen familiären Dreiecks zwischen Vater, Mutter und Kind in Bezug auf die Familien Werle und Ekdal.

Wie die zu Beginn noch glückliche Beziehungskonstellation der Familie Ekdal durch den vom Vater ungeliebten Wahrheitssucher Gregers Werle (Sven Lehmann) aufgebrochen und zerstört wird, das vollzieht sich im Laufe des Abends auch über die Auf- und Ab-Bewegungen der Darsteller auf der Drehbühne.

Gregers Werle betrachtet das Leben vom Idealtypus ausgehend - von oben - und steckt damit nach und nach alle anderen, welche sich auf dem Boden der Tatsachen gut eingerichtet haben, an. Das reale und symbolische Opfer dieses Willens zum Wissen hängt schon zu Beginn über den Köpfen aller - Hedvig Ekdal (Henrike Jörissen), die uneheliche Tochter von Hjalmar (Ingo Hülsmann) und Gina (Almut Zilcher) Ekdal. Hedvig liebt ihren (nicht-leiblichen) Vater Hjalmar unüberhör- und -sehbar, bis hinein in die Nachahmung von dessen Gesten, und wird von diesem auch zurückgeliebt - anders als im Fall von Gregers und seinem leiblichen Vater.

Am Ende erschießt Hedvig nicht Gregers, auf welchen sie zunächst - und nun selbst oben auf der Drehbühne stehend - mit der Pistole zielt, sondern sich selbst. Eine in ihrer Ausweglosigkeit vorhersehbare tragische Verkettung des familiären Schicksals.

Wiederum bleiben Fragen: Bis zu welchem Grad brauchen "wir" die Lebenslüge, um überleben zu können? Und ab welchem Punkt beginnt die Notwendigkeit, diese Lebenslüge aufzudecken? Es zeigt sich: Kinder sind die ersten "Opfer" der Lebenslügen der vermeintlich Erwachsenen. Wird das Kindeswohl nicht respektiert, besteht das Risiko, dass diese Kinder ihren über die Ignoranz der Erwachsenen entwickelten Selbsthass auf die nächstfolgende Generation übertragen. Gregers Werle könnte ein solches (ehemaliges) Kind sein, ein solcher Sohn, welcher der 13. am Tisch ist, der Teufel, welcher den naiven Glauben der Anderen unerbittlich auf die Probe stellt.
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